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ABHANDLUNGEN

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Hermann Schweppenhäuser

Schein, Bild, Ausdruck

Aspekte der Adorno’schen Theorie der Kunst und des Kunstwerks*

Für Sabine zum 27. 9. 2012

Tilegnet Sabine og Jens, Jakob og Marianne, Johannes og Maja og de danske venner til erindring om vore samtaler om kunst og kunstnerne i vors forfaldsepoke.

Kunst hegt der Betrieb als Naturschutzpark von Irrationalität ein, aus dem der Gedanke draußen zu halten sei. Dabei verbündet er sich mit der […] zur Selbstverständlichkeit erniedrigten Vorstellung, Kunst müsse schlechthin anschaulich sein, während sie doch allenthalben am Begriff teilhat. Primitiv verwechselt wird der […] Vorrang von Anschauung in der Kunst mit der Anweisung, es dürfe über sie nicht gedacht werden.

Alle ästhetischen Fragen terminieren in solchen des Wahrheitsgehalts der Kunstwerke: ist das, was ein Werk […] objektiv an Geist in sich trägt, wahr? Eben das ist dem Empirismus als Aberglaube anathema […] es sei denn, daß er der Kunst alle Erkenntnisse als Dichtung überschreibt, die seinen Spielregeln nicht zusagen.

Adorno

Vom Begriff soviel Eignung zur anschaulichen repraesentatio des Besonderen zu beanspruchen, wie doch nur die sinnliche Erkenntnis (cognitio sensitiva) sie gewährt – und andererseits der aisthesis soviel Eignung, begriffliche Objektivität und Verbindlichkeit zu vindizieren, wie nur die noesis und die Logik (cognitio intellectiva) sie verbürgen: Das ist weder dasselbe, wie den Begriff und Noetisches durch aisthesis, sensus und mimesis zu ersetzen – noch dasselbe, wie das Ästhetische durch das Theoretische zu verdrängen und jenem die höhere Wertigkeit, den eigentlichen Wahrheits- und Erkenntniswert zuzusprechen: was den Hauptvorwurf der antiintellektualistischen Rezeption der Adorno’schen Kunsttheorie bei seinen Kritikern ausmacht. Der zureichende Grund dessen liegt in der unzureichenden Vergegenwärtigung – oder schlicht im Zurechtstilisieren – der dialektisch hochdifferentiellen Begriffsstruktur der theoretischen Aussagen Adornos, die der Affinität mit dem Konkret-Realen, das sie treffen sollen und dem sie begrifflich sich anmessen, den Ausdruck verleihen. Dass sie das tun: dass das Ausdrucksmoment in der begrifflichen Darstellung nicht ausfällt, sondern umgekehrt den Begriffen in der cognitiven repaesentatio zugute kommt, das macht diese repraesentatio noch lange nicht zur – abgewerteten – künstlerischen. Zu einer solchen pflegt sie scientifische Betriebsblindheit herabzustufen; Leute von mangelnder Darstellungs- und Ausdruckskraft, die aus der Vermauerung in die stereotype Wissenschaftsidiomatik selber ausbrechen möchten und dem, dem es gelingt, Ausscheren aus dem Regelspiel, Gestik, ›Talentiertheit‹ vorhalten. Aber auch gegen Vorwürfe wie den – seit frühpositivistischen Tagen geläufigen – des dialektischen Mystizismus1 ist an die kritische Strenge, die cognitive Relevanz, die mitnichten bloß mimetischästhetisch vollziehbaren Einsichten in den Charakter der Kunst – ist, mit einem Wort, an den aufgeklärten Kunstbegriff der Adorno’schen Philosophie zu erinnern.

Als diesen kennzeichnend erweist sich die Grundeinsicht in den durchgängig dialektisch antinomischen, amphibolischen Charakter der Gebilde der Kunst. Keine »Invariante in der Ästhetik«, die nicht »zu ihrer Dialektik treibt«2. Das gilt von Natur und Wesen der kulturellen Kunst-Instanz selber. Kunst ist im Sinn der klassischen Topologie poiesis und von den beiden andern »wissenschaftlichen« Verhaltensarten, von theoria und von praxis der Art nach distinkt:3 von der Theorie – die Seiendes betrachtet und erkennt – und von der Praxis – die in der Stellung dazu das richtige Leben zu gewinnen sucht – dadurch, dass sie Seiendes hervorbringt. Sie ist das Vermögen der Artefakte, die zu den Naturaten – den erkennend durchdrungenen und den für das Lebensbedürfnis eingerichteten – hinzutreten. Eben das artefizielle Wesen, das Hervorgebrachtsein, die nach Plan und technisch realisierte Produktion, erlischt im ontologischen, spätestens wenn die Poiesis, die erst alles Handwerk umfasst, spezialisiert ist als Poesie und historisch – nämlich in der Neuzeit – nur noch für die beaux arts steht. Denn als schöne Kunst lässt Poiesis ihr Hervorgebrachtes nicht durch den Gebrauchswert geprägt sein, den man ihm – den »Kultwert« Benjamins – doch ansieht schon an den Skulpturen in den Tempeln und den Tempeln selbst, ja an den magischen und rituellen Kultbildern; und der das Hervorgebrachte zuinnerst formiert. Sondern das Produkt der beaux arts spiegelt Sein vor, das seinen Zweck, der seine ureigne raison d’être ausmacht, von sich aus und in sich selbst hat: Sein, das sein Produziertsein verdeckt.

Adorno nennt diesen Grundcharakter der künstlerischen Hervorbringungen »die ästhetische Paradoxie schlechthin«4. Ein Kunstwerk ist seiendes Scheingebilde, in genau der Bestimmtheit dieser drei begrifflichen Elemente. Es ist Gebilde, ein subjektiv Produziertes, Gebildetes; nachdem es einmal gemacht ist, Ontisches, wie ein Naturat einen Platz unter den Seienden einnehmend; und es ist so gemacht, das es ein Seiendes, objektiv dinglich scheint. Das gilt für es als Existierendes wie für das, was dies Existierende »ist«, bedeutet, was es durch seine Gestalt repräsentiert, ausdrückt, gleicherweise – ähnlich dem Tierbild schon paläolithischer Zeit, welches das Tier nicht sowohl abbildet sondern ist, und dessen Tractament im Jagd- oder Opferritual in vollständiger Analogie das Tractament der Jagd- oder der Opferhandlung selber vertritt. Der Gehalt – ousia, die reale Substanzialität – des Gebildes müsste von einem Schein verschieden sein; »aber kein Werk hat den Gehalt anders als durch den Schein«5. Das Gedichtete des Poems, Gemalte des Bildnisses, Komponierte der Musik (das Photographierte der Photographie, der Kinematographie: das Gefilmte des Films – wenn denn Photographie und Kinematographie Künste sind, der Film wirklich eine Kunst ist oder Kunst sein kann) – ein Objektives, die Substanz des Gebildes; das was nicht subjektiv sondern für das Subjekt, Formiertes, Begriffenes ist: Es ist gleichwohl allein durch das Dichten, Malen, Komponieren, das Zeichnen, Photographieren, Kinematographieren, das Tun des künstlerischen Subjekts. Wie aber »kann Machen ein nicht Gemachtes erscheinen lassen?« Denn der Künstler – etwa Monet – macht ja nicht den »Bec du Hoc«, den »Portail de la cathédrale« und den »temps gris«, in dem er daliegt; er macht, dass er hervortritt, nicht ihn, der ist und in diesem seinen Sein mehr und anderes ist, als an Ort und Stelle in den stumpfen oder den äugenden Blicken, die dies Andere vielleicht erst dann gewahren, wenn der Künstler es aufscheinen ließ. So das berühmte Klee’sche Diktum: »Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.«6 – Aber »wie kann, was dem eigenen Begriff nach nicht wahr« – Scheinhaftes, Schein – »ist, doch wahr sein«7?

Die Frage fasst den paradoxalen Charakter von Kunst präzis: Das künstlerische Gebilde ist unwahr, lügenhaft, sofern es ein Sein bloß scheinen lässt, und dasselbe Gebilde kann doch zugleich wahr sein, sofern was erscheint, dem Gehalt nach den index veri an sich trägt. Die Figur des Ineins von Nichtwahr und Wahr, identitätslogisch ein Absurdum, hat dialektische Logik – gar nicht unlogisch – als die eines Modus der sich vollbringenden Wahrheit gefasst: der Wahrheit in ihrer Unwahrheit, in der noch nicht erlangten Angemessenheit an sich selbst.

Eine Gestalt der Wahrheit in ihrer Unwahrheit heißt in der Marx’schen Theorie »Ideologie«: ein notwendig falscher geistiger Schein.8 Seine Notwendigkeit – das So-und-nicht-anders des Begriffs und Bewusstseins vom Sein unter gegebenen, noch unenthüllten Bedingungen der Bezogenheit beider aufeinander – weist auf das Wahrheitsmoment der Ideologie; die Verhüllung, der Schein auf das Lügenhafte, den Trug. So ist an der religiösen Ideologie das Wahrheitsmoment die Idee des Integren, Leid- und Mangellosen, in der sich der menschliche Protest gegen Elend, Mangel und Heillosigkeit der irdischen Verhältnisse, deren Unerträglichkeit; in der sich die Kritik daran formuliert, und das heißt: das Elend selbst, der Schmerz sich invers ausdrückt9. Schmerz sagt an sich, durch sich selbst: ich will nicht sein, »Weh spricht: Vergeh«10. »Bedingung aller Wahrheit« ist »das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen«11: sein Ausdruck, der die Wahrheit negativ, als ihre Vermissung artikuliert und sie gewissermaßen »herbeizieht«, wie Adorno im Sinn des strengen Ideologiebegriffs der Marx’schen Theorie sagt12. Der Trug an der religiösen Ideologie ist die Hypostase jener Idee als seienden Göttlichen, Vollkommenen, das über dem Elend wirke und über es hinweghelfe, von dem es aber nur in der Gestalt der praktisch hergestellten integritas und Vollkommenheit des Seins kurierte; in Form des in der geheilten Menschheit realisierten und bewiesenen Göttlichen. – Die religiöse Ideologie ist Wahrheit in der eigenen Unwahrheit, zu der sie solange verhalten ist, wie sie in der Weise vorstellender Projektion statt seiender Herstellung ist.

Analog verhält es sich mit dem »Fetischcharakter der Ware«, die ihr eigner zäher dinglicher Schleier ist; dem Charakter zweiter Natürlichkeit, mit der er die gesellschaftlichen Verhältnisse der Subjekte und ihrer produktiven Kräfte verhüllt, die nicht »als das was sie sind« erscheinen, sondern »als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen«13: in der verkehrten Perspektive autarken dinglichen Seins, eines Seins mit sachlich zwingender Gewalt über die, die sie entbanden. Der fetischistische Schein nimmt hier die seiende Gewalt eines Bannes an, der die aus seinem Umkreis nicht entweichen lässt, die ihn ohne Bewusstsein verhängten. Ansich-Bestimmtheit, Selbstzwecksein von Subjekten, Kreaturen und Dingen sind von der Wertform absorbiert. Das Sein des industriellen Universums und das Dasein in ihm ist die unbezweifelbare wirkliche Wahrheit und zugleich deren empörende Unwahrheit, die Für-anderes-Sein und An-sich-Sein unversöhnt lässt und mit sich selbst in Unangemessenheit bleibt. Versöhnung erheischte die Lösung des Banns, die Entmagisierung des Fetischcharakters: eine bei der tiefwirkenden Gewalt der von ihnen geschlagenen Subjekte anscheinend vergebliche Anstrengung. Was ist schon die von Göttern entzauberte Welt – mit der sie sich abfanden – gegen eine vom Tausch- und vom Warenfetisch entzauberte, die sie, geprägt davon wie sie sind, nicht überstünden.

Am Fetischwesen haben die Kunstwerke keinen geringeren Anteil als die religiösen und als alle nicht selbstkritisch reflektierten, selbstaufgeklärten philosophisch-theoretischen Bildungen; keinen geringeren als die Hervorbringungen von techne und poiesis in der Gestalt der Produktivkraft auf entwickeltstem hochindustriellen Niveau: ihrer Produkte par excellence, der physischen und geistigen Waren, sei’s in der Getrenntheit, sei’s in der physisch-geistigen Komplexion. Die Kunst ist ein »Komplize der Ideologie«, heißt es unmissverständlich bei Adorno14 – was an der von Politik und Wirtschaft als eines der effektivsten Propagandainstrumente genutzten Filmkunst besonders drastisch zum Ausdruck kommt.

Die Kunstwerke sind es nicht bloß durch den »ästhetischen Schein« – sie sind es durch alle die Charaktere, die eben dieser Schein zugleich auch verhüllt; nämlich dadurch, dass sie Produkte aus Stoff und Form sind, modellhaft entworfen, geplant, realisiert auf dem erreichbaren Niveau technisch-künstlerischer Produktivkraft und Reproduktionskraft15, darin wie immer modifizierte Mimesen gesellschaftlicher Produktion, hervorgebracht nach distinkten, oft genug begriffslosen und doch zwingenden Regeln und Schematen. In diesen Charakteren gesellschaftlicher Produktion und instrumenteller Rationalität sind und schaffen die Werke »die Welt noch einmal«16: bezwingend leuchtender Fetischschein mit der hypnotischen Gewalt, das Sein selbst vorzuspiegeln. Zugleich durchbrechen sie die Hülle und deuten auf die Wahrheit, die das vorgespiegelte Sein gar nicht und noch nicht ist. Das tun sie gerade mit Mitteln und Konstituentien der nichtästhetischen Hervorbringung: der, die nach kommunikativen und instrumentellen Zwecken erfolgt, solchen, die dem Kommunizierten und Instrumentierten äußerlich sind. »Die Technik, welche ihre Ideologie verketzert, inhäriert der Kunst«17, sie ist »Konstituens von Kunst«18. Die Werke treiben den instrumentellen Charakter der Bearbeitung, der Stilisation dessen, was der Instrumentation widerstrebt, aufs deutlichste heraus, lassen ihn plastisch werden; die ästhetische Mimesis gesellschaftlicher Arbeit nach Kriterien technischer Rationalität, je akribischer und hingegebener betrieben, schlägt desto sicherer um in die Durchschauung und Erkenntnis ihrer wie der Natur des Bearbeiteten – so, wie der kontemplative Begriff die Anschauung des in ihm Begriffenen gewährt. »Der lange, kontemplative Blick, dem Menschen und Dinge erst sich entfalten« – es ist auch der künstlerische: die »geduldige Kontemplation der Kunstwerke«19 –, »ist immer der, in dem der Drang zum Objekt gebrochen, reflektiert ist. Gewaltlose Betrachtung, von der alles Glück der Wahrheit kommt, ist gebunden daran, daß der Betrachtende nicht das Objekt sich einverleibt«20, es also auch durch das Instrumentarium solcher Begrifflichkeit nicht alteriert, die als abstrakt-identifikatorische, »abschneidende und zurichtende« die eigentümliche Identitität des Identifizierten erstickt oder beschädigt. Durchschaut der kontemplative Blick das begriffliche Instrumentarium, das Tun der abstraktiv komparativen Subsumtion, zuletzt den Intellekt im Dienste des Willens, so treibt die künstlerische Produktion, die ästhetische Rationalität durch ihre alles einsetzende Hervorbringungskraft zur Enthüllung ihres eigenen Wesens, sowie dessen, das die Hervorbringungskraft herbeinötigt; die Kunst ist eine Art Kommentar zur erlösungsbedürftigen Welt, ohne den sie noch unverständlicher – und empörender – wäre. Indem die künstlerische Produktivität zur Selbstanschauung gelangt, wird sie zum Gewahren dessen, was entfesselte Produktion am Bearbeiteten, an innerer und äußerer Natur anrichtet. Das was das bearbeitete Seiende von sich aus will, wird negativ absehbar an der Verkümmerung und Schändung, die – dem Subjekt und der Natur entfremdende – Arbeit verschuldet. Eine Vorstellung von dem scheint auf, was sein könnte, an dem, was ist, und was darin das Mögliche negiert und einkapselt.

»Wahr an der Kunst« ist »ein Nichtseiendes. Es geht ihr auf an jenem Anderen, für das die identitätssetzende Vernunft, die es zu Material reduzierte, das Wort Natur hat«21. »Aufgehen« ist soviel wie Erscheinen. Es zeigt sich ein Element des Scheins, das besser begreifen lässt, warum künstlerische Gebilde scheinhaft und doch wahrhaft sein können, das Element der manifestatio. Das Wesen muß sich offenbaren, der Begriff in der Realität zur Erscheinung kommen, lehrte Hegel22, wie defizient auch die Wahrheit als scheinende sich präsentieren mag. »Sinnliches Scheinen der Idee«23, des Wahren ist nicht voll-adäquate – nach Hegel absolut-geistige – repraesentatio veri, aber eben in dem Mangel nicht Lüge, sondern bloß angeschautes, gewissermaßen fassadenhaft aufgefasstes Wahres. Dass das bloß angeschaute Wahre dennoch eine eigene perfectio hat, wie Baumgarten einschärfte,24 kommt bei Hegel darin zum Ausdruck, dass der menschliche Leib die adäquate – nicht symbolische – repraesentatio, der vollkommene materielle Ausdruck des Geistes, der Seele ist.25 Sofern der Geist sich materialisiert, ist der Leib die randlose Koinzidenz beider. Daher das skulpturale Paradigma der klassischen Kunst, in der Kunst selber kulminiert: weil ihr eigenes Darstellungs-Maximum erreicht war26 – die nicht mehr symbolische, die zwischen Geist und Stoff keine Lücke lassende Darstellung des Geistes als Leib, also das völlige Sinnlich-Sein der Idee in den anthropomorphen Götterskulpturen.

Die Frage nach der künstlerischen Technik – einem der Grundelemente ästhetischer Produktivität – und damit nach einem der ästhetischen Grundwerte: dem »Kultwert« (to kalon, Schönheit, pulchritudo) zugleich als nach dem Verdeckenden und Aufdeckenden erwies sich als die nach dem obersten kriteriellen Richtpunkt selber in der Frage nach dem klassischen obersten ästhetischen Wert, die in der Hegel’schen Ästhetik beantwortet wird. Der »Leib« in seiner sinnlichen Materialität erweist sich der konstitutionellen Analyse als die Bestimmung vollkommener und kongruenter Entsprechung mit dem andern fundamentalen (polaren) Konstitutivum: dem »Geist«, der »Idee« und daher in der urtypischen künstlerischen Schöpfungsart und Disziplin der Skulptur: das »Ideal«, der vorschwebende Zweck artistisch hervorbringender Produktivität – techne, Technik. Seine Realisierung zeigt sich in der Herstellung der Götterstatuen und Plastiken als der Darstellung der innersten Verknüpfung von Geist und Materie in den schönen und edlen Gestalten, den Leibern der Götter und Göttinnen, der Epheben, Heroen und Athleten. Sie begründen den höchsten ästhetischen Wert, das Maximum in der Entwicklung der Kunst, ihrer schon in der Antike erreichten Vollendung, und im Zeitalter des Fortlebens der Antike, der Renaissance, und dem des Klassizismus, und wie ein Blick in die Filmgeschichte lehrt, noch in der Kunstauffassung der Moderne: des »Zeitalters der technischen Produktion und Reproduktion des Kunstwerks«27: Es zeigt sich hier in der besonderen Art der Realisierung des ästhetischen Wertes in der Gestalt des »Kultwertes« – obwohl gerade in der wissenschaftlich-technischen Ära den auratischen Phänomenen und Kultwerten der Todfeind erwachsen ist und über die Strahlkraft des Ideellen, Göttlichen, Numinosen – das »Strahlen des Fernen, so nah immer es sein oder scheinen mag«28 das aufgeklärte Verdikt spricht.

Ihren Kultwert (einen historisch unkenntlich gewordenen Kultwert) garantiert die technische Verwendung der Perspektivik in ihrer einfachen Modifikation, mit dem Effekt, die »Schönheit« (nämlich in der Gestalt der »photographischen Nahaufnahmen«) in der langen Folge ungezählter hochdifferenzierter physiognomisch »dokumentierender« – also um die Wiedergabe authentisch historischer Realität bemühter – filmgestalterischer Provenienz zu gewinnen – und das heißt: im Konflikt mit den technischen dokumentarischen Verfahren (nämlich der »dokumentierten« ›echten, wahren Wirklichkeit‹), denen sie abgetrotzt werden. Dies führen die »historischen Filme« des Dreyer’schen Genres zwingend vor Augen: Die historisch dokumentierende Abfolge von authentischen Porträtaufnahmen (etwa der Darstellerin der Jeanne d’Arc) erweist sich – entgegen ihrem Eindruck authentischer diskontinuierlicher Physiognomien und Körpergesten – als eine einzige Zusammenfassung der Bilder unter der »abgehobenen« metaphysisch-ästhetischen Form des – mit den ›eigentlichen‹ Künstlern, den Malern und Porträtisten scharf konkurrierenden Künstlern der klassischen Photographie durch die fortgeschritteneren Mittel graphischer Technik gewonnenen – Ausdrucks des »ästhetisch Schönen«, der Darstellung des Ideellen, der »Schönheit« im klassisch platonischen Sinn.29

In der Terminologie der Filmproduktion heißt die »auratische Realität« die »Kamera-Realität«30. – Das interkonstitutive Sich-aneinander-Abarbeiten der »dokumentaristischen« und »ästhetisch-fiktionalistischen« filmischen Gestaltungsverfahren ist nach Kracauer das vielleicht zentrale film-ästhetische Produktions-Element noch in der Phase avantgardistisch und experimentell, auch surrealistisch gerichteter Produktion des historisch-politischen Films. In der zeitgenössischen Folge ist diese dokumentaristisch-fiktionalistische Produktionsgestalt zerfallen und abgeglitten in die wohlkalkuliert und routiniert betriebene Belieferung des »Erzählkinos«, des neo-mythologischen »Kultfilm-Kults« und des Genres »sensationslüsterner photographischer und kinematographischer Berichterstattung«31.

Da das bloß Anschauliche dennoch Wahres, die Wahrheit in ästhetischer Gestalt ist, erweist sich der ästhetische Schein an sich selbst auch als scheinlos, als bar des Lügenscheins. So kann es heißen: »Wahrheit hat Kunst als Schein des Scheinlosen«32 – Schein als Aufscheinen des Wahren. Kunstwerke, fährt Adorno an anderer Stelle fort, »haben soviel an objektiver Wahrheit, wie das Bedürftige seine Ergänzung und Änderung herbeizieht […] an sich will, was ist, das Andere.« Das Kunstwerk ist nichts anderes als »die Sprache solchen Willens […] Die Elemente jenes Anderen sind in der Realität« schon »versammelt, sie müßten nur, um ein Geringes versetzt, in neue Konstellation treten, um« – ähnlich wie nach der messianischen Veränderung der Welt – »ihre rechte Stelle zu finden. Weniger als daß sie imitierten, machen die Kunstwerke der Realität diese Versetzung vor.«33 Sie imitieren sie auch, müssen es bis zu dem Grade, wie durch die imitatio das Wesen oder Unwesen der Realität vor Augen kommt.

Ästhetisch ausschlaggebend ist der Grad der imitatio: in einem extensiven – gestalt-repetitiven –, wie in einem intensiven Sinn; dem dynamischer Hervorbringung. Je mehr die Mimesis kopierend ist, desto mehr verfehlt sie, wie schon Platon geltend machte,34 die ousia hinter der Fassade und verwechselt die Fassade mit der substantiellen Realität; das ist das Urteil über die photographischen und kinematographischen Spielarten des Realismus. Je gestischer, bewegter die Mimesis jedoch, desto mehr dringt sie ins Wirkliche ein – dies aber, »um in der Berührung mit ihm zurückzuzucken.« Die Figuren, Lettern, Züge, die das Kunstwerk bilden und aus denen es gebildet ist, »sind die Male dieser Bewegung«35, der reproduzierte Niederschlag des Realen im Werk und als es. Die gestische Mimesis vollbringt den Umschlag des Imitierenden im Imitat in das aktivische Hervorlocken des Anderen am Imitat. Von einem gewissen Punkt an machen die Werke nicht mehr nach sondern vor: das was als zu Vollbringendes am Nachgeahmten und durchs Nachahmen aufgeht. Das hat von einer bestimmten Stelle in der Geschichte der Kunst an die Folge, dass schließlich »die Nachahmungslehre« – wonach hé techné mimeitai tén physin36, oder omnis ars naturae imitatio est37 – »umzukehren wäre«; »in einem sublimierten Sinn soll die Realität die Kunstwerke nachahmen«38. Dass es die Kunst gibt, deutet also gerade darauf, dass »etwas« erscheinen kann, »was es nicht gibt«39: auf »ein nicht gegenwärtiges Wesen, das der Möglichkeit«, das ohne die Kunst keine Chance hätte, hervorzutreten. Dem aber bleibt, setzt Adorno hinzu, »Schein gesellt«40: der scheinlose Schein, der auch der Wahrschein heißen könnte.

Das Element des Scheins bleibt der Kunst essentiell – kein Werk, das nicht durch seinen Gehalt wäre, was es scheint, und durch seine Gestalt schiene, was es ist. Solche Paradoxie ist nicht dazu angetan, die raison d’être der Werke plausibler zu machen; sie macht sie erst recht rätselhaft. »A priori bringt Kunst die Menschen zum Staunen« – über die Kunst nicht weniger wie über das, was sie auf welche Weise immer zur Darstellung bringt; zum Staunen, »so wie vor Zeiten Platon von der Philosophie es verlangte, die« – aber – »fürs Gegenteil sich entschied«41. Der Rätselcharakter der Kunst steht für das Reagieren auf das, was ist, als auf das Subjekt-Andere, das Fremde, das, zu dem das Ich selbst werden kann: nicht erst in der späten Kunst des Dévoilement, seiner Sezierung, sondern schon früh, wie die Mythen vor Augen führen, in denen der Mensch das Rätsel ist. Jenem staunen machenden Andern und Fremden werden die Werke das Medium, in dem sie das bleiben oder aber erst zeigen, was sie sind: unassimiliert, gleichwie ein Exotisches in seinem Glanz der Ferne ›so nahe es sein mag‹, das gleichzeitig geheimes Grauen einflößt; Benjamin sprach von der Aura schon des Dinges selbst, nicht erst des Kunstwerks. Schließlich ist die Werkgestalt, die die Reaktion samt ihrem Movens festhält, selber das Fascinosum: das was zugleich verwundert und frappiert. Noch in den spätesten, vergeistigtsten Gebilden macht sich »das Grauen der Vorwelt« fühlbar, von dem Adorno sagt, dass »alle Kunst« sein »Seismogramm« bleibt – das Grauen, das »sich verwandelt«, doch »nicht verschwindet«42 und das das Genre des »Horrorfilms« und des »Monsterfilms« mit größtem Erfolg am Verschwinden hindert.

Sowenig an Werken, die anrühren, der Schauder verschwindet, sowenig verschwindet ihr Rätselcharakter. Eine Abklärung des Grundcharakters der Kunst scheint nahzuliegen: dass Kunst nämlich ein herüberragendes Residuum alter und uralter Religiosität, ihr »Rätsel« also Mysterium sei. Adorno warnt vor dieser Gleichsetzung – trotz unzweifelhafter historischer Genesis der Kunst in der Religion.43 Denn wenn sie auch in Religion entsprang, so hat sie sich doch zu einem toto genere anderen entfaltet, als sie am Anfang war: magische und kultische Praxis. Die Reduktion darauf setzte sich über die Differenz beider hinweg. Die Manifestation »immanenter Transzendenz« in der Kunst, die sich vom Ritual emanzipierte, von der parasitären Teilhabe an ihm,44 ist nicht dasselbe wie die durch Beschwörung veranstaltete Epiphanie. »Kein daseiendes, erscheinendes Kunstwerk ist des Nichtseienden positiv mächtig«, jenes Anderen am Wirklichen, das es aufscheinen macht, ohne je es haben und halten zu können wie ein Wirkliches. »Das scheidet die Kunstwerke von den Symbolen der Religionen« – im strengen Sinne gibt es keine anderen –, »welche Transzendenz der unmittelbaren Gegenwart in der Erscheinung« – also etwa des Corpus Christi in der Hostie oder schon Gottes selbst im Corpus Christi – »zu haben beanspruchen. Das Nichtseiende in den Kunstwerken« ist nicht durch sie symbolisiert, das Werk überhaupt nicht Symbolform, sondern das Nichtseiende »ist eine Konstellation von Seiendem«45, die das Werk mimetisch zum Ausdruck gelangen lässt. – Die Emphase Adornos erinnert an die Benjamins, nach dem das, in einem bestimmten Sinn regressive, Ineinanderwirren der Sphären von Kunst und Religion vom klassisch-romantischen Denken verschuldet ist: durch die theologische Interpretation des Verhältnisses von Wesen und Erscheinung als Offenbarung des Wesens in der Erscheinung, so, dass dieser der Rang des Symbols zuwachse.46 Das aber läuft auf die alte Idolatrie hinaus, die Vergötzung des Endlichen, welches die Art sei, wie das Unendliche in der Welt ist. Die Kunst, die mimetisch ans Endliche, den sinnlichen Schein sich klammert, verklärt und rechtfertigt das Endliche; Gottesdienst fällt in den Bilderdienst zurück, dieser in die Vergoldung der Welt. Der Vergeistigungsprozess der Kunst, der mit ihrem Emanzipationsprozess zusammenfällt, ist hintertrieben; der dialektische Vorgang, der jedes Bild als Schrift »offenbart«47, ist auf lange sistiert. – In seinem Theorem von der »unsinnlichen Ähnlichkeit« hatte Benjamin vom Lesen gezeigt,48 dass es in jenem Prozess die eigentlich vermittelnde Instanz zwischen Anschauung und Geist, Bild und Logos ausmacht. Im Lesen werden die sinnlichen Züge in ihrer geistigen Bedeutung – die sie von ihrer Erschaffung her, durchs göttliche Pneuma, haben – aufgeschlossen.

Hier zeigt sich vor allem die der Kunst zuwachsende Bedeutung als einer Erkenntnisart: der des physiognomischen Auffassens und Begreifens dessen, was ist, anstelle von dessen bloßer Bekräftigung durch wiederholende Mimesis im Abbild. – Das Telos des Vergeistigungsprozesses der Kunst ist die »bilderlose« Erkenntnis der Sache im Gedanken. »Der Gedanke ist kein Abbild der Sache […] sondern geht auf die Sache selbst«, durchschlägt, was von ihr erscheint: ihr Bild durch das sie wesentlich präsent sein soll; doch »was ans Bild sich klammert, bleibt mythisch befangen, Götzendienst«49. Noch die säkulare, areligiöse Abbild- und Widerspiegelungstheorie und ihr ästhetisches Analogon, der Abbildrealismus, huldigen ungewollt dem Fetischismus, der Idolatrie, über die sie doch hinaus zu sein wähnen; sie verfehlen gleicherweise das Objekt als substantielles: die Sache hinter ihrem Abbild, wie das Subjekt, das sie zum passiv-registrierenden in der Erkenntnis, zum mimetisch-repetitiven in der Kunst degradieren, unter Verleugnung seiner Spontaneität, seines Ansich, das dem Ansich der Sache entgegendrängt, um ihm zum Ausdruck zu verhelfen.

Retrospektiv aufgefasst ist der Bildcharakter, der, über das Schrift-Wesen der Kunst, in ihrem Erkenntnischarakter sich aufhebt, jedoch selbst bereits eine Errungenschaft, ein Fortschritt in der Naturgeschichte der Kunst. »Die Nachahmung«, wie sie im Abbildcharakter sich niederschlägt, ist »der Inbegriff von Verständnis diesseits des Rätselcharakters«50, den Mimesen – ob gestisch, ob figurativ – sogleich annehmen, wenn sie Kunstwerke werden. Die Mimesis diesseits der Kunst ist daseinspraktische, dem Überleben dienende Verhaltensweise, von welcher die unnützliche, spielerische später deriviert. Sie ist erzwungen, mimetischer Zwang, sie zeigt sich reaktiv – reaktiv auf das Übermächtige, dem das Subjekt etwa mit Mimikry, Sich-Totstellen durch Gleichmachen mit dem Anorganischen, durch Regression, respondieren muss. Oder es begegnet ihm, indem es dem Ängstigenden, Schrecklichen im Ausdruck des Erschreckens sich gleichmacht; dessen, den das Schreckliche, wie bei der Medusa, in ihm hervorruft. Durch Wiederholung des Furchtbaren wird das Furchtbare objektiviert: als Ausdruck, so wie ihn die Maske fixiert; als Laut, Schreckensruf, wie er im Wort instrumentalisiert, in Begriff und Bedeutung sublimiert ist; als Bild, wie es das Angeblickte präsent hält und bannt zugleich. Durch Wort und Maske, durch Bild und Begriff wird das Subjekt-Andere, Übermächtige, das was verfügt, selber verfügbar. In der reduplicatio ist der Zauber, die Essenz des Wesens, seine Macht versachlicht und durch die Versachlichung manipulierbar, gegen das Wesen selber dirigierbar geworden – ein Sieg des Subjekts über das Subjekt-Andere, der es, wie wahnhaft auch immer, nicht länger die Beute der unsinnigsten Schrecken sein lässt, wiewohl es andererseits in der projektiven Abwehr den Schrecken erst recht hervorbringt. Das Subjekt lernt seinen Zwang zur Mimesis bezwingen: ob in der Weise der List, mit der es durch Anschmiegen an die Natur dieser die Kenntnisse entlockt, die sie ihm ausliefern; ob in der Weise der Kontemplation – durch nicht-instrumentelle Theorie und durch Kunst, die im Ausdruck und Bild der Natur, in ihrem Begriff, einem »begriffsfeindlichen Begriff«, wie Adorno sagt;51 einem durch den ein Seiendes in seiner Komplexion und Tiefe aufgefasst, nicht durch »Oberflächenrationalität« identifiziert wird – mit der es die Natur nicht manipulieren, überlisten und verstümmeln sondern dem Blick, dem Ohr, dem erkennenden Geist darstellen will. Ihr eigenes Wesen soll sprechen, sei’s das unalterierte, sei’s das alterierte, nachdem es die Verstümmelung erfuhr – sprechen, ohne dass ihr das Wort abgeschnitten, ohne dass die Klage unterdrückt wird.

Die Mimesis als Element im Vergeistigungsprozess wäre nicht ohne die primäre, den archaischen Imitationstrieb – Mimikry und mimétisme –, der zu ihr sich sublimierte. Im Sublimat hat die Mimesis ihre »archaische Rationalität«, den praktischen Sinn, eingebüßt. »Kunst bleibt übrig nach dem Verlust dessen an ihr, was einmal magische, dann kultische Funktion ausüben sollte. Ihr Wozu […] büßt sie ein und modifiziert es zu einem Moment ihres An sich. Damit wird sie rätselhaft; wenn sie nicht mehr da ist für das, was sie als ihr Zweck mit Sinn infiltrierte, was soll sie dann selbst sein?«52

Die magische und kultische Gebrauchsfunktion macht die Kunst den Menschen vertrauter, geheurer als ihre emanzipierte Funktionslosigkeit, durch die sie zu etwas Unheimlichem, Nichtgeheurem wird, bloß deshalb, weil sie den abergläubischen Sinn – in Wahrheit also das Unsinnige – verlor. Angesichts dessen drohen die Werke schnell wieder »abzustürzen« in den Mythos, dem sie prekär sich entrangen«53. Ihre »Analogie zum astrologischen Aberglauben, der ebenso auf einem angeblichen Zusammenhang beruht, wie ihn undurchsichtig läßt«, drängt sich auf nicht bloß in jenem hermeneutischen Verhalten zu den Gebilden, das diese wie Orakel befragt und traktiert: sie kommt in ihrer Produktion selber zum Ausdruck, wenn diese als Verfertigung und Stiftung von Symbolen sich versteht, die, man weiß und durchschaut nicht wie, die Mächte und das Schicksal, das Sein und die Mitte oder welche Obskurität immer vertreten sollen und diese bedeutungsvoll winken lassen. Dergestalt ist »der Makel der Kunst […] ihre Querverbindung zur Superstition«54, zur Überantwortung des Bewusstseins an den Sinn-Ersatz. Um ihren Begriff zu erfüllen, darf sie daher auf den Stufen der Sinnsubstituierung weder verharren noch sich festhalten lassen. »Sinn gewinnt« die Kunst »durch die Gestaltung ihres emphatisch Sinnlosen«55: in der Negation der äußeren Zwecke, der zarten Statuierung der inneren, der Selbstzwecke, durch die sichtbar wird, was möglich wäre inmitten des Wirklichen, das das Mögliche despotisch niederhält.

Eben dieses, dass Kunst etwas ist, auch wenn sie ohne Sinn, ohne Zweck ist, macht sie zu dem Unverständlichen in der Welt der äußeren Zwecke. Doch ohne dies Paradoxe, Zwecklosigkeit zum Zweck zu haben, kantisch »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«56 zu sein, wäre sie nicht die Kunst. An ihrer »Funktion der Funktionslosigkeit« ist der »Überrest«, das Residuum ehemaliger magischer Praktik nicht zu verkennen: Sie ist »funktionslos gewordene Mimesis« und präludiert den Satz, »der Überbau wälze langsamer sich um als der Unterbau«; »alle Kunst« trägt »an einer verdächtigen Hypothek des nicht ganz Mitgekommenen, Regressiven«57. Aber gerade darin – in der Entbindung vom praktischen Zweck – ist ihr die Kraft zugewachsen, das Fortschreiten, die Rationalisierung und anwachsende Naturbeherrschung aus der spielerisch-kontemplativen Distanz als das zu erkennen und zu denunzieren, was im Progress die Natur verstümmelt. In der Kunst »versammelt sich, was seit undenkbaren Zeiten von Zivilisation gewalttätig weggeschnitten, unterdrückt wurde samt dem Leiden der Menschen unter dem ihnen Abgezwungenen, das wohl schon in den primären Gestalten von Mimesis sich äußert«58: In Zeiten, da der magische Zweck und die zwecklose ästhetische Verhaltensweise noch nicht voneinander geschieden sind, bekundet diese daher schon, was jenem konträr ist – nämlich den »Einspruch gegen Verdinglichung«, gegen mimetische reduplicatio des Seienden im Abbild um seiner Manipulation willen.

Schon die ältesten Höhlenzeichnungen zeigen nämlich »äußerste Treue in der Darstellung« nicht des statischen ruhenden, leblos-unbewegten Seienden, sondern gerade »von Bewegtem«, so »als wollten sie […] das Unbestimmte, nicht Dingfeste an den Dingen minutiös nachahmen. Dann« aber »wäre ihr Impuls nicht der von Nachahmung, nicht naturalistisch gewesen, sondern von Anbeginn Einspruch gegen die Verdinglichung«59. Ohne Mimesis aber käme das nicht heraus: Der Ausdruck des Lebendigen, das gegen Fixierung, Stillstellung und Tod im Dinglichen sich sträubt, würde nicht sinnfällig.

Hier befinden wir uns an einer der wichtigsten Stellen der Adorno’schen Kunsttheorie; an ihr ist die Entdeckung ausgesprochen, dass die beiden zentralen Kategorien der Kunst – Ausdruck und Bild; also ein Naturhaft-Subjektives, Lebendiges, und ein Dinglich-Objektives, Stillgestelltes und Fixiertes –, sosehr sie choris sind und generisch verschieden scheinen, zuinnerst miteinander vermittelt sind; sie sind in gewisser Weise Funktionen, Ausdrücke voneinander.

Adornos Ausdruckstheorem besagt, dass expressio keine Elementarbestimmung, kein Ursprüngliches ist. Der Ausdruck bildet sich, so nimmt er an, im Animismus: da, wo Totemtiere, Gottheiten, Dämonen imitiert werden, genauer, wo diese Gestalten bereits die Resultate von objektivierenden Schreckens- und anderen Reaktionen darstellen. Der Ausdruck ist nichts anderes als dieser angehaltene, in Gestus60 und Mimik fixierte Schrecken – verwandt jenem Warburg’schen »Engramm« im Innersten der kulturellen Ausdrucksgeste,61 die kraft seiner den objektiven »Prägewert« der stets wieder durchschlagenden Pathosformeln in Kunst und in deren Abhub erlangt.62 Dem anscheinend Subjektivsten, dem Subjekt-Eigensten wohnt das Ich-Andere ein. Der Ausdruck ist nicht sowohl subjektive Regung als Bezeugung von objektiv Seiendem und seiner Gewalt, seinem Druck auf das Ich, im Ich. Die physiognomische Prägung aber ist Bild, Lineatur, mimetisches Abbild des Ich-Andern. Der Ausdruck zeigt sich als »Zeugnis eines Risses«63 – dessen zwischen Subjekt und Objekt, Subjekt und Kollektiv, welche sich im Subjekt malen, ein- und ausprägen. Solche Prägung, solches Mal, solches Bild kann als Verdinglichung des Ausdrucks gedeutet werden, »feind […] der Regung, welche der […] Ausdruck ist«64.

Das Theorem ist ingeniös; es lässt begreifen, dass ohne den (konstitutiven) Bildcharakter – die Objektivation in der Kunst – kein (ebenso konstitutiver) Ausdruckscharakter – die Irritation, Erregung und Regung in der Kunst – ist; dass ohne Ausdrucksbewegung keine Bildgestalt, und keine Ausdrucksprägung ohne eingreifend bildende Kraft ist. – Haben wir die kategoriale Physiognomik des Kunstwerks genauer entziffern gelernt, werden wir stets auf polare Bestimmungen stoßen, die von jenen duplexen, reflexiv vermittelten Grundbestimmungen deriviert sind oder sie variieren – Zeugnis dessen, dass die Kunst geschichtsphilosophisch jenen Riss zwischen Wesen und Schein manifestiert, auf dessen Heilung im wahren Sein sie hindeutet.

Die duplexen Bestimmungen Ausdruck und Bild erlauben den Grundtypus des Kunstwerks – etwas wie das Urphänomen des künstlerischen Gebildes – zu umreißen. Adorno definiert es in anthropologisch-naturgeschichtlichen Begriffen. Was ist das ästhetische Verhalten, das Verhalten, das ästhetische Gebilde hervorbringt? »Die Fähigkeit, irgend zu erschauern – so als wäre die Gänsehaut das erste ästhetische Bild«65. Das erste; proton eidolon: der Prototyp, der allen wirklichen Werken einbeschrieben ist. Das Erschauern vor dem, was schaudern macht, findet den Ausdruck, der dieses erschauern Machende sinnfällig nachmacht: an der sich zusammenziehenden Haut, dem gesträubten Fell; in der Abwehrhaltung, die dem Angreifenden, standhaltend, sich gleichmacht. – Das Werk ist die Erschütterung des Subjekts, in der das Erschütternde Gestalt annahm, so wie das Anpackende im Bilde der kontrahierten Haut. Es an ihm abzulesen, illustriert die Weise der Kunst, Erkenntnis und Erfahrung zu erlangen. Dass sie die Weise der Theorie, Erkenntnis zu erlangen, intensiviert; durch Mimesis und Regung den Begriff und das Urteil stärkt – das heißt das Gegenteil davon, dass Kunst die Erkenntniskompetenz usurpiere und die Rationalität verabschiede.

Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 34/35

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