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Ontologie und Geschichtlichkeit beim jungen Marcuse *

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I. Mit Heidegger gegen Heidegger?

Nachdem Heideggers Sein und Zeit 1927 einen nachhaltigen Eindruck bei Herbert Marcuse hinterlassen hatte, entschied sich der Berliner Denker für einen Aufenthalt in Freiburg, um sich bei Heidegger zu habilitieren.1 Aber schon im Jahr 1928, vor seiner Zeit in Freiburg, veröffentlichte er den stark von Sein und Zeit beeinflussten philosophischen Aufsatz Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus. In diesem Text lässt sich eine kritische Auseinandersetzung mit Heideggers Ontologie der Geschichtlichkeit ausmachen, die für uns noch wichtig werden wird. Ausgangspunkt dieser Auseinandersetzung ist Marcuses Anerkennung der zentralen Bedeutung der in Sein und Zeit dargestellten Phänomenologie des Daseins. Das Buch scheint Marcuse deshalb »einen Wendepunkt in der Geschichte der Philosophie zu bezeichnen […], einen Punkt, wo die bürgerliche Philosophie sich von innen her selbst auflöst und den Weg frei macht zu einer neuen ›konkreten‹ Wissenschaft.«2

In dieser Bewertung spielt die Einsicht eine große Rolle, dass »die Analysen Heideggers […] das Phänomen der Geschichtlichkeit am ursprünglichsten aufgedeckt haben.«3 Das Besondere an Heideggers Buch ist die Auffassung der Geschichtlichkeit des Daseins als ontologisches: »Die Frage nach der Geschichtlichkeit ist eine ontologische Frage nach der Seinsverfassung des geschichtlich Seienden«.4 Die Geschichtlichkeit verweist dabei nicht etwa auf die Tatsache, dass jedes Individuum in einer konkreten geschichtlichen Situation lebt und durch die Umstände dieser Situation bestimmt ist. Die Geschichtlichkeit ist bei Heidegger vielmehr die ontologische Bedingungsmöglichkeit der Geschichte und ihrer Erkenntnis:

»Der Satz: das Dasein ist geschichtlich, bewährt sich als existenzial-ontologische Fundamentalaussage. Sie ist weit entfernt von einer bloß ontischen Feststellung der Tatsache, daß das Dasein in einer ›Weltgeschichte‹ vorkommt. Die Geschichtlichkeit des Daseins aber ist der Grund eines möglichen historischen Verstehens, das seinerseits wiederum die Möglichkeit zu einer eigens ergriffenen Ausbildung der Historie als Wissenschaft bei sich trägt.«5

Die so verstandene Geschichtlichkeit sei nun die ontologische Grundlage des Daseins überhaupt als die Seinsweise seines Geschehens:

»Die Bestimmung der Geschichtlichkeit liegt vor dem, was man Geschichte (weltgeschichtliches Geschehen) nennt. Geschichtlichkeit meint die Seinsverfassung des ›Geschehens‹ des Daseins als solchen, auf dessen Grunde allererst so etwas möglich ist wie ›Weltgeschichte‹ und geschichtlich zur Weltgeschichte gehören.«6

Das »eigentliche Sein zum Tode«, die »vorlaufende Entschlossenheit«, das »Wiederholen des Erbes« von durch die Tradition überlieferten Möglichkeiten, das »Schicksal« und das »Geschick« bestimmen demnach die »eigentliche Geschichtlichkeit« und umschreiben die Grundbestimmungen der Geschichtlichkeit des Daseins überhaupt.7

Heideggers Analysen ebnen nun zwar einerseits den Weg für einen konkreten Zugang zum Dasein, sie sind andererseits aber dennoch für Marcuse nicht konkret genug. Das hat für ihn erstens seinen Grund darin, dass solche Analysen das Dasein als Dasein überhaupt betrachteten, und das bedeutet die Abstrahierung des Daseins von seiner konkreten historisch-sozialen Welt. Das Dasein überhaupt sei eine Abstraktion und die Herausstellung seiner Geschichtlichkeit verweile auf eben derselben Ebene der Abstraktion. Zweitens ergreife Heideggers Phänomenologie der Geschichtlichkeit das Dasein nach dem Muster des Individuums.8 Diese Analyse der Geschichtlichkeit in Bezug auf das Individuum zeigt Marcuse zufolge Heideggers Mangel an Konkretion, denn er verliert sowohl kollektive Grundphänomene und -strukturen aus dem Blick als auch die materielle Konstitution der Geschichtlichkeit. Marcuse spricht Heideggers Begriffen der Umwelt und Mitwelt ihren Anspruch auf Allgemeingültigkeit ab, d. h. den Anspruch für alles Dasein dasselbe zu sein: Diese Allgemeingültigkeit habe

»ihre Grenzen zunächst in der geschichtlichen Lage. […] Wo liegen nun aber die Grenzen der jeweiligen geschichtlichen Lage selbst? Und ist die Welt auch für alles in einer konkreten geschichtlichen Lage gegenwärtige Dasein ›dieselbe‹? Offenbar nicht. Nicht nur die Bedeutungswelt der einzelnen gleichzeitigen Kulturkreise ist verschieden, auch innerhalb eines solchen Kreises klaffen noch Abgründe des Sinnes zwischen den Welten. Gerade in dem existenzial wesentlichen Verhalten gibt es z. B. kein Verstehen zwischen der Welt des modernen Bürgers des Hochkapitalismus und der des Kleinbauern oder Proletariers. – Hier stößt die Untersuchung notwendig auf die Fragen der materialen Konstitution der Geschichtlichkeit, einen Durchbruch, den Heidegger nirgends vollzieht oder auch nur andeutet.«9

Gerichtet gegen Heideggers pseudo-konkreten Begriff von Geschichtlichkeit spricht sich Marcuse dann für eine konkrete Philosophie aus. Ihre Aufgabe sei es, eine Auffassung von Geschichtlichkeit zu gewinnen, die sich ihre kollektive Bedeutung und ihren materiellen Bestand aktiv aneigne:

»Die konkrete Philosophie kann also an die Existenz nur herankommen, wenn sie das Dasein in der Sphäre aufsucht, aus der heraus es existiert: im Handeln in seiner Welt gemäß seiner geschichtlichen Situation. Im Geschichtlichwerden kommt die konkrete Philosophie, indem sie das wirkliche Schicksal des Daseins auf sich nimmt, zum Öffentlichwerden. […] Daß die Philosophie mit einem konkreten Dasein in der Gleichzeitigkeit steht, heißt, daß die Philosophie sich um die ganz konkreten Kämpfe und Nöte dieses Daseins zu kümmern hat, daß sie ›dieselbe‹ Sorge um sein so und nicht anders existierendes Leben zu tragen hat.«10

II. Begriffe und Geschichtlichkeit

Diese Kritik an Heidegger und das Plädoyer für eine andere historisierte Philosophie impliziert beim jungen Marcuse allerdings nicht den Verzicht auf eine Ontologie der Geschichtlichkeit.11 Das wird in mehreren Stellen seines Frühwerks aus den Jahren 1928-1933 deutlich.12 Für unser Thema ist Marcuses Auseinandersetzung mit Hans Freyers Buch Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft im Jahr 1931 besonders interessant. Hier können wir eine Kritik an Freyers Theorie der Begriffe finden, die meiner Meinung nach auch Reinhart Kosellecks Auffassung der Kategorien der Historik als transzendentale Theorie der Geschichte betrifft.13 Nach Marcuse ist Freyers Absicht »die ›philosophische Grundlegung‹ eines ›Systems der Soziologie‹«14, aber statt eine phänomenologische (das heißt für Marcuse in dieser Zeit: eigentlich philosophische) Analyse der Gegebenheit ihres Gegenstandes zu unternehmen, bleibe Freyer entgegen seiner ausdrücklichen Absichten auf einer erkenntnistheoretischen Ebene. Da es sich bei Freyers Entwurf um ein konkretes System der Soziologie handele, spreche er sich selbst aus »gegen alle abstrakte, formale Soziologie, die die Geschichtlichkeit der sozialen Gebilde und Strukturen verkennt«15. Freyer finde etwa die Versuche, ein System von Begriffen durch eine trans-zendentale Reflexion auszuarbeiten, unfruchtbar, weil ihre Ergebnisse vollkommen abstrakt und formal wären. Deswegen bleibe für Freyer nur ein einziger Weg offen: die Bildung der Begriffe für sein System der Soziologie aus der gewesenen Geschichte heraus. Er bilde seine Begriffe durch das Aufgreifen der »typischen Grundstrukturen der gesellschaftlichen Wirklichkeit aus der Geschichte«.16 So mache sich Freyers philosophische Grundlegung der Soziologie »an den bisher vorhandenen geschichtlichen sozialen Gebilden als ›typischen‹«17 fest. Freyer entnimmt nach Marcuse also seine Begriffe durch eine Art von Verallgemeinerung der geschehenen Geschichte. Das habe Auswirkungen auf sein System der Soziologie, wie wir später weiter im Lichte von Marcuses Kritik sehen werden.

Zuvor betrachten wir jedoch die Auffassung der von Marcuse bei Freyer kritisierten Begriffe im Kontext von Reinhart Kosellecks Historik. Hier gibt es meiner Meinung nach Ähnlichkeiten mit Freyers Position. Gewiss wollte Koselleck – anders als Freyer – mit seiner Historik eine transzendentale Theorie der Geschichte entwickeln: eine Theorie der »transzendentalen Bedingungen möglicher Geschichten«18. Er beanspruchte Heideggers ontologische Analyse des Daseins auf der Ebene der wirklichen Geschichte zu verbreiten. Eine zentrale Aufgabe der Historik ist die Bildung der transzendentalen Begriffe, die die Bedingungsmöglichkeiten aller möglichen Geschichte ausmachen sollen. Solche Begriffe sollen die Grenze des Erkennbaren und Machbaren in der Geschichte ziehen. Eigentlich wäre es Aufgabe einer transzendentalen Reflexion, diese Begriffe herzustellen. Aber wenn wir die von Koselleck vorgeschlagene Reihe von Begriffen genauer betrachten, stellen sich Zweifel gegenüber ihrem Entstehungsprozess und ihrem Status ein. Nach Koselleck bestehen diese aus folgenden Kategorienpaaren: »Sterbenmüssen-Tötenkönnen«, »Freund-Feind«, »Innen-Außen«, »Herr-Knecht« und der Kategorie der »Generativität«, die die »zwangsläufige Abfolge von Generationen« bedinge.19 Meiner Meinung nach kann eine solche Begriffsreihe – und das gilt vor allem für die Begriffspaare »Herr-Knecht« und »Freund-Feind« – nicht als eine transzendentale Bedingung möglicher Geschichte wirken. Denn wenn es auch der Fall wäre, dass in der geschehenen Geschichte die Wirklichkeiten, auf die diese Begriffe verweisen, allgegenwärtig wären, dann hätten wir doch keinesfalls die Möglichkeit, dasselbe über die noch vor uns liegende Geschichte zu sagen. Diese Begriffe können daher nicht als formal-transzendental angesehen werden, sie sind vielmehr imprägniert von Faktizität: der Faktizität der gewesenen Geschichte. Im eigentlichen Sinne sind damit also auch Kosellecks Begriffe der Historik nicht transzendental; auch sie sind aus einer Art Verallgemeinerung bestimmter geschichtlicher Phänomen gebildet. So projizieren sie das Gewesene auf das Zukünftige als seinen nur vermeintlichen Möglichkeitshorizont, während sie die wirklichen Möglichkeiten dadurch verstellen.

Kehren wir zurück zu Marcuses Kritik an Freyers Auffassung der Begriffe; wir finden dort auch die Gründe für eine weitere Kritik der koselleckschen Historik. Denn nach Marcuse liegt das Problem von Freyers Vorstellung der Begriffe gerade in der These, dass sich die Bildung der Begriffe aus dem Stoff der bisherigen Geschichte vollziehe. Das hat für Marcuse die Unfähigkeit, mit solchen Begriffe das Neue zu ergreifen, zur Folge. Solange diese Begriffe auf der Basis des Gewesenen gebildet werden, müsse Freyers System der Soziologie gewärtig sein, dass irgendwann ein neues geschichtliches Gebilde entstehe, das durch keine der bisherigen Begriffe verstanden werden könne und »also den immanent-sachlichen Zusammenhang des Systems zerreißt, das System aufhebt.«20 Meiner Ansicht nach kann diese Kritik nun auch wieder Kosellecks Theorie der Historik treffen. Denn ihre aus der Faktizität der geschehenen Geschichte gebildeten Begriffe grenzen auf eine ebenso beschränkende Weise – als vermeintliche Möglichkeitsbedingungen aller möglichen Geschichten – die Erfahrung und die Vorstellung der noch vor uns liegenden Geschichte auf unzulässige Weise ein. Damit werden letzten Endes auch die geschichtlichen Möglichkeiten reduziert, so dass die Vorstellung und das Schaffen von etwas geschichtlich Neuem verunmöglicht werden. Das problematische Fazit auch aus Kosellecks Historik wäre eine Beschränkung unserer Erfahrung möglicher Geschichten nach dem Muster des Gewesenen, d. h. eine Verengung unseres Erwartungshorizontes. Eine solche Fassung der transzendentalen Kategorien der Geschichte macht es schwer, unsere Rolle als erkennende und vor allem als geschichtlich handelnde Menschen zu verstehen.

III. Eine ontologische Phänomenologie des geschichtlichen Lebens?

Worin besteht nun der theoretische Vorschlag von Marcuse gegenüber einer so defizitären Auffassung der Begriffe und der Geschichte bei Freyer – und meines Erachtens auch bei Koselleck? Nach Marcuse scheitert Freyers Anspruch, ein System der Soziologie herauszuarbeiten, aufgrund eines Mangels an philosophischer Reflexion über die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit als ihr Gegenstandsgebiet. Das wäre letztlich die Ursache dieser problematischen Begriffskonstruktion. Marcuse spricht sich für eine erweiterte philosophische Reflexion aus, in welcher er vielmehr die Aufgabe der Philosophie erblickt. In seiner Kritik an der Soziologie als nur scheinbar neutraler und reiner Wissenschaft macht sich Marcuse für die Rolle der Philosophie stark, die das Fundament der Soziologie zu sichern habe:

»Die Kritik der ›reinen‹ Soziologie bedarf aber nun wieder eines Bodens, von dem aus sie das in Frage stellen kann, was die Soziologie über das gesellschaftliche Sein ausmachen will und kann; ein Boden der in Wahrheit ›grundlegend‹ sein muß, also nicht mehr Standpunkt gegen Standpunkt stellt, sondern die ursprüngliche Möglichkeit aller Aussagen über das gesellschaftliche Sein begründet. Dieser Boden kann allein von der Philosophie vorgegeben und gesichert werden. Das gesellschaftliche Sein kann als eine Grundweise des menschlichen Seins auf seine seinsmäßigen Charaktere, Gesetze und Formen nur von der Philosophie befragt werden.«21

Marcuse verteidigt hier zunächst die Rolle der Philosophie als Phänomenologie im heideggerschen Sinne einer Fundamentalontologie.22 In seinem ersten Aufsatz schlägt Marcuse eine Synthese zwischen Phänomenologie und Dialektik als der einzigen Methode vor, die »der Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins gerecht zu werden [vermag].«23 Eine solche Synthese bezeichnet er als »dialektische Phänomenologie«: »Sie geht zunächst auf die ihrem Sein nach geschichtliche menschliche Existenz, und zwar sowohl in ihrer Wesensstruktur als in ihren konkreten Formen und Gestaltungen.«24 Die dialektische Phänomenologie also betrachtet die Geschichtlichkeit des Daseins sowohl auf der Ebene ihrer Grundstrukturen, das heißt sowohl auf ihre ontologische Dimension als auch auf der Ebene ihrer konkreten Verwirklichungen, ihre ontische Dimension hin. Der junge Marcuse will beides beibehalten: Marx’ geschichtliche Konkretion und Heideggers ontologischen Anspruch.

In seiner Auseinandersetzung mit Freyer behauptet Marcuse, dass nur eine »Analyse des menschlichen Lebens als geschichtliches«25 in der Lage ist, die Grundstrukturen der Geschichtlichkeit herauszustellen und die angemessene philosophische Grundlegung für ein System der Soziologie oder eine Theorie der Gesellschaft zu geben. Aber diese phänomenologische Grundlegung gebe uns zugleich eine neue Vorstellung davon, was philosophische Begriffe eigentlich seien:

»Die Grundcharaktere der Geschichtlichkeit liegen (ontologisch) vor jeder bestimmten geschichtlichen Sozialstruktur; sie müssen sich herausstellen lassen, ohne daß sie zu abstrakten und formalen Kategorien umgedeutet werden. Phänomene wie Herrschaft und Knechtschaft, Bewährung und Vergegenständlichung, Arbeit und Bildung, Selbst-transzendenz und Revolution sind solche Grundweisen des Seins des geschichtlichen Lebens«26.

Wie sind nun nach Marcuse solche Grundweisen des Seins des geschichtlichen Lebens zu verstehen? Mit Heidegger könne man, wie er fortfährt, sagen, dass solche Grundstrukturen des geschichtlichen Lebens dessen Grundmöglichkeiten seien:

»Die Strukturen des Daseins, die Zeitlichkeit selbst, sind nicht so etwas wie ein ständig verfügbares Gerüst für ein mögliches Vorhandenes, sondern sie sind ihrem eigensten Sinn nach Möglichkeiten des Daseins zu sein, und nur das.«27

Die Phänomenologie als Fundamentalontologie ist also auch für Marcuse der dem Sein des geschichtlichen Lebens geeignete Zugang und daher in der Lage, alle möglichen Gebilde und Phänomene des geschichtlichen Lebens zu umfassen. Im Unterschied zur beschränkenden Auffassung der Begriffe bei Freyer (und Koselleck) könne sie eine vollständige Herausarbeitung der Grundkategorien oder -begriffe des geschichtlichen Lebens liefern, die alle Phänomene, sogar diejenigen, für die es noch keinen geschichtlichen Präzedenzfall gebe, umfassen. Nach Marcuse gibt sie die eigentliche philosophische Grundlegung für die Wissenschaften und Theorien ab, die sich mit der geschichtlichen Wirklichkeit beschäftigen. Im Unterschied zu Heidegger hat die Fundamentalontologie bei Marcuse nun aber nicht etwa das individuelle Dasein als Gegenstandsgebiet, sondern das gesellschaftliche Dasein, die gegenwärtige Gesellschaft in ihrer gesamten sozial-politischen Problematik. Die Fundamentalontologie wird damit bei Marcuse zu einer Sozialontologie, die das soziale Dasein zum Gegenstand nimmt:

»Dieses Dasein ist nun eben als geschichtliches ein primär veränderndes und zu veränderndes. Die Geschichtlichkeit als seine seinsmäßige Bewegtheit geschieht nicht mit ihm oder an ihm, sondern es selbst ist dieses Geschehen und ist nur dieses Geschehen. Das Dasein findet jeweils seine Situation vor, es muß sie auf sich nehmen, – aber nur um sie zu verändern. Denn diese Situation ist selbst ›Geschehen‹, sie trägt in ihr selbst die Möglichkeit und Notwendigkeit ihrer Veränderung. Die Veränderung ist die eigentliche Kategorie der Geschichtlichkeit des Daseins.28

Für Marcuse ist es also das Ziel der Phänomenologie des sozialen Daseins zu zeigen, dass die Veränderung, die Umwälzung, die Revolution eine Grundmöglichkeit der gegenwärtigen Gesellschaft ist. Diese Sozialontologie Marcuses will auf ontologischer Ebene belegen, dass die Veränderung der bestehenden Gesellschaft ihr als eine ihrer Grundmöglichkeiten offen steht. Marcuses Anspruch ist es, die Veränderung als ontologische Möglichkeit der gegenwärtigen Gesellschaft aufzuzeigen. Auf der politischen Ebene hat dies Folgen gerade für die sozialen Kollektive, die auf eine tiefgreifende Veränderung der Gesellschaft hin zu einem gerechteren Modell drängen. Der Nachweis dieser ontologischen Möglichkeit würde ihre Aneignung als reale und politische Aussichten für die kollektive Praxis erlauben.

Auch Marcuses Beschäftigung mit Hegels Lebensbegriff und dessen Idee von Geschichtlichkeit hat politisch-ontologischen Charakter. In seiner Habilitationsschrift will er zeigen, dass Hegels Idee von Geschichtlichkeit auf diesem Lebensbegriff gründet. Der Begriff wurde von Hegel mit Blick auf die Seinsweise des menschlichen Lebens konzipiert, dessen Geschehen aus dem »Bei-sich-selbst-bleiben im Anderssein«, das heißt aus der »Sichselbstgleichheit« in allen seinen Äußerungen, besteht.29 Hier glaubt Marcuse bei Hegel die Bestimmung eines Geschehens als Grundcharakter der Geschichtlichkeit gefunden zu haben. Diese innere Beziehung zwischen Leben und Geschichtlichkeit zeige die Verbindung zwischen Hegels und Diltheys Denken, und daher auch zwischen der hegelianisch-marxistischen und der hermeneutischen Tradition.30 Außerdem findet Marcuse bei Hegel (wie es, so glaubt er, auch bei Dilthey der Fall sei) einen Begriff von Geschichtlichkeit vor, der sich nicht auf die Ebene des Individuums beschränkt (wie bei Heidegger), sondern auf die Ebene des Kollektiven verweist: eine Ebene, die von der kollektiven Praxis der Erzeugung von Wirklichkeit (das »Thun Aller und Jeder«) bestimmt ist.31 Marcuse ist in diesem Moment bereits der Überzeugung, dass eine kritische Theorie der Gesellschaft ihre philosophische Grundlage nur durch eine Theorie der Geschichtlichkeit finden kann, die jede Form von Objektivismus in der Erkenntnis der Wirklichkeit und in der Wirklichkeit selbst auflöst.

IV. Zwischen Ontologie und kritischer Theorie

Was Marcuse damit gegen Freyer – und meines Erachtens immanent auch gegen Koselleck – vorbringt, wäre nur dann die Lösung für das bei ihm diagnostizierte Problem, wenn sein Vorschlag einer Fundamentalontologie des geschichtlichen Lebens überhaupt realisierbar wäre. Erlaubt nun Marcuses philosophische Position aus den Jahren 1928-1931 einen solchen Vorschlag für eine Ontologie der Geschichtlichkeit? Kann er von seinem philosophischen Ausgangspunkt aus eine phänomenologische Ontologie herausarbeiten?32

Ein Leitfaden von Marcuses frühen Schriften ist die Idee, dass die theoretische und philosophische Arbeit konkret werden müsse, um das Dasein in seiner bestimmten Not und Bedrängnis zu erreichen – so die Hauptthese des Aufsatzes Über konkrete Philosophie von 1929. Dazu müsse sich die Philosophie ihre eigene Geschichtlichkeit – und zwar ihre konkrete Geschichtlichkeit – völlig aneignen. Diese Tendenz wird bereits bei Marcuses Verarbeitung der Phänomenologie in seinem Aufsatz Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus deutlich. Dort kann man lesen:

»Phänomenologie bedeutet: Frage und Zugang von den Gegenständen selbst leiten lassen, die Gegenstände selbst voll in den Blick bringen. Die Gegenstände selbst aber stehen beim Zugriff zunächst in der Geschichtlichkeit. Diese Sphäre der Geschichtlichkeit beginnt, als konkret geschichtliche Situation, schon beim Ansatz der den Gegenstand suchenden Frage: sie umspannt die einmalige Person des Fragenden, die Richtung seiner Frage und die Weise des ersten Erscheinens des Gegenstandes.«33

Das betrifft auch die Dialektik, die damit ebenfalls konkret werden müsse: »Insoweit konkrete Dialektik die Vielspältigkeit, Gewordenheit und Grenze geschichtlicher Daseinsweisen und -formen aufweist, bedingt sie ein jeweiliges Stellungnehmen zu diesen Daseinsweisen und -formen und ihrer Wirklichkeit.«34

Nach Marcuse muss eine solche »dialektische Stellungnahme« »eine kritische sein«, denn »konkrete Dialektik als objektive, standpunktlose Wissenschaft ist ein Widersinn.«35 Ihm zufolge ist es eine wichtige Aufgabe der Philosophie, mit der Abstraktion und formalen Allgemeinheit der traditionellen theoretischen Philosophie zu brechen. Das Ziel der Philosophie sei aber vielmehr das Dasein in seiner geschichtlichen Situation, in seiner Not und seinen Bedürfnissen. Der Antrieb der Philosophie sei damit die Sorge um den Menschen, deshalb müsse sie die Praxis einfordern, die die Not des Daseins umkehren könne: Für Marcuse wäre das eine radikale Tat, die den zeitgenössischen Kapitalismus der Krise – einer Krise, die eine Krise der ganzen Existenz verursache – überwinden müsse.36

Wenn dies so ist, wenn also die Philosophie nach Marcuse nicht mehr bloß theoretisch bleiben darf, wenn sie sich ihrer geschichtlichen Situation mit ihren politischen Aufgaben stellen, wenn sie konkret und geschichtlich werden muss, wie kann so eine Philosophie dann eine ontologische Analyse des Seins des menschlichen geschichtlichen Lebens durchführen? Wie kann eine konkrete Philosophie die ontologischen Grundstrukturen oder Grundmöglichkeiten des geschichtlichen Lebens herausarbeiten? Wie kann sie etwas, das selbst nicht geschichtlich ist, aber schon Bedingungsmöglichkeit des geschichtlichen Geschehens enthält, herausstellen?

In der Antwort auf diese Fragen finden wir die wichtigste Spannung in Marcuses Frühwerk. Auf einer Seite gibt es bei Marcuse die Forderung nach Bewusstwerdung der eigenen konkreten Geschichtlichkeit des Denkens. Diese beinhaltet zugleich das Bewusstsein der notwendigen Stellungnahme der Philosophie in einer von sozio-politischen Konflikten bestimmten geschichtlichen Situation. Auf der anderen Seite bleibt Marcuse dem Anspruch auf eine ontologische Analyse des geschichtlichen Lebens treu, d. h. der Geschichtlichkeit überhaupt, als Analyse jenseits des Antagonismus zwischen entgegengesetzten ideologischen Standpunkten.37 Wenn diese Forderung auf eine Art von kritischer Theorie im Sinne von Max Horkheimers Aufsätzen der 1930er Jahre verweist,38 bleibt dieser Anspruch zugleich aber doch auch ganz in der Nähe von Heideggers Fundamentalontologie.39 Diese zentrale Spannung in Marcuses Frühwerk wird auch durch die Veröffentlichung von Marx’ Pariser Manuskripten von 1844 und Marcuses enthusiastischen Stellungnahmen dazu nicht gebrochen. Die zwei Aufsätze, die Marcuse 1932 und 1933 dazu veröffentlicht – Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus und Über die philosophischen Grundlagen des wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitsbegriff40 – zeigen, dass er vielmehr umgekehrt Marx’ Manuskripte als Bestätigung für die Richtigkeit seines Versuchs aufnahm, mit Hilfe von Sein und Zeit eine materialistische bzw. dialektische Phänomenologie der Geschichtlichkeit zu unternehmen. Tatsächlich finden wir in diesen Aufsätzen eine Auffassung der Arbeit im Sinne der von Marcuse 1928 vorgeschlagenen dialektischen Phänomenologie als ontologisch bzw. anthropologisch – als Praxis der Selbstverwirklichung des Menschen (und deswegen als eigentliches Geschehen der menschlichen Geschichtlichkeit) und zugleich eine Betrachtung der geschichtlich konkreten Realisierungen der Arbeit in den verschieden sozio-ökonomischen Ordnungen.

Die Zäsur in Marcuses philosophischer Tätigkeit ist dann auf äußere, nicht auf theoretische Faktoren zurückzuführen: Im Frühjahr 1933 verließ Marcuse Deutschland in Richtung Schweiz als neuer Mitarbeiter des von Horkheimer geleiteten Instituts für Sozialforschung nach dem Scheitern seines Versuchs, sich in Freiburg bei Heidegger zu habilitieren.41 In diesem neuen Kontext bestimmte Marcuse nun in enger Zusammenarbeit mit Horkheimer sein theoretisches Projekt in Richtung einer kritischen Theorie der Gesellschaft neu. Horkheimer war damals kritisch gegenüber der Ontologie und der philosophischen Anthropologie eingestellt, und in dieser neuen Richtung gab es offiziell keinen Platz mehr für ontologische phänomenologische Ansprüche.42 Auch vollzog sich im Jahr 1933 ein weiteres Ereignis, das Folgen für die theoretische Entwicklung Marcuses hatte: Im März 1933 hatte Heidegger in Einklang mit dem neuen Nazi-Regime das Rektorat der Freiburger Universität aufgenommen. Für Marcuse war dies ein persönlicher und ein philosophischer Schock zugleich, der seine Bewertung Heideggers für immer ändern sollte.43 Im Jahr 1963 schrieb er in diesem Sinne in einem Brief an den tschechischen Philosophen Karel Kosík: »Heideggers positive Haltung dem Nazismus gegenüber ist meiner Meinung nach nur der Ausdruck des zutiefst anti-humanen, geist- und lebensfeindlichen, geschichtlich reaktionären Grundzugs seiner Philosophie.«44 Diese beiden Faktoren haben dann für Marcuse den Weg frei gemacht für eine radikale Historisierung der Philosophie, für ein radikales Konkret-Werden der Philosophie, die in Richtung einer kritischen Theorie der Gesellschaft führte und die für eine phänomenologische Analyse der ontologischen Grundstrukturen der Geschichtlichkeit keinen Raum mehr ließ.

Das heißt, zusammengefasst, dass Marcuse seine positive Haltung gegenüber der fundamentalen Ontologie nicht aufgrund einer theoretischen Selbstkritik aufgegeben hat. Es waren biographische und geschichtliche Ereignisse, die ihn motiviert haben, eine Änderung in seiner theoretischen Arbeit vorzunehmen. Nach 1933 war Marcuse letztlich davon überzeugt, dass eine kritische theoretische Analyse der bestehenden Gesellschaft keine Ontologie des geschichtlichen Daseins braucht und der Anspruch auf eine ontologische Geschichtlichkeit die wirkliche Geschichte verfehlt. Aber die Voraussetzungen dieser »Kehre« waren bei Marcuse, wie gesagt, keine rein theoretischen Gründe; vielmehr handelte es sich vor allem um die große Heidegger-Entäuschung und den Anfang seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter unter der Leitung von Horkheimer. Die Frage hier ist nicht, ob in seinem späteren Werk heideggerianische Motive zu finden sind – meiner Meinung nach sind solche Motive noch ziemlich oft zu finden. Entscheidend ist, dass bei Marcuse die heideggerianische Idee einer fundamentalen Ontologie des geschichtlichen Daseins später keine Rolle mehr spielt. In diesem Sinne können wir 1933 für Marcuses Denken als eine echte philosophische Zäsur ansehen. Die philosophische Spannung zwischen 1928 und 1933 – der Anspruch auf eine Synthese von Ontologie und Historischem Materialismus – verschwindet, weil eines der Momente – das Projekt einer Ontologie des geschichtlichen Daseins – verabschiedet wird.

Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 34/35

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