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4.2.2 Wichtiger als ein theologisches Prinzip: die Person Jesu Christi

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Sowohl in seiner Symbolik als auch im Aufsatz zum Jubiläum des Hei­delberger Katechismus im Jahr 1963 findet sich eine Kritik bzw. eine Re­lativierung der Rechtfertigungslehre durch Wilhelm Niesel. Diese Lehre ist natürlich grundlegend wichtig, darf aber nicht als theologisches Prin­zip |97| verstanden werden. Anders als Luthers Kleiner Katechismus behan­delt gerade auch der Heidelberger Katechismus «die Grundlehre der Re­formation von der Rechtfertigung des Sünders aus lauter Gnaden».

«Aber er versteift sich nicht darauf. Das ist in der reformatorischen Theologie mitunter geschehen. Wo die Rechtfertigungslehre als das ein und alles der Christenheit proklamiert wurde, übersah man, dass sie nur Ausdruck der Christusbotschaft des Neuen Testaments ist. Chris­tus ist unser ein und alles; und er ist reicher für uns als eine einzelne derartige Lehre es zu umschreiben vermag.»101

Wer die Rechtfertigungslehre als alleiniges theologisches Prinzip versteht, gelangt notwendig zu einem eingeschränkten Verständnis des Bekennt­nisses, nämlich zur irrigen Ansicht, dass Bekennen darin bestünde, the­o­logische Richtigkeiten zu benennen – das war die Gefahr des Luther­tums spätestens seit 1580. Tatsächlich geht es aber im christlichen Glauben um eine lebendige Person: Jesus Christus.102 Das hat Konsequen­zen für den Glaubens- und Lebensstil. Nicht allein theologische Positio­nen müssen Jesus Christus entsprechen, sondern das ganze Leben. Eine Rechtferti­gung des Faktischen kann es dann nicht geben, das, was ist, muss nicht vernünftig sein. Niesel und seine Weggefährten hegten auch deshalb Skepsis gegenüber Schöpfungsordnungen, die ja durch die be­grenzte und getrübte Erkenntnisfähigkeit des Menschen ohnehin unklar bleiben. Aber auch ein quietistischer Lebensstil ist nicht möglich. Die Reformier­ten prä­fe­rieren das Prophetische. |98|

Ganz überraschend findet diese Kategorie der Gemeinschaft mit Christus eine aktuelle Erwähnung: «Christliche Ethik hat ihre Identität in Christusgemeinschaft und der Nachfolge Christi, um in ihr ‹die bessere Gerechtigkeit› (Mt 5,20) sichtbar werden zu lassen, aber sie findet ihre Relevanz in den Problemen und Nöten ihrer Zeit.»103 Ein zweites Mal stossen wir überraschend auf eine Berührung Niesels mit Jürgen Moltmann – überraschend deshalb, weil der ältere für ein konfessionell-konservatives Reformiertentum steht, der jüngere dagegen für ein inno­vatives Format dieser protestantischen Spielart. Auch Moltmann kann eine sich selbst genügende Rechtfertigungslehre kritisieren, da «Recht­fertigung» allein auf den Täter blickt und auf dessen Zurechtbringung in einer jenseitigen Welt. Gemeinschaft mit Christus bedeutet aber weiter zurück und weiter nach vorn zu schauen, als alleine den Vorgang der Rechtfertigung eines Individuums zu fokussieren, nämlich Christus als den alleinigen Grund zu sehen und im Glaubensgehorsam bereits hier das Leben zu gestalten, mit Christus auf der Seite der Opfer zu stehen, weil Christus selbst Opfer wurde.104 Es kann deshalb auch nicht verwun­dern, dass die Reformierten bei den Aufgeregtheiten im Zusammenhang mit dem Rechtfertigungskonsens zwischen Rom und «Wittenberg» kurz vor der Jahrtausendwende kaum vernehmbar waren. Gewiss sind sie treue Anhänger paulinisch-augustinischer Theologie, aber gerade deshalb sind sie mit dieser Theologie auch weiter fortgeschritten und verstehen die Rechtfertigung nicht absolut, sondern in einem vitalen Verhältnis zum Leben und also zur Heiligung und Weltgestaltung.105 |99|

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