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2.3 Gemeinschaft der Kirchen und individuelle Feiergestalt
ОглавлениеMit dem Evangelischen Gottesdienstbuch geschah liturgiehistorisch Bedeutsames. Zum ersten Mal gab und gibt es eine gemeinsame Agende der Unierten und der Lutherischen Kirchen in Deutschland – und gleichzeitig ein Gottesdienstbuch, das im vierten Leitkriterium bewusst von dem Zusammenhang des evangelischen Gottesdienstes mit den anderen Kirchen in der Ökumene spricht.
Wollen kann man das mit Sicherheit, aber ist es faktisch möglich? Ich habe eben schon die Klugheit kirchenleitender Organe bei der höchst unterschiedlichen |51| Einführung des Evangelischen Gottesdienstbuchs erwähnt. Nun blicke ich aus der Perspektive der Rezipienten. Und aus dieser gilt: Gottesdienst wird nicht in Strukturen erlebt, sondern in Gestalten! Die Berneuchener, die ich oben mit ihrer ästhetisch formatierten Kritik an einem formalen Strukturbegriff zitiert habe, haben m. E. Recht.
An dieser Stelle eine persönliche Beobachtung: Ich war in den vergangenen drei Jahren berufsbedingt ein Wanderer zwischen drei verschiedenen Landeskirchen – und damit: drei verschiedenen Gottesdienstkulturen –, in denen sämtlich das «Evangelische Gottesdienstbuch» gilt und eingeführt ist. Aus Bayern kommend, einer lutherischen Landeskirche, ging ich nach Wittenberg, der Lutherstadt, die aber nicht auf dem Boden einer lutherischen Landeskirche liegt, sondern auf dem Boden der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM), die in sich wiederum die alte thüringische lutherische Landeskirche und die unierte Kirche der sogenannten Kirchenprovinz Sachsen aufgenommen hat. Von dort zog ich knapp 70 km weiter südlich nach Leipzig – und befinde mich nun auf dem Boden der evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens. Drei Kirchen, ein Gottesdienstbuch – und drei völlig verschiedene Gottesdienstkulturen, die dann natürlich jeweils am Ort nochmals völlig unterschiedlich wahrgenommen werden, wenn ich in der Thomaskirche in Leipzig, in der Schlosskirche in Wittenberg, in der Lorenzkirche in Nürnberg oder in einer kleinen Dorfkirche irgendwo am Stadtrand oder in der Provinz feiere, wenn fünf Menschen anwesend sind oder 200, wenn ein älterer Pfarrer als Liturg agiert oder eine Vikarin. In Sachsen beginnt der Gottesdienst vielfach noch immer mit dem gesungenen (!) Votum. Auch ein gesungenes Kollektengebet und ein gesungener aaronitischer Segen gehören häufig dazu. In Bayern und in Wittenberg wäre dies undenkbar – und meine bayerischen Freunde, die mich besuchen, reagieren in einer Mischung aus amüsiert, verwundert und berührt auf diese Eigentümlichkeit. Die gleiche Struktur des Gottesdienstes spielt da keine Rolle. David Plüss hat in einem 2003 erschienenen Beitrag den Begriff der Stiltypen hilfreich eingeführt, um das, was ich mit diesen Beobachtungen umschreibe, näher zu bestimmen. Erlebt werden weit weniger unterschiedliche «Theologien» des Gottesdienstes oder unterschiedliche «Konfessionen», sondern unterschiedliche Stile, zu denen das Ensemble von Texten und Gestalten gehört.142
Gottesdienst lebt nicht in Strukturen, sondern in Gestalten. Struktur ist im Unterschied zu Gestalt ein analytischer Begriff. Strukturen werden nicht wahrgenommen, |52| sondern analytisch ermittelt. Helmut Schwier schreibt: «[…] als Gegenbegriff zu ‹Gestalt›, als das[,] was zu sehen ist, ist ‹Struktur› das, was nicht zu sehen ist».143
Schon allein aus diesem Grund sollte uns – so meine ich – jeder Vereinheitlichungsfuror und jede «von oben» gesteuerte Normierung fern liegen. Wir könnten uns dabei auf Luther berufen, der schon im 16. Jahrhundert eine gewisse Gelassenheit zeigte: «Denn ich nicht der Meinung bin, das ganze deutsche Land so eben müßte unser wittenbergische Ordnung annehmen. Ists doch auch bisher nie geschehen, daß die Stifte, Klöster und Pfarren in allen Stücken gleich wären gewesen; sondern fein wäre es, wo in einer jeglichen Herrschaft der Gottesdienst auf einerlei Weise ginge und die umliegenden Städtlein und Dörfer mit einer Stadt gleich bardeten; ob die in andern Herrschaften dieselben auch hielten oder was besonders dazu täten, soll frei und ungestraft sein.»144
Was wir bräuchten und was uns evangelischerseits verbinden könnte, wäre wohl eher eine Haltung (ich könnte moderner sagen: eine Spiritualität) des gemeinsamen Gebetes, auf die ich im folgenden Punkt näher eingehe.