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DER LEHRER

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In Kansas geächtet, entschloss sich Dr. Still, in den Nordosten Missouris zurückzukehren. Zunächst ging er nach Macon, wo sein Bruder Edward lebte, doch dort wurde er ebenso wenig akzeptiert. Der örtliche methodistische Pastor sagte, er sei ein „hoffnungsloser Sünder,“ und andere meinten, er sei „vom Teufel besessen.“ Von dort zog er weiter nach Kirksville, wo ihm einige Leute halfen und ihn ermutigten. Im Ivy Hotel bekam er für einen Monat freie Kost und Logis und Charlie Chinn bot ihm zwei Zimmer über seinem Lebensmittelgeschäft als Praxis an, obwohl er wusste, dass der Doktor nicht bezahlen konnte.1

Stills Praxis war anders als die anderer Ärzte. Ein langer, schmaler, stabiler und mit Leder gepolsterter Tisch war zentral darin aufgestellt; der Patient legte sich darauf. Sodann begann eine körperliche Untersuchung, wie sie niemand jemals erfahren hatte. Dr. Still platzierte seine Finger auf dem Rücken des Patienten und suchte nach schmerzempfindlichen Punkten. Wenn er sie gefunden hatte, versetzte er dem Körper eine rasche Drehung und der Schmerz verschwand. Viele Leute waren skeptisch angesichts dieses Arztes, der stieß und zog, statt Arzneimittel auszuteilen, die sie einnehmen sollten.2

Obwohl sich seine Praxis sehr langsam anließ, ließ Dr. Still im kommenden Frühjahr, Mai 1875, seine Familie nachkommen. Bis zu diesem Zeitpunkte hatte er vier weitere Kinder bekommen, alles Jungen. Da war Charles, der älteste, dann die Zwillinge Herman und Harry sowie schließlich Fred. Eine Tochter, Blanche, wurde später in Kirksville geboren. Seine älteste Tochter Marusha war bereits verheiratet und blieb in Kansas.

In seinem Denken und Verhalten war Still unorthodox, und er tat oft Dinge, die ungewöhnlich waren. Viele der Leute des Ortes verstanden ihn nicht und hatten daher Angst vor ihm. Das folgende Zitat stammt aus Booths Geschichte der Osteopathie:

„Stellen Sie sich jemanden vor, der in der Stadt herumläuft oder der durch den Wald streift, der sich vielleicht auf einem Randstein niederlässt, einen von mehreren Knochen hervorzieht, die er bei sich trägt, und diesen ganz selbstvergessen studiert, als hinge seine ganze Zukunft von der genauen Herkunft oder der Befestigung eines bestimmten Muskels ab, und der vielleicht sogar vor sich hin murmelt. Stellen Sie sich so jemanden vor und Sie sehen Dr. Still.“3

Für die Familie war es eine schwierige Zeit. Seine Kinder wurden für ihren seltsamen Vater gehänselt und Mrs. Still wurde in der Gesellschaft gemieden. Erwachsene querten die Straße, um eine Begegnung mit ihm zu vermeiden, und Kindern wurde geraten, sich von diesem Doktor fernzuhalten, der merkwürdig sei und vielleicht ein wenig verrückt. Dr. Still fing damit an, Vorträge in Schulhäusern auf dem Land und in nahegelegenen Orten zu halten, wo er seine neuen Ideen vorstellte. Dann behandelte er ohne Honorar die, die bereit waren, es mit ihm auszuprobieren. Jeder, den er behandelte und dem er half, wurde ein Freund. Manchmal nannte man ihn einen Wunderheiler, einen magnetischen Heiler oder einen Spiritisten bzw. Geistheiler. Er gleichwohl bevorzugte die Bezeichnung „Blitzeinrenker“ und hatte Visitenkarten, auf denen er sich selbst als solcher vorstellte.

Dr. Still wollte einige große anatomische Schaubilder erwerben, um sie für seine Vorträge und Demonstrationen zu nutzen, doch er hatte kein Geld. Eine Freundin, Mrs. Conner, lieh im 25 Dollar, mit denen er sie kaufen konnte. Er zahlte ihr das Geld zurück, sobald er konnte. Er war so dankbar dafür, dass sie ihm geholfen hatte, als er in Not war, dass er ihr, als er erfolgreich war, eine lebenslange monatliche Pension zahlte. Außerdem ließ er zwei ihrer Söhne seine Schule besuchen.4

Dr. Still fing gerade erst damit an, eine Praxis aufzubauen und genug Geld zu verdienen, um seine Familie zu ernähren und seine Miete zu bezahlen, als er im September 1877 an Typhus erkrankte. Über mehrere Monate befand er sich in sehr ernster Verfassung. Nach seiner Genesung war er so ausgezehrt und erschöpft, dass er gezwungen war, drei weitere Monate im Bett zuzubringen.5 Seine Haare und sein Bart ergrauten während dieser Tortur, und er stand so unsicher auf seinen Beinen, dass er jemanden brauchte, um sich zu stützen, während er lief. Einige Leute fingen an, ihn den „Alten Doktor“ zu nennen. Aufgrund seiner Arbeitsunfähigkeit war seine finanzielle Situation düster, seine Familie packte mit an. Die Zwillinge machten abwegige Jobs, Charlie arbeitete nach der Schule in einem Lebensmittelgeschäft und Mary Elvira verkaufte Zeitschriftenabonnements.

Im Frühling 1878 war er wieder in der Lage, einige Patienten einzeln aufzusuchen. Die finanzielle Situation der Familie verbesserte sich, blieb aber instabil. Während er sich weiterhin erholte, fing er an, darüber nachzudenken, wie er seine Vorstellungen von Gesundheitsfürsorge weiterentwickeln und auch etwas mehr Geld verdienen konnte.6

Im Jahr 1880, als er vollkommen wiederhergestellt war, traf er den Entschluss, ein umherziehender Arzt zu werden und im Staat herumzureisen, um Patienten zu finden, an denen er seine neuen Methoden versuchen konnte. Ehe er Kirksville verließ, ließ er Plakate drucken, aus denen hervorging, zu welchen Terminen Dr. Still, der „Blitzeinrenker,“ in einer bestimmten Stadt sein würde. Er ließ die Zettel rechtzeitig anbringen und wenn er ankam, warteten die Leute bereits auf ihn. Diejenigen, denen die traditionelle Medizin nicht geholfen hatte, waren gespannt darauf, Dr. Still auszuprobieren. Und wenn er Leuten mit Erfolg half, hinterließ er einen guten Eindruck, sodass ihm der Ruf von seinen Heilungen vorauszueilen begann. Bald erwarteten, wo immer er hinkam, viele Leute seine Ankunft. Er bildete seine älteren Söhne aus, ihm zu assistieren; einer von ihnen begleitete ihn für gewöhnlich auf seinen Reisen. Sein Sohn Harry schrieb später:

„Leute kamen über weite Strecken, um ihn aufzusuchen, den erstaunlichen Wunderheiler. […] Es war wie in einem altmodischen Camp Meeting, wie jedermann, der behandelt worden war, fröhlich und laut rufend davon ging. […] Mein Vater behandelte Leute aller Klassen, die keine Angst hatten, zu ihm zu kommen. […] Die Armen erhielten ihre Behandlung stets kostenfrei und wenn sie kein Fahrgeld und keine Verpflegung hatten, erhielten sie diese von meinem Vater, wenn er sie hatte. Er war zu dieser Zeit selbst sehr arm, da er die Anwendung von Medizin aufgegeben und den größten Teil von fünfzehn Jahren mit harter Arbeit und Studien zugebracht hatte, ohne einen Freund, der ihn ermutigte. […] Trotz all dieser Hindernisse konnte ihn nichts erschüttern. Seine Überzeugungen und sein Glaube waren dauerhaft fest in seinen grauen Zellen.“

J. O. Hatten, D.O., der einige Male während Dr. Stills Zeit als umherwandernder Arzt mit diesem herumreiste, gibt an, dass sie durch den gesamten Süden und Westen Missouris gereist seien und so viele Informationen wie möglich sammelten, dass sie Krankheiten, Behinderungen und Missbildungen aller Art studiert hätten. Hatten gibt dazu den folgenden Bericht:

„In Eldorado Springs, Missouri, behandelte er einen Mann der sehr unter seinem Asthma litt. Bald war er von seinem Problem erlöst und die Leute kamen zu Hunderten. Es waren solche Mengen an Leuten, dass wir sie nicht alle ansehen konnten, geschweige denn behandeln. Wir belegten sechzehn Zimmer im St. James Hotel und der Gehsteig war so überfüllt, dass wir gezwungen waren, uns in die Vororte der Stadt zurückzuziehen, um Platz für die Leute und ihre Neugier zu haben.“7

Sie gingen nach Nevada City, Missouri, wo sich die Irrenanstalt des Staates8 befand. Harry zufolge heilte sein Vater etwa 100 Patienten. Einer davon war eine junge Dame, deren Vater Dr. Still darum gebeten hatte, bei ihr vorbeizusehen. Er fand sie derart tobsüchtig vor, dass sie nicht einmal ihre Eltern kannte. Es fiel schwer, sie auf das Bett zu legen, sodass sie untersucht werden konnte. Er stellte eine Läsion des dritten Halswirbels fest, die Folge eines Sturzes. Er beseitigte sie und nachdem sie sich beruhigt hatte, erinnerte sie sich wieder an ihre Eltern.9

Bei einem seiner Aufenthalte in Hannibal zog Dr. Still so viele Patienten an, dass die anderen Ärzte eifersüchtig waren. Ein orthodoxer Arzt zeigte ihn bei den Behörden an und Dr. Still wurde festgenommen, weil er ohne Lizenz praktiziert habe. Er verteidigte sich und erbrachte den Beweis, dass er als Arzt in Macon County eingetragen war. Er wies außerdem darauf hin, dass nicht halb so viele seiner Patienten auf dem Friedhof lägen als im Falle des Arztes, der sich über ihn beschwert hatte. Er gewann den Prozess.10

Nach mehreren Jahren des Herumziehens im Land traf Dr. Still den Entschluss, in Kirksville zu bleiben und die Leute zu sich kommen zu lassen. Und sie kamen, mit dem Wagen und mit dem Zug. Eine bekannte Familie aus Kirksville erzählt die Geschichte ihrer Großmutter, Josie May Beard aus Bismarck, Missouri, die seit vielen Jahren von einer schweren Arthritis in ihrer Schulter geplagt wurde. Als sie von den außergewöhnlichen Ergebnissen hörte, die Dr. Still erzielte, zog die Familie nach Kirksville, damit sie behandelt werden konnte. Sie luden alle ihre Besitztümer, das Vieh eingeschlossen, auf einen Flachwagen und zogen mit dem Zug nach Kirksville um, wo ihre Arthritis durch die Behandlungen wunderbar gelindert wurde.11

Das Haus der Stills befand sich an der Ecke Jefferson Street/​Fifth Street. Der Rasen vor dem Haus war oft voll von Leuten, die darauf warteten, ihn zu sehen. Obwohl er zu Hause zwei Behandlungstische hatte, behandelte er die Patienten manchmal auch in einem Gartenstuhl oder zur Stützung gegen einen Baum gelehnt.12 Er behandelte die Leute, wo immer er sie traf. Eine ältere Dame aus Kirksville berichtete, dass Dr. Still sie als Kind auf dem Tresen im Lebensmittelgeschäft behandelt habe.13 Eines Tages begegnete er einer alten schwarzen Wäscherin in der Nähe der Gleise der Wabash-Linie. Er konnte erkennen, dass sie einen gekrümmten Hals und ein Stechen im Rücken hatte. Er setzte seinen Fuß auf die zweite Sprosse eines Zauns und legte eine Hand auf ihren Hals und die andere auf ihren Kopf, während die alte Dame zwischen seinen Knien saß. Mittels einer vorsichtigen Drehung korrigierte er die Läsion und die Frau war von den Schmerzen befreit. Sie fragte ihn nach seinem Preis und er sagte, dieser betrage zehn Dollar. Sie sagte ihm, dass sie nach Hause gehen und einige Kleider waschen müsse, ehe sie ihn bezahlen könne. Da steckte er die Hand in seine Tasche und zog einen Zehndollarschein heraus. Indem er ihn gab, bemerkte er: „Die Rechnung ist bezahlt, gehe nach Hause und sei glücklich.“14


ABB. 9: ANDREW UND MARY STILL AUF IHRER VERANDA IN JEFFERSON; ECKE FÜNFTE STRASSE IN KIRKSVILLE

Über etliche Wochen lief er immer wieder viele Meilen hin und zurück durch den Schnee, um einen Farmer gegen Ischias zu behandeln, die schmerzhafte Entzündung des Ischiasnervs. Als es dem Farmer besser ging, fragte er Dr. Still, wie viel er ihm schulde. Dr. Still sagte, “ich kann nicht erkennen, wie ein Mann mit zwei Gespannen im Stall, die ihm die Haare vom Kopf fressen, in der Lage wäre, eine Arztrechnung zu bezahlen. Aber wenn Sie es haben, können Sie mir vielleicht einen Dollar oder zwei geben.“15

Ungeachtet seiner Erfolge waren viele Leute in Kirksville immer noch argwöhnisch angesichts des Doktors, der so anders war. Wenn sie ihn öffentlich besuchten, machten sich andere über sie lustig. Einige baten ihn, zur Hintertür zu kommen, damit andere es nicht sähen. Akzeptiert wurde er schließlich dank eines jungen Mädchens, der Tochter des örtlichen presbyterianischen Pastors. Sie war von einem Pferd abgeworfen worden und seit sechs Monaten war sie gelähmt, hatte Schmerzen und lief auf Krücken. Die regulären Ärzte waren gerufen worden, doch es nützte nichts. Ihre Mutter wollte es mit Dr. Still ausprobieren, doch ihr Vater lehnte es ab, ihn hinzuzuziehen. Eines Tages, als der Vater außerhalb der Stadt war, überzeugte das junge Mädchen seine Mutter, nach Dr. Still schicken zu lassen, der dann gebeten wurde, nach Einbruch der Dunkelheit zu kommen, damit niemand ihn sehen konnte. Er untersuchte das Mädchen und stellte eine dislozierte Hüfte fest, die er sodann behandelte. Als er ihr sagte, sie solle aufstehen und laufen, tat sie es, ohne ihre Krücken. Und als ihr Vater dann nach Hause zurückkehrte, lief sie zu ihm ins Zimmer. Er war verblüfft. Man sagte ihm, dass es Dr. Still gewesen sei, der sie geheilt habe. Am nächsten Sonntag führte er seiner Gemeinde auf der Kanzel seine Tochter vor und sagte: „Ich will ein Gebet darbringen, in das ich alle Herzen leidenschaftlich einzustimmen bitte. Ich will den Segen des Allmächtigen für Dr. Still erbitten, der meine Tochter von ihrer Lähmung befreit hat, sowie einen Segen für seine Arbeit, die Leiden lindert und die Bedrängnis der Menschheit erleichtert. Lasset uns beten.“ Danach zögerten viele Stadtbewohner nicht, Hilfe von Dr. Still in Anspruch zu nehmen.16

Bald hatte er so viele Patienten, dass er zwei kleinere Hütten nahe seines Hauses erwarb. Eine diente als Wartezimmer und die andere als Behandlungsraum. Etwa zu dieser Zeit beschloss er, dass er seinem neuen Beruf einen Namen geben sollte. Als ihn sein Sohn Charles fragte, wie er sein Behandlungssystem nennen wolle, antwortete Dr. Still: „Osteopathie.“ Charles wandte ein, dass das Wort nicht im Wörterbuch zu finden sei. Dr. Still antwortete: „Ich weiß, aber wir werden es da hineinsetzen.“17 Er war der Meinung, Osteopathie würde gut zu Allopathie und Homöopathie passen, jeweils medizinische Begriffe, die damals benutzt wurden. Der Begriff war zusammengesetzt aus den griechischen Worten „osteon,“ Knochen, und „pathos,“ Krankheit oder Leiden. Seine Studien hätten mit den Knochen angefangen, sagte er, und ihre richtige Ausrichtung sei die Grundlage seiner Arbeit.18

„Was soll ich mit all diesen Patienten machen?“ Er begriff, dass er Hilfe brauchen würde und dass er, damit seine Entdeckung weiterbestehen könne, andere in ihrer Anwendung zu unterrichten hätte. Sein Leben hatte ihn auf diesen nächsten Schritt vorbereitet. Im Jahr 1891 fing er damit an, seine vier Söhne, seine Tochter und einige andere, die den Wunsch hatten, die Manipulationen zu lernen, zu instruieren. Nach sechs Monaten allerdings bemerkte er, dass diese Ausbildung unzureichend war; sie war nicht umfassend genug. Er schrieb: „Dieser Gedanke: ‚Osteopathie für kommende Generationen‘ machte auf mich solchen Eindruck, dass […] ich mich entschloss, eine Schule zu eröffnen, da ich wollte, dass meine vier Söhne und meine Tochter diese Wissenschaft gut kennenlernten.“19

Am 10. Mai 1892 erhielt er die Nachricht aus Jefferson City, dass eine Satzung bewilligt worden sei, die ihm das Recht verlieh, Osteopathie zu unterrichten. Während des Sommers wurde ein Gebäude mit zwei Zimmern auf der Nordseite der West Jefferson Street errichtet, gegenüber von seinem Haus. Nach zehn Jahren der Forschung und 18 Jahren Praxis, um sein System der Heilkunde zu vervollkommnen, gründete er die American School of Osteopathy (ASO). Er war 64 Jahre alt.


ABB. 10: DAS ERSTE GEBÄUDE DER AMERICAN SCHOOL OF OSTEOPATHY MIT DR. STILL AUF DER VERANDA

Der erste Kurs fand am 3. Oktober 1892 statt. Liberaler, der er war, öffnete Dr. Still seine Schule sowohl für Frauen als auch für Schwarze. Obwohl es bis 1970 dauerte, ehe sich ein Afroamerikaner einschrieb, waren Frauen bereits im ersten Jahrgang vertreten. Dr. Still ermutigte sie, sagte, sie seien natürliche Heiler der Kranken. Ein Reporter des St. Louis Globe besuchte Kirksville im Oktober 1892, um Nachforschungen betreffend der vielen Geschichten anzustellen, die sich um den ungewöhnlichen Arzt, der Leute heilte und eine neue Schule gründete, drehten. Gekommen, um Kritik zu üben, war er derart beeindruckt, dass der Kirksville „Missouris Mekka der Kranken“ nannte.

Die erste Schule hatte ein zweiköpfiges Kollegium – Dr. Still, der Manipulation unterrichtete, und Dr. William Smith, der Anatomie und Physiologie lehrte. Dr. Smith hatte das Medical College der University of Edinburgh, Schottland, absolviert und war Mitglied des Royal College of Physicians and Surgeons of England. Er war in Kirksville und verkaufte Sanitätsartikel, als er Dr. Still zum ersten Mal traf, und er war von diesem und seinen neuen Methoden derart fasziniert, dass er versprach, Anatomie zu unterrichten, falls Dr. Still ihm in der Manipulation unterwiese. Es gab ungefähr zehn Studenten, als die Schule eröffnet wurde, Stills vier Söhne sowie seine Tochter eingeschlossen, aber die Zahl wuchs rasch auf 17.20 (Die genaue Zahl ist verschiedentlich dokumentiert worden. In seinen persönlichen Aufzeichnungen sprach A. T. Still von etwa zwölf.)21 Der Satzung entsprechend konnte den Absolventen der Grad eines M.D. verliehen werden, doch Dr. Still dachte, er habe etwas anderes, eigenständiges, und so wählte er den D.O., das Diplom in Osteopathie. Bald wurde es in Doctor of Osteopathy geändert. Still aber sagte seinen Studenten: „D.O. bedeutet Dig On.“22

Innerhalb von nur zwei Jahren war das kleine Gebäude zu klein geworden für die wachsende Schule. Man machte Pläne, ein großes Krankenhaus und ein Schulgebäude zu errichten. Aus Hannibal, Kansas City, Macon und Sedalia in Missouri wurden Dr. Still Geld und Land angeboten, ebenso aus Des Moines, Iowa, dass er sein blühendes Unternehmen in diese Städte verlege. Einige Bürger von Kirksville, in Sorge, er könne vielleicht die Stadt verlassen, entwarfen eine Resolution, in der sie ihre Unterstützung und Geld anboten, falls er bleibe.23 Er antwortete, dass er in Kirksville bleiben werde, wo die Leute so freundlich zu ihm waren und wo er zu Erfolg gekommen war. Außerdem werde das Krankenhausgebäude ausschließlich mit seinem eigenen Geld gebaut, er wolle niemandem verpflichtet sein. Das gespendete Geld werde stattdessen für ein dringend benötigtes Hotel verwendet, das die zu Besuch kommenden Patienten aufnehmen könne.24 Dies werde ein zweistöckiges Gebäude unter der Anschrift 700 West Pierce Street, nur einen Block entfernt vom Bauplatz des ASO-Krankenhauses. Dr. Stills Sohn, Dr. Harry Still, solle es betreiben.


ABB. 11: DAS ASO-KRANKENHAUS MIT ANBAU FERTIGSTELLUNG IM JAHR 1896

Im Juni 1894 starb Andrews jüngster Sohn Fred Still infolge von Verletzungen, die er sich zuvor bei einem Unfall zugezogen hatte. Er war von einem Pferd gegen die Stallwand gedrückt worden, wodurch eine Rippe zersplitterte und eine seiner Lungen durchstach. Er war Mitglied im ersten Jahrgang der Schule gewesen.25 Trotz dieses traurigen Zwischenfalls setzte Dr. Still die Planungen für das neue Gebäude fort. Thomas A. Still, ein Neffe von Andrew und erfolgreicher Architekt, wurde verpflichtet, die Entwürfe zu machen und Krankenhaus sowie Schulgebäude zu bauen. Er war auch der Architekt der La Plata High School, des Opernhauses in Macon und des Business College in Memphis.26

Dr. Still verfügte nur über 750 Dollar, als die Arbeiten an dem Gebäude anfingen. Bei Fertigstellung hatte es 17.000 Dollar gekostet. Das Geld wurde währenddessen aufgebracht. Der dreistöckige, rote Backsteinbau wurde am 10. Januar 1895 eingeweiht. Der große Vorlesungssaal wurde zu Ehren von Stills Sohn Fred Memorial Hall getauft. Dennoch war, noch ehe das Gebäude fertiggestellt war, das Geschäft bereits wieder so stark angewachsen, das man dringend mehr Platz benötigte. Im Jahr 1895 erreichte die Zahl der verabreichten Behandlungen 30.000.27 Dr. Still erkannte, dass sie nochmals ausbauen mussten und konzipierte einen Anbau auf der Nordseite des Gebäudes. Seine Söhne und Mitarbeiter protestierten und sagten, sie könnten das Geld niemals aufbringen. Doch der Anbau wurde errichtet und ein weiterer wurde im Süden gebaut. Dr. Still hatte sich in den Kopf gesetzt, es zu tun, und er war niemand, der aufgab, wenn er etwas für richtig hielt. Er sah den Bedarf voraus und glaubte, dass es funktionieren würde, und das tat es dann auch.28

Beide Anbauten wurden im Dezember 1896 abgeschlossen. Das vierstöckige ASO-Krankenhausgebäude verfügte über 67 Zimmer, 2.800 Quadratmeter und kostete 80.000 Dollar. Zugänge auf der Außenseite machten in jedem Stockwerk die Anbauten leicht zugänglich. Eine Aussichtsplattform auf dem Dach des Nordbaus bot den Blick in die Umgebung. Eine amerikanische Flagge wehte auf der Spitze der Plattform. Das Gebäude verfügte über zahlreiche moderne Annehmlichkeiten, unter anderem eine Dampfheizung, warmes und kaltes fließendes Wasser, Toiletten und Badezimmer, elektrische Beleuchtung, Telefone und Feuerhydranten. Behandlungs- und Wartezimmer sowie Büros waren geschmackvoll mit eleganten Möbeln, Teppichen, Gemälden und ausgestellten Präparaten eingerichtet. Die Laboratorien für die Studenten waren ebenfalls auf dem aktuellsten Stand, mit Gasbrennern im Chemielabor und Mikroskopen, die in Deutschland bestellt worden waren, für das histologische Labor. Der Sektionsraum, voll mit Leichen, wurde manchmal die „Kammer der Schrecken“ genannt.29


ABB. 12: ASO SEKTIONSUNTERRICHT MIT DR. STILL

In den Hügeln etwa eine Meile südwestlich des Krankenhauses wurde eine großer privater See angelegt, um einen ausgiebigen Wasservorrat für die Einrichtung bereitzustellen. Eine dampfbetriebene Pumpe drückte das Wasser mit so viel Kraft durch ein Rohr, dass es das oberste Stockwerk erreichte. Damals als Krankenhaus-Wasserwerk bekannt, wurde er später als Stills Teich oder Stills See bezeichnet.30

Sauberkeit war einer der holistischen Ansätze Dr. Stills im Gesundheitswesen. Eines Tages bemerkte er einen jungen Knaben, der den Gehsteig entlanghumpelte. Er hielt an und kniete sich hin, um den Knöchel des Jungen zu untersuchen. Nachdem er ihm einen alten rindsledernen Stiefel und eine dicke Socke ausgezogen hatte, stellte er fest, dass der Knöchel verstaucht war. Er behandelte ihn und sagte dem Jungen dann, er solle ihn in einigen Tagen wieder aufsuchen. Und er fügte hinzu: „Und, Sohnemann, wasch dir die Füße, bevor du kommst.“31 Am Anfang seiner Reisen hatte er manchmal Seifenstücke gekauft und sie an Patienten gegeben, von denen er dachte, dass sie davon profitieren könnten. Da Sanitäranlagen zu dieser Zeit eine Seltenheit waren, wurden Waschräume im Keller des Gebäudes zur Nutzung für Studenten, Lehrpersonal und Patienten eingerichtet, aber auch für die Öffentlichkeit.32 Zu weiteren holistischen Ansätzen Stills die Gesundheit betreffend gehörten Bewegung, frische Luft und gute Ernährung.

Die Nachricht von der wunderbaren Einrichtung in Kirksville verbreitete sich weit und breit. Invalide, teils in Rollstühlen, einige auf Krücken und andere auf Bahren getragen, kamen zu Hunderten nach Kirksville. Schätzungen zufolge waren an jedem Tag etwa 500 bis 600 Patienten aus den ganzen Vereinigten Staaten in der Stadt. Verschiedene Hotels und Pensionen wurden gebaut, um die große Zahl an Leuten unterzubringen, die tagtäglich mit dem Zug eintraf. Die Wabash-Bahn warb mit Schlafwagen und Kippstühlen für Invalide auf dem Weg nach Kirksville. Die OK-Linie bot Tarife zur Hälfte des regulären Preises für Invalide an, die nach Kirksville fuhren, um sich von Dr. Still behandeln zu lassen. Vertreter der ASO erwarteten jeden Zug und halfen den Patienten mit ihren Terminen und ihrer Unterkunft.33

Eines Tages bestieg ein Herr auf Krücken unter Schmerzen einen Zug in Council Bluffs, Iowa. Zuvor war er in Chicago gewesen, um einen international renommierten Chirurgen zu konsultieren, was seinen Zustand anbetraf. Der Chirurg diagnostizierte eine Tuberculosis synovitis34 des Knies und empfahl eine Amputation des Beins so rasch wie möglich. Der Mann war nach Council Bluffs zurückgekehrt, um seine Geschäfte zu ordnen, und bereits auf dem Rückweg nach Chicago zur Operation. Der Schaffner sagte zu ihm: „Warum steigen Sie nicht in Ottumwa aus und nehmen den Zug runter nach Kirksville, um Dr. Still aufzusuchen? Ich hatte viele Leute in diesem Zug, die sich in schlechterer Verfassung befanden als Sie und die später gesund nach Hause zurückkehrten. Warum versuchen Sie es nicht mit ihm?“


ABB. 13: A. T. STILL VOR DEM KRANKENHAUS

Der Herr ging nach Kirksville ins Krankenhaus und bat um einen Termin bei Dr. Still. Zu seiner Überraschung ignorierte dieser, als er ihn untersuchte, das Knie und konzentrierte sich auf seine Wirbelsäule. Nach der Untersuchung korrigierte er vorsichtig eine dislozierte Hüfte. Er sagte dem Patienten, er solle aufstehen und mit seinem Fuß auf den Boden stampfen. Dieser wehrte sich und sagte, sein Chirurg habe ihm geraten, nicht zu viel Gewicht auf ein Bein zu legen. Dr. Still sagte: „Ich bin jetzt Ihr Arzt, also tun Sie, was ich sage.“ Der Mann gehorchte und war in der Lage, über den Boden zu laufen. Er schickte seiner Frau ein Telegramm mit den Worten: „Ich bin geheilt, gesund und wohlauf.“ Als das Telegramm eintraf, schickte sie sogleich einen Freund nach Kirksville, weil sie dachte, ihr Mann habe den Verstand verloren. Doch nachdem der Freund den Herrn besucht hatte, kabelte er an sie: „Ein Wunder ist vollbracht worden.“35


ABB. 14: DR. A. T. STILL SINNIRT ÜBER EINEN OBERSCHENKELKNOCHEN

Viele Wunder wurden in Kirksville vollbracht in jenen Tagen. Abgesehen von den Lahmen und Verkrüppelten, die ihre Krücken fortwarfen, wurden viele von allem Möglichen, von Verstopfung und Hämorrhoiden bis zu Gallensteinen und Lungenentzündung geheilt – und alles ohne Verwendung schädlicher Arzneimittel. Dr. Still sagte, der Körper sei die Maschine und der Osteopath sei der Mechaniker, der ihren reibungslosen Betrieb gewährleisten könne. Einige Patienten waren nach einer Behandlung geheilt, bei anderen dauerte es einige Monate. Dennoch gab Still seinen Schülern zu verstehen, dass nicht jeder Fall heilbar sei. Er sagte, dass die Maschinerie manchmal einen Punkt erreiche, an dem es keine Heilungsmöglichkeit mehr gebe. Jeder Patient wurde kostenfrei untersucht und ihm wurde unumwunden mitgeteilt, wenn keine Hoffnung bestand. Dr. Still erklärte Studenten wie auch Patienten stets gleichermaßen, was er tat und warum.36 Er sagte zu seinen Schülern: „Ein intelligenter Kopf wird bald lernen, dass eine zarte Hand und eine sanfte Bewegung die Grundlage eines gewünschten Ergebnisses sind.“ Einer seiner Grundsätze war: „Finde es, bring es in Ordnung und lass es in Ruh.“37

Die Leute kamen scharenweise zu der Klinik. Reich und arm gleichermaßen verlangten danach, Dr. A. T. Still zu sehen. Viele waren mit einem seiner Assistenten nicht zufrieden. Er hatte so viel zu tun, dass er damit anfing, sich jeweils für einige Stunden oder einen Tag davonzustehlen, nur um sich ein wenig Frieden und Ruhe zu verschaffen. Manchmal nahm er den Zug nach Millard, der ersten kleineren Stadt südlich von Kirksville, wo er für einige Tage auf der Farm einiger Freunde blieb. Dort konnte er sich entspannen und an einem der Bücher arbeiten, an denen er schrieb. Während seiner Abwesenheit waren die Hilfesuchenden gezwungen, die Behandlung durch einen seiner Kollegen anzunehmen.

Die Kunde von Dr. Still und der ASO verbreitete sich in den ganzen Vereinigten Staaten. Artikel über ihn und über die Osteopathie erschienen in Zeitungen wie der New York Times oder in Magazinen wie dem Ladies’ Home Journal. Die Saturday Evening Post brachte eine Geschichte von Emerson Hough unter dem Titel „Der Viehtreiber, ein Osteopath und ein schielendes Pferd.“38 Eine der Hauptfiguren des Broadway-Stücks Mrs. Leffingwell’s Boots war ein osteopathischer Arzt.39 Viele bekannte Leute wurden zu Fürsprechern der Osteopathie, darunter George Bernard Shaw,40 Buffalo Bill,41 der Pianist Paderewski,42 Helen Keller,43 Theodore Roosevelt44 und Mark Twain, der dabei behilflich war, den Osteopathen gesetzliche Rechte im Staat New York zu verschaffen.45

Das bisherige Krankenhausgebäude war keine akademisch geführte Klinik, doch wo so viele kranke Leute waren, empfand man die Notwendigkeit nach einem. Eine Entbindungsklinik wurde in einem kleinen Haus ein Block südlich des neuen Gebäudes eingerichtet. Nach kurzer Zeit wurden auch chirurgische Fälle aufgenommen und es erhielt des Namen A. T. Still Surgical Sanitarium. Kleinere chirurgische Eingriffe wurde als eigenes Fach in den Lehrplan aufgenommen. Im Jahr 1897, bereits vier Jahre nach ihrer Entdeckung, wurde ein Apparat mit Röntgenstrahlen installiert; es war die zweite derartige Maschine westlich des Mississippi. Obschon etwas skeptisch angesichts des neuen Apparats erkannte Dr. Still ihr Potential als Diagnoseinstrument.46


ABB. 15: DR. STILL AUF DER MORRIS FARM IN MILLARD BEI DER ARBEIT AN SEINER AUTOBIOGRAFIE

Am 4. März 1897 gewannen die Osteopathen schließlich ihren Kampf um die gesetzliche Anerkennung und erhielten das Recht, in Missouri zu praktizieren. Als das Telegramm mit der Nachricht aus Jefferson City in Kirksville eintraf, marschierten 200 Studenten und Stadtbewohner zum Bahnhof, um die siegreichen Helden Doktor Arthur Hildreth und Doktor Henry Patterson abzuholen. Der Zug, angeführt von der Musikkapelle der ASO, bewegte sich mit Rufen um den Platz: „Rah! Rah! Rah! Missouri hat das Gesetz für A. T. Still verabschiedet.“ Sie zogen weiter zum Haus von Dr. Still und er trat hinaus auf die Veranda, um die Feiernden zu grüßen. Am Samstag, den 6. März, feierte die ganze Stadt. Die Kirchen- und Alarmglocken wurden geläutetet, Waffen wurden abgefeuert, die Geschäfte wurden geschlossen und eine ganze Reihe an Ansprachen gehalten vor einer großen Menge in der Memorial Hall des Krankenhausgebäudes.47

Zur Feier dieses Anlasses nahmen seine Freunde Dr. Still mit zu einem Herrenschneider, wo sie ihm halfen, einen Gehrock mit den entsprechenden Accessoires sowie einen hohen, seidenen Zylinder zu erstehen. Sodann brachten sie ihn zum Fotografen, um ein Portrait anzufertigen, das häufig abgebildet wird. Manche sagen, er habe diesen Aufzug nie wieder getragen. Andere behaupten, dass er den Zylinder einmal in der Stadt getragen habe, auch wenn er ihn unbehaglich fand. Auf dem Weg nach Hause begegnete er Kirksvilles schwarzem Pastor und hielt inne, um mit ihn zu plaudern. Als sie ihre jeweiligen Wege fortsetzten, hatte der Hut den Kopf gewechselt.48


ABB. 16: DAS FOTO MIT HUT WURDE AUFGENOMMEN, UNMITTELBAR NACHDEM DAS PRAKTIZIEREN DER OSTEOPATHIE IN MISSOURI ANERKANNT WORDEN WAR

Eine andere Geschichte wird über das Bild erzählt, auf dem A. T. Still eine Fellmütze und einen Stock trägt. Er war in Chicago zu Besuch bei seinem ehemaligen Schüler Dr. Frank S. Gage und dessen Frau. In Dankbarkeit für deren Gastfreundschaft sagte Dr. Still, er würde Mrs. Gage gern ein Geschenk machen, und bat sie zu wählen, was sie wolle. Sie sagte, sie hätte gern ein Bild von ihm, das seine fähigen Hände zeige. Er posierte für das Bild, ließ es fertigstellen und urheberrechtlich schützen. Er signierte es, ließ es rahmen und überreichte es ihr.49

Bis zur Jahrhundertwende, gerade einmal acht Jahre nach ihrer Gründung, war die ASO herangewachsen zu einer 700-köpfigen Studentenschaft und einem Kollegium von 18 Personen. Viele der Mitglieder des Kollegiums, neben seinen Söhnen, waren ehemalige Studenten, die Dr. Still persönlich auszubilden geholfen hatte. Es hieß, sein diagnostisches Geschick sei bewundernswert, geradezu unheimlich gewesen. Angeblich hat er nie ein Stethoskop benutzt – er nannte es „Schweineschwänzchen“ – oder eine Pinzette – die bezeichnete er als Zangen.50 Er behandelte ausschließlich mit den Händen. Die einzigen Arzneimittel, die er verwendete, waren Gegenmittel für Gifte, Schmerzmittel, Antiseptika und Anästhetika.51 Andere Mitglieder des Kollegiums waren Absolventen berühmter Colleges und Universitäten mit akademischen Graden wie M.D. oder Ph. D. Die waren dabei behilflich, der Schule Respektabilität zu verschaffen, indem sie sie auf eine breitere intellektuelle und wissenschaftliche Basis stellten. Der Lehrplan wurde erweitert, sodass er alle Kurse mit Ausnahme von Großchirurgie und Materia Medica (Pharmakologie) umfasste, wie sie zeitgenössisch an traditionellen Medizinschulen gelehrt wurden. Das verschlafene kleine Städtchen Kirksville hatte sich in eine geschäftige und belebte Stadt verwandelt. Und als sich die Absolventen über das ganze Land verteilten, wurden auch andere osteopathische Colleges gegründet. Irgendwann gab es mehr als 30 davon, doch viele waren kaum mehr als „Diplommühlen.“ Im Jahr 1898 wurden die Associated Colleges of Osteopathy gegründet, um die Schulen zu regulieren und zu kontrollieren. Ihr Gründungstreffen fand am 28. und 29. Juni 1898 in Kirksville an der ASO statt. In der Folge wurden viele Einrichtungen mit mangelhaftem Ausbildungsprogramm geschlossen.52


ABB. 17: DIESES FOTO ENTSTAND FÜR FRAU FRANK GAGE

Anfangs wurde die Schule durch die Persönlichkeit von A. T. Still geprägt. Seine Lebensfreude und sein Enthusiasmus verliehen den für das Wachstum nötigen Schwung. Er war überall; er machte Behandlungen, gab Vorlesungen, besuchte Patienten, besichtigte die Sektionsräume, und er schrieb Artikel und Bücher. Er besuchte die Wohltätigkeits-Sprechstunden und traf die Patienten. Wenn er ging, gab er ihnen die Hände und hinterließ häufig einen Fünfdollarschein in ihren Händen.53 Er mochte Menschen; sein Haus war oft voll von Studenten und Freunden. Man sagt, Mrs. Still habe nie gewusst, mit wie vielen Leuten sie für das Abendessen zu rechnen habe, weil er dazu neigte, jeden, der da war, darum zu bitten, zu bleiben und zu essen. Seine Studenten liebten ihn und nannten ihn „Pap“ oder „Daddy.“

Obwohl er körperlich aktiv war, führte er einen langen Stock mit sich – scheinbar symbolisch für den Schäfer, der seine Herde leitet; dies war allerdings eine Angewohnheit, die er nach seinem Typhusanfall 1877 angenommen hatte. Er war ein Träumer, ein Seher mit dem Drang, der Menschheit zu dienen. Er war freundlich, tolerant, geduldig und einfach. So-tun-als-ob verabscheute er. Er war exzentrisch und unorthodox, nicht allein in seinem Denken, sondern auch in seiner Art zu reden und sich zu kleiden. Seine Gestalt von 1,85 Meter Körpergröße war für gewöhnlich nachlässig mit einem Gewand bekleidet, das mehr einem Pionier zukam als einem erfolgreichen Arzt und College-Präsidenten. Einmal kamen zwei wohlgekleidete Damen den Weg zu seinem Haus hinauf und gingen an einem alten Mann vorbei, der an einer Ziegelmauer arbeitete. Sie sagten ihm, sie seien auf der Suche nach Dr. Still. Er blieb auf den Knien, seine Hosen mit Dreck bedeckt, und antwortete, dass er Dr. Still sei. Sie sagten, sie würden nach dem berühmten Dr. Still suchen. Und er antwortete, indem er mit einem Ziegel in der einen Hand und einer Maurerkelle in der anderen aufstand, dass er der Dr. Still sei, nachdem sie suchen würden. Dann sagte er: „Falls Sie nach schicker Kleidung suchen sollten, gehen Sie zum Haus und Mutter wird sie Ihnen zeigen.“54

Seine Rede war voll von Allegorien und formuliert in biblischer Sprache. Seine weisen Sprüche finden sich überall in seinen Schriften. Einige seiner Zitate wären:

„Krankheit ist bloß zu viel Schmutz in den Rädern des Lebens.“

„Gesundheit zu finden sollte Ziel des Arztes sein, Krankheit kann jeder finden.“

„Ein Maultier geht hinaus in die Wälder und isst, was ihm gut tut, lehnt ab, was nicht gut ist. Ein Mensch sollte so viel Sinn haben wie ein Maultier.“

„Ein Osteopath ist nur ein menschlicher Mechaniker, der die Gesetze verstehen sollte, die die menschliche Maschine beherrschen, und dadurch die Krankheit überwinden.“

„O Herr, benetze unsere Fersen mit dem Öl der Energie, sodass wir etwas weiter voran rutschen.“

„Zuerst sah ich die Spuren Gottes im Schnee der Zeit. Ich folgte ihnen.“

„Nun, Herr, wir flehen dich an, dass du gelegentlich unsere Köpfe mit den Hagelkörnern der Vernunft bearbeiten mögest.“

„Ich bitte den Herrn, meinen Kopf mit einem feinen Kamm zu kämmen und alle Unwissenheit aus ihm herauszubekommen, denn du weißt, der Grind der Faulheit ist ein stinkendes Gift für Wissen, für Erfolg und Fortschritt, es ist der Staub eines gierigen Geizes. Halte es fern von uns, o Herr, Amen.“55


ABB. 18 - 21: VERSCHIEDENE AUFNAHMEN VON DR. A. T. STILL

Dr. Stills Vorlesungen waren häufig voll von dunklen Gleichnissen und seltsam wirkenden Vergleichen. Insbesondere hob er hervor: „Anatomie zuerst, zuletzt und die ganze Zeit.“56 Manchmal war er streng und eindrucksvoll. Einmal bat er einen Studenten, die Mandelentzündung zu erklären. Der Student fing damit an, zu schildern, was er im Lehrbuch gelesen hatte. Dr. Still platzte heraus: „Verdammt, dieses Zeug will ich nicht hören. Ich will, dass Sie mir erzählen, was sich wirklich im Hals und in den Mandeln verändert, welche Nerven und Strukturen das Problem verursachen, und wie Sie vorgehen würden, um es zu korrigieren. Hören Sie damit auf, das was Sie in Ihren Medizinlehrbüchern gelesen haben wie ein Papagei nachzuplappern.“ Bei anderer Gelegenheit konnte er ziemlich lustig sein. Manchmal sprach er von „Herrn Wirbelsäule“ oder „Richter Herz.“

Einmal, nachdem er einen ernsten Vortrag über Osteopathie gehalten hatte, fing er an, der Klasse zu erzählen, dass er alt werde und dass seine Söhne bald für ihn übernehmen würden. Er sagte, er meine, dass seine Arbeit getan sei. Dann fiel er wie kollabiert zu Boden. Harry, der unter den Zuhörern war, eilte zu seinem Vater und begann mit osteopathischen Notfallmaßnahmen. Kurz darauf stand Dr. Still wieder auf und sagte mit einem Funkeln in den Augen, er habe nur simuliert. Alle waren sehr erleichtert und lachten herzlich über den Scherz, den der Doktor seinen Schülern gespielt hatte.

Bei der Abschlussfeier, nachdem er die Abschlussrede gehalten hatte, überreichte Dr. Still den Absolventen stets ihre Diplome und sprach einige persönliche Worte mit ihnen.57 Folgenden Ratschlag gab er einmal einem seiner Studenten:


ABB. 22: DR. STILL DEMONSTRIERT MANIPULATIONEN

“Zögern Sie nicht, auf Ihr eigenes Urteil und Ihre Vernunft zu vertrauen und denken Sie daran, dass Sie genauso dazu fähig sind, ebenso wertvolle Erkenntnisse zu erlangen wie jeder andere. Ich wünsche Ihnen nichts anderes, als dass Sie, wenn Sie anfangen zu praktizieren, auf schwierige Probleme stoßen werden, die Sie zu lösen haben. Gehen Sie in eine kleine Stadt, leben Sie von Maisbrot und Schweineschwarte, wenn nötig, aber schlafen Sie mit Ihrem Anatomiebuch unter dem Kissen und vergessen Sie nicht, dass Sie ein Gehirn haben.“58

Die erste für die Osteopathen errichtete Klinik wurde am 25. Mai 1906 eingeweiht. Die ASO-Klinik befand sich westlich des alten ASO-Krankenhauses an der nordöstlichen Ecke der Kreuzung von Jefferson und Osteopathy Street. Der rote dreistöckige Ziegelbau ermöglichte es, auch größere Operationen im Rahmen der Ausbildung zu unterrichten.59 Dr. Still war stets dafür, das Messer seltener zu gebrauchen, doch begriff er, dass es in vielen Fällen notwendig war, um Leben oder Körperteile zu retten. Er sagte nun: „In unserer Satzung nehmen wir in Anspruch, Chirurgie zu unterrichten. Wenn wir es unterlassen, diesen Zweig zu unterrichten, werden wir unserer Verpflichtung gegenüber den Studenten nicht gerecht.“60 Dr. George Laughlin legte dar, dass nicht alle Osteopathen Chirurgen sein sollten, aber die, die danach verlangten, die Möglichkeit haben sollten, welche zu werden.61 Da den Osteopathen der Zugang zu regulären Krankenhäusern verweigert wurde, diente die ASO-Klinik dem gesamten osteopathischen Berufsstand, bis weitere osteopathische Kliniken errichtet wurden. Im Sommer des Jahres 1914 wurde das Dach angehoben und das Gebäude um einen vierten Stock erweitert, sodass die Kapazität deutlich zunahm. Auch ein Aufzug wurde ergänzt. Sie mussten nun nicht länger eimerweise Wasser, Tabletts mit Essen, Vorräte und sogar Patienten die Treppen hinauf und hinunter tragen.62

Im Jahr 1905 gewann Dr. Still eine landesweite Zeitungsumfrage, wer den Nobelpreis für Physiologie und Medizin bekommen solle, mit 22.061 Stimmen. Er gewann den Preis nicht, da sein Name nicht an die zuständigen Behörden weitergeleitet wurde. Stattdessen erhielt in diesem Jahr Dr. Robert Koch aus Berlin den begehrten Preis für seine Arbeit zur Tuberkulose.63


ABB. 23: DR. STILL VOR DER ABSCHLUSSKLASSE DES JAHRES 1909

Erinnerungen an Andrew Taylor Still

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