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Aktualität und Kritik marxistischer Ethik

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Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.

Theodor W. Adorno

Zusammenbruch und Krise der internationalen Kapitalmärkte in den Jahren 2008 und 2009 reanimierten weltweit eine Kritik der politischen Ökonomie. Marx war gefragt – wieder. Zugleich stieg das Verlangen nach Regulation und Normierung. Künftige Entgleisungen galt es zu verhindern. Es erging der alte Ruf nach Moral. Neben der Unkenntnis über den wahren Inhalt der Marx’schen Lehre verbarg sich dahinter die Absicht, den Schaden nur in seinen Teilen zu beheben, das Ganze jedoch als System unverändert zu lassen.

Keine Philosophie ist dem Gehalt ihrer Bestimmung nach so eng mit praktischer Intention verwoben wie jene, welche die Veränderung der wirklichen Verhältnisse sich zum erklärten Ziele setzt. Dennoch ist die von Marx so entworfene und gemeinte keineswegs eine Moralwissenschaft oder in irgendeiner Weise als solche zu bezeichnen. Diese Auffälligkeit weckte von jeher Interesse und versuchte zugleich viele, unter dem Etikett (sowjetischer) Marxismus eine Moral zu konstruieren, welche dem eigentlichen Anliegen von Marx widersprach. Um den Marxismus von moralphilosophischen Widersprüchen und ideologischen Extremen zu befreien, ist es also dringlich, seine Quellen erneut zu sichten.1

Auch wenn Marx selbst kein bündiges System einer positiven Ethik2 hinterließ, vielmehr Analyse und Dekonstruktion seine Methode waren, ist es dennoch möglich, aus ihm einen Beitrag sowohl zu aktuellen Moraldebatten als auch zur Klärung der normativen Grundlagen kritischer Theorie zu destillieren.

»Anders als in der zur autoritären Herrschaftsideologie erstarrten Dogmatik des M[arxismus] L[eninismus] gibt es in der marxschen Theorie keine E[thik]. Marx sieht seine kritisch-aufklärerische Aufgabe vielmehr zu einem nicht geringen Teil gerade darin, E[thik] als eine Gestalt falschen Bewusstseins zu entschleiern, die mit gesellschaftlicher Notwendigkeit generiert wird, und zu zeigen, dass die bloß ›moralisierende Kritik‹ (MEW 4, 331) inhumaner gesellschaftlicher Verhältnisse eine resignativ verklärende Funktion hat, weil sie ein Werkzeug zur Aufrechterhaltung dieser Verhältnisse ist.«3

Wir beginnen unseren Gedankengang bei Hegel, ohne den Marx, dessen habitus operativus wir uns im direkten Anschluss zuwenden, nicht wäre, was er uns geworden ist. Hinterher erweist eine Betrachtung der moralischen Aporien der Sowjetgesellschaft sich als angebracht. Erst die Applikation marxistischer Ethik innerhalb sozialistischer Produktionsverhältnisse lässt uns ihre Suffizienz beurteilen. Durch die kritische Sicht auf jenes System sowie seine Abgleichung mit Marx selbst gelangen wir zu der Möglichkeit, Gültiges und Überkommenes in jenem scheiden zu können. Von da aus wären dann fruchtbare Impulse für gegenwärtige Fragestellungen zu gewinnen.

1. Hegel

Wegweisend und belastet zugleich bleibt bei Hegel, dass nicht das Individuum von sich zum Ganzen drängt, sondern das Ganze die Anlage besitzt, am Einzelnen sich zu vergehen, ihn zu totalisieren: objektiver Idealismus. Der Schatten des Determinierenden liegt über ihm. Die Freiheit des Individuums droht durch die ›List der Vernunft‹ zum trompe l’œil zu werden.

Der Sinn dieser Spekulation spiegelt sich noch und erst viel später, wenn in der sozialistischen Gesellschaft jene permanente Spannung, in welcher konkrete (subjektive, individuelle) und abstrakte (objektive, gesellschaftliche) Arbeit, Einzelner und Gemeines zueinander stehen, auf Kosten des Individuums zu äquilibrieren versucht wird. In ursprünglich wohlmeinender Gesinnung wurde dort alle Anstrengung dahin verwendet, das Ganze so zu gestalten, dass es den Einzelnen integriert, um dessen Wesen ›zur vollen Entfaltung‹ zu führen. Dass Hegel, von Platon inspiriert, die Tendenz beschwor, dem Allgemeinen das Vorrecht zu gewähren, gereichte ihm erkenntnistheoretisch zum Vorteil, praktisch angewandt aber ließ es dem inneren Erleben des Subjekts, als Privileg der ersten Person, wenig Raum. Was jener ideell leistete, wurde materiell gewendet und missbraucht. Das heißt, es wurde nach dem Ideal des Totalen eine Gesellschaft geschaffen und ausgerichtet. Die Wirkmächtigkeit der hergestellten Faktizität wiederum rückverdinglichte ihre Erzeuger. Während das Wesen des Ganzen nach Hegel sich in der Freiheit seiner Bürger offenbart, wird als Totalität der Sowjetgesellschaft es in die Produktivität verlagert und somit um sein identifizierendes Potenzial betrogen – womit die erste entscheidende Parallele zum kapitalistischen Wirtschaftssystem aufgezeigt wäre.

Der Hiatus zwischen Einzelnem und Allgemeinem, Endlichem und Unendlichem, war für Hegel ein dialektisch notwendiger, die Voraussetzung schlechthin, um absolute Identität erst herstellen zu können.

»Was zwischen der Vernunft als selbstbewußtem Geiste und der Vernunft als vorhandener Wirklichkeit liegt, was jene Vernunft von dieser scheidet und in ihr nicht die Befriedigung finden läßt, ist die Fessel irgend eines Abstraktums, das nicht zum Begriffe befreit ist. Die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen, diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit […].«4

Zum Preis einer Aufspaltung der Vernunft schafft Hegel so zwei Reiche, ein ideales und ein reales, deren praktische Zusammenführung im offenen Konflikt zwischen Idealismus und Materialismus sich entlädt.

Noch einmal: Jenes der griechischen Philosophie entstammende, welches Hegel mit den Tübinger Gefährten Schelling und Hölderlin bereits in Studienjahren zum Grundmotiv seines Systems erhoben hatte, sollte in späterer Zeit, beginnend mit den Linkshegelianern, erst zum Problem werden, da versucht wurde, nach diesem Prinzip eine materielle, das heißt gesellschaftliche und ökonomische Synthese real werden zu lassen. Die Totalität, welche bei Hegel ursprünglich als erkenntnistheoretisches Absolutum gedacht war (›die Wahrheit ist immer das Ganze‹), um das Sein durch Bewusstsein mit dem Subjekt glücklich zu vermitteln, wurde im Sowjet-Marxismus zu einer Totalität, welche allein übers Materielle zu herrschen trachtete – und dies unmittelbar, weil ohne Begriffe. Adorno schreibt:

»Philosophie ließe, wenn irgend, sich definieren als Anstrengung, zu sagen, wovon man nicht sprechen kann: dem Nichtidentischen zum Ausdruck zu helfen, während der Ausdruck es immer doch identifiziert. Hegel versucht das. Weil es nie unmittelbar sich sagen läßt, weil jedes Unmittelbare falsch – und darum im Ausdruck notwendig unklar – ist, sagt er es unermüdlich vermittelt. Nicht zuletzt darum appelliert er an die sei’s noch so problematische Totalität.«5

Im Gegensatz zu Kant ist für Hegel die Totalität nicht Gegenstand der Vernunft, sondern die Bewegung des sich selbst erfassenden Geistes. »Das Ganze ist die sich bewegende Durchdringung der Individualität und des Allgemeinen«6. Als Prozessierendes will er es außerdem verstanden wissen. Alles Prophetische und Futurische findet in diesem Zusammenhang jedoch seine dezidierte Zurückweisung. Erkenntnis als Selbstbewegung bleibt an die Verzeitlichung wie Verräumlichung (Natur + Geschichte) des Geistes gebunden. Die begriffliche Identifikation als begriffene Identität führt Hegel zum Sein, nicht zum Sollen. Seine Methode ist die der objektiven Spekulation, nicht der subjektiven Konstruktion. Die Herstellung der Wirklichkeit bleibt eine Angelegenheit der Vernunft. Das sich selbst begreifende Erkennen erliegt seiner onto-theologischen Selbstgenügsamkeit. Bedürfnisse nach Änderung werden ignoriert, »Umschlagsmomente« (Bloch) der Materie (Quantität Qualität) bleiben unerforscht. Der utopische Gehalt fehlt. Der Vollzug der dialektisch-fortschreitenden Bewegung ist dem absoluten Geist selbst überantwortet. Alles andere ginge Hegel zu weit, würde die von seiner Philosophie gesetzten Beschränkungen aufheben. Beliebigkeit gar unterstellt er solcherlei Versuchen. Dies schlägt sich in der These nieder, die Philosophie sei allein »ihre Zeit in Gedanken erfaßt«.

»Es ist ebenso thöricht zu wähnen, irgend eine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit, springe über Rhodus hinaus. Geht seine Theorie in der That drüber hinaus, baut es sich eine Welt, wie sie seyn soll, so existiert sie wohl, aber nur in seinem Meinen, – einem weichen Elemente, dem sich alles Beliebige einbilden läßt.«7

Die für Hegels Philosophie grundlegende Differenzierung zwischen Vernunft als Selbstbewusstsein und Vernunft als vorhandener Wirklichkeit, in welcher er die Gefahr einer Unterscheidung von Sein und Sollen erblickt, wurde vom Sowjet-Marxismus nicht ausreichend berücksichtigt. Nach ›beliebigem Meinen‹ wurde die Methode verkehrt: Das Sein hatte dem Sollen identisch zu werden, ihm sich zu unterwerfen. Die Prävalenz galt von da an der Konstruktion und Produktion, nicht mehr der Analyse und der am Individuum orientierten Gesellschaft. Die Materie fand sich einsam bevorzugt und von der sie vermittelnden Idee getrennt. Das tiefere Erkennen Hegel’scher Ontologie wurde dem Postulat sachlicher Logik geopfert. Das geschichtlich Wirkliche, als einmal geäußerte Innerlichkeit, ging dem Individuum verloren. Der unkritische Glaube an ein richtiges Ganzes kulminierte am Ende in objektiver Unwahrheit.

Nach diesem Muster wurde mit der Frage des Moralischen verfahren. Hegel selbst blieb auch in ihr sich ganz treu. Er schied Moral von Sittlichkeit. Erstere nimmt ihm Bezug auf die Triebe und Neigungen des Individuums. Sie betrifft jene ›mannigfaltigen Fälle‹, jene unvermeidlichen Konflikte, welche im Miteinander des je Für-sich-Seins entstehen. Es ist das Partikulare, Nicht-Allgemeine, der Bereich privater Handlungen und ihrer engen, – im Hegel’schen Sinne – abstrakten Deutungsbestände. Das »moralische Bewußtsein« gilt als das »einfache Wissen und Wollen der reinen Pflicht im Handeln«8. Ihm wünscht er sich – entgegen den Zwängen des kategorischen Imperativs – größtmöglichen Freiraum. Den Zustand eines An-sich-Seins würde es ohnehin nicht erreichen. Konsequent negiert er die Wirklichkeit von Moral:

»Was ihm, das als Selbstbewußtsein ein anderes denn der Gegenstand ist, hiemit übrig bleibt, ist die Nichtharmonie des Pflichtbewußtseins und der Wirklichkeit, und zwar seiner eigenen. Der Satz lautet hiemit itzt so; es gibt kein moralisch vollendetes wirkliches Selbstbewußtsein; – und da das Moralische überhaupt nur ist, insofern es vollendet ist, denn die Pflicht ist das reine unvermischte Ansich, und die Moralität besteht nur in der Angemessenheit zu diesem Reinen, – so heißt der zweite Satz überhaupt so, daß es kein moralisch Wirkliches gibt.«9

Moralische Vollkommenheit existiert in Hegels Idealismus allein jenseits der Realität. Praktische Antinomien werden noetisch aufgehoben und in die Totalität transferiert. ›Absoluter Zweck‹ ist auch hier das seiner Teile bewusste Ganze.

Was dem moralischen Individuum im dargelegten Dilemma zu tun bleibt, ist, sich nicht in der ›Unwirklichkeit‹ der gelebten Diesseitsstrukturen (das Hier, das Itzt, das Dieses und das Meinen) sinnlicher Gewissheit zu verlieren, sondern Bewusstsein von der allgemeinen Freiheit, verstanden als volonté générale, zu erlangen. Die dankbare Pflicht gegenüber der so apperzipierten und institutionalisierten Freiheit als Ergebnis einer Bewegung des absoluten Geistes differenziert Hegel als Sittlichkeit. In der Moral findet das Subjekt sich als natürliches wieder, in der Sittlichkeit dagegen als noumenales, und deshalb freies. Indem es seine moralische Haltung durch Vernunft totalisiert, weiß es sich als freies Wesen zu denken. Sittlichkeit ist somit jene höhere Ordnung der Vernunft zu nennen, welche das handelnde Individuum mit dem geschichtlichen Ganzen vermittelt. Das Subjekt findet seine Freiheit in der Wahrheit einer sittlichen Objektivität, welcher es nicht blind sich übergeben sieht. Seine Rolle als Staatsbürger, das heißt als am institutionellen Ganzen Partizipierender, gewährt und garantiert ihm – bei aller Pflicht diesem gegenüber – die Freiheit, innerhalb des sittlichen wie gesetzlichen Rahmens, seinen privaten Neigungen zu entsprechen und seine natürlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Hegel schreibt:

»Das Recht der Individuen für ihre subjektive Bestimmung zur Freiheit hat darin, daß sie der sittlichen Wirklichkeit angehören, seine Erfüllung, indem die Gewißheit ihrer Freiheit in solcher Objektivität ihre Wahrheit hat, und sie im Sittlichen ihr eigenes Wesen, ihre innere Allgemeinheit wirklich besitzen.«10

Idealerweise haben die Sittlichkeit des Ganzen und die Moral des Einzelnen in eins zu fallen. »Das Recht der Individuen an ihre Besonderheit ist ebenso in der sittlichen Substantialität enthalten, denn die Besonderheit ist die äußerlich erscheinende Weise, in der das Sittliche existiert«11. Erst als Bürger des historischen Staates, dem er je angehört, vermag der Einzelne, seine Freiheit in vernünftigem Einklang mit anderen Individuen zu verwirklichen. Die Potenz zur Versöhnung moralischer Antagonismen liegt in der totalisierenden Vernunft, welche für Hegel sich in der Erscheinung des preußischen Staates manifestiert. Die subjektive Freiheit lebt von der Einsicht in die gesellschaftliche Notwendigkeit – e contrario. Dieser Satz wird im Marxismus weder seine Evidenz noch die Gefahr seines Missbrauchs verlieren. Der Last, bedingungslos gut sein zu müssen, ist das Subjekt durch Hegel enthoben. Adorno weiß dies zu würdigen:

»Zur bürgerlichen Verherrlichung des Bestehenden gehört immer auch der Wahn hinzu, daß das Individuum, das rein Fürsichseiende, als welches im Bestehenden das Subjekt sich selbst notwendig erscheint, des Guten mächtig sei. Ihn hat Hegel zerstört. Seine Kritik an der Moral ist unversöhnlich mit jener Apologetik der Gesellschaft, welche, um sich in ihrer eigenen Ungerechtigkeit am Leben zu erhalten, der moralischen Ideologie des Einzelnen, seines Verzichtes auf Glück bedarf.«12

2. Marx

Weit diffiziler noch als bei Hegel gestaltet sich eine Deduktion moralischer Prinzipien aus Marx. Was diesem als Errungenschaft angetragen wird, den anderen ›vom Kopf auf die Füße‹ gestellt zu haben, macht die Konstruktion einer normativen Ethik ebenso unausführbar wie im geistigen Gehäuse des spekulativen Idealismus. Wie Hegel bei der Lösung des Kategorialproblems EinzelheitAllgemeinheit reüssierte, so scheiterte er an den Varianten desselben: Sein – Sollen, Wunsch – Wirklichkeit, Autonomie – Heteronomie, Voluntarismus – Fatalismus, Qualität – Quantität. Dem Unerledigten dieser Dualismen sich ganz zu widmen, es ins Bewusstsein zu heben, versprach der Marxismus. Ich-Erlebnisse können von nun an im Objektzusammenhang betrachtet werden. Das gestörte Verhältnis des Individuums zur Realität erlangt mittels dieser Begriffspaare überhaupt erst die Möglichkeit zu sagen, was es nicht sagen kann. Ihr Ausgesprochensein öffnet die Türe zur Wirklichkeit. Materielles kommt zu Wort, erfährt keine Auslassung mehr. Inlogisation des Realen statt Inkarnation der Idee. Dualismus kann, muss jedoch nicht, zu einer schizophrenen Perzeption von Wirklichkeit führen. Erweist Abstraktion sich nicht als Äquivalent des Empfundenen, spaltet sie. Die Abwesenheit der alles bedingenden Materie produziert Irrealität und psychisches Reservat. Geisterreiche entstehen. Der dialektische Materialismus debütiert gegen die Verdinglichung bürgerlichen Kalküldenkens:

»Kant hatte die Unbeweisbarkeit der existierenden Außenwelt als Skandal der Philosophie bezeichnet, Schelling die Undefinierbarkeit der Materie; der Marxismus, dem diese beiden Arten des ›Skandalon‹ (Falle) fremd sind, will für sich Skandal und Crux zugleich aufheben. Die unübersichtliche Crux: Einzelheit – Allgemeinheit wird gleichsam umgedreht und erscheint dann als das weit einfachere Skandalon: Kalkül – qualitative Materie.«13

»Prozess-Materie« (Bloch) bewegt sich dynamisch, nicht mechanisch, das heißt, sie ist theoretisch-praktisch durchkreuzt von Bewusstsein und Unbewusstem. Vermittelt in Denken und Sprache verlässt sie den Bannkreis des Kausaldeterminismus. Qualität kommt ins Spiel. Der Materialismus quantitativer Natur, wie die Franzosen im 18. Jahrhundert (Lamettrie, Diderot, Helvétius, Holbach etc.) ihn pflegten, ist überwunden. In der rein physikalischen Bewegung bleibt das Subjekt undeutlich und singularisiert im Hintergrund. Marx erst findet es als gesellschaftliches, arbeitendes (Bloch später als hoffendes). So schlägt er die Brücke zum Selbstbewusstsein.

Der Marxismus decouvriert nicht nur das beschränkende Prinzip der Materie (besonders in moralischer Hinsicht), sondern auch ihre utopische Beschaffenheit, ihre Möglichkeitsform:

»Es gibt qua dynamei on den wichtigen Bogen Utopie – Materie; ihn begreifen ist jede Philosophie an der Front dem Weltexperiment schuldig. Hier vor allem ist Materie nach vorwärts; und das nicht nur als Maßgabe und Träger der Bedingungen, nach denen etwas möglich sein kann, sondern erst recht als Substrat des objektiv-real Möglichen überhaupt […].«14

Marx’ Empfinden für die gelebte Wirklichkeit rettet Hegel methodisch in unsere Zeit. Die Spekulation wird negiert, der Idealismus in Materialismus verkehrt. Der im Selbstbewusstsein sich erfassende Weltgeist verteidigt als kommunistische Internationale seine zentrale Position. Das Sein bestimmt das Bewusstsein. »Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen.«15 Ursache des Hindrängens kann nicht das Denken sein. Marx’ entscheidende Erkenntnis (nach Schelling): des Vordenklichen bedarf es, Materie also. Die spiegelt sich im Bedürfnis wider, welches urhaft sich meldet, die Dinge bewegt, drängt und mit Recht nach der es erfüllenden und ihm entsprechenden Wirklichkeit verlangt. Die Substanz des Bedürfnisses aber ist materiell. Dass bloße Ideen kein insurgierendes Proletariat hervorbringen, darin sieht Marx von jeher eine »Hauptschwierigkeit«. »Die Revolutionen bedürfen nämlich eines passiven Elementes, einer materiellen Grundlage. Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist.«16 Im ›Gedanken‹ erhält die ›Prozess-Materie‹ nur das Bewusstsein ihrer eigenen Bewegung, das heißt von sich selbst. Dies gilt auch für die Moral. Wird diese nicht auf ihre Materialität, das heißt auf ihre Bedürfnisgeschichte hin analysiert und reduziert, tritt die ideologische Form bürgerlicher Sittsamkeit nie als eine solche ins Licht kritischer Erkenntnis; die moralische Zweideutigkeit des bourgeoisen Milieus würde weiter ihre uneingeschränkte Kultivierung auf Kosten anderer erfahren. Der prüfenden Frage à quoi bon? hat auch sie sich zu stellen. Das Wissen um den doppelten Boden jeder Ethik ist die unmittelbare Folge der Aufdeckung ihres materiellen Wesens. Eine Einsicht, zu welcher auf anderen Wegen auch Freud gelangt ist.

Die duplizitäre Struktur der Moral verdankt sich der irrtümlichen Annahme der Vorrangigkeit des Denkens gegenüber dem Sein, der Vernunft gegenüber den Trieben. Religiöse Vorstellungen tragen ihr Übriges bei. Der Bruch mit der Metaphysik erhält für Marx deshalb Priorität. Philosophie wünscht er sich ›aufgehoben‹, als Übergang in kritische Theorie von Gesellschaft.

»Aufhebung der Philosophie ist Aufhebung der Metaphysik, negativ die Entontologisierung und Enttheologisierung, positiv die Historisierung und Humanisierung der Philosophie. An die Stelle der ontotheologischen Verfassung der Philosophie tritt der praktisch-historisch begründete Humanismus in der Philosophie.«17

Die uralte onto-theologische Scheidung der Welt in Gutes, Ideales, Tugendhaftes auf der einen und Malignes, Materielles, Sündhaftes auf der anderen Seite, kurz: die Teilung des Bestehenden in Geist und Fleisch, trieb das Individuum über Jahrtausende in eine psychotische Verfasstheit und Fremdbestimmung. Diesen Zustand der Nicht-Identität von Subjekt und Objekt, des Psychischen mit seiner Außenwelt, aufzulösen und den Menschen zu sich selbst als ›Gattungswesen‹ zu befreien, stellt Marx sich als vornehmste Aufgabe. Eine, welcher an ›radikaler‹ Entschlossenheit es nicht mangelt:

»Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst. […] Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzustürzen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist […].«18

Konsequenter Materialismus spricht hier, dialektisch wie historisch. Keine positive Moral wird konstruiert, Kritik stattdessen postuliert. Bestimmte Negation jedoch enthält das Ferment des Positiven. Ihr erwächst der Mut zur Veränderung, zum Umsturz des ›schlecht Vorhandenen‹. Wie die Bewegung der Materie, kann auch Moral nur aus Bedürfnis entstehen. Aller Sittlichkeit inhäriert eine zutiefst materielle Dynamik. Marx identifiziert sie als gesellschaftlichen Auftrag.

Was heute, nach westlich-kapitalistischer Ordnung, unter Wirtschaftsethik zu verstehen ist, nämlich Triebverzicht – weniger als Forderung an die Lohnabhängigen, denn als Praxis und Rapport herrschender Klassen –, kompromittierte jener mit analytischer Schärfe, wenn er im Kapital konstatiert:

»Um das Gold als Geld festzuhalten und daher als Element der Schatzbildung, muß es verhindert werden zu zirkulieren oder als Kaufmittel sich in Genußmittel aufzulösen. Der Schatzbildner opfert daher dem Goldfetisch seine Fleischeslust. Er macht Ernst mit dem Evangelium der Entsagung. Andrerseits kann er der Zirkulation nur in Geld entziehn, was er ihr in Ware gibt. Je mehr er produziert, desto mehr kann er verkaufen. Arbeitsamkeit, Sparsamkeit und Geiz bilden daher seine Kardinaltugenden, viel verkaufen, wenig kaufen, die Summe seiner politischen Ökonomie.«19

Nirgends sonst ist die Ambiguität bürgerlich-ökonomischer Moral, ihre unselige Herkunft wie Legitimierung aus der Religion, in solcher Klarheit vorgeführt – Marx’ bleibender Verdienst.

Soziale Kontrasterfahrungen dürfen gemacht und artikuliert werden, ohne dem begriffenen Negativen ein bestimmtes Positivum entgegenbringen zu müssen. Die Utopie hat nicht »ausgepinselt« (Bloch) zu sein, realisiert sie sich doch von allein, sobald der ›Umschlagsmoment‹ bewusst wahrgenommen ist. Ethik kann nach Marx nicht anders verstanden werden, denn als Selbstbefreiung des Subjekts von unbegriffenen Mächten. An die Stelle des von oben verordneten politischen Status quo tritt die Selbstvergesellschaftung des Menschen von unten, die Nostrifizierung des Öffentlich-Allgemeinen durch das Proletariat:

»Die Betroffenen nehmen das sie Betreffende selbst in die eigne Hand. Die Aufhebung der Moral ins Vergesellschaftungshandeln, wie sie Marx und Engels vorschwebte, rückt Fragen nach dem Wie, nach dem neuen Umgang mit Konflikten, Unterschieden, auch nach der Un/Annehmbarkeit von Mitteln zu erwünschten Zwecken ins Zentrum.«20

Marxistische Moral steht philosophiegeschichtlich in einer postdestruktiv-antizipierenden Phase zwischen nicht mehr und noch nicht: Nach der Dekonstruktion und Aufhebung überkommener metaphysischer Werte hat sie eine neue Form von Sittlichkeit zu begründen, welche dem Prinzip der Selbstvergesellschaftung gerecht zu werden hat. Sie sieht sich mit dem Dilemma der gleichzeitigen Unmöglichkeit und Nötigkeit normativer Ethik konfrontiert. Diese Dialektik, ohne Aussicht auf Synthese, hat sie theoretisch wie praktisch zu durchstehen.

Jene von Rousseau beklagte (und von Hegel rezipierte) Zerteilung des Bürgers in eine existence partielle et morale, in einen homme et citoyen harrt seitdem ihrer Vereinigung. Die Hauptlast im Marx’schen Erbe besteht im Versuch seiner politischen Umsetzung. Affektion und Abstraktion verweilen in hartnäckiger Diskordanz. Durch seine Unausgeglichenheit wandelt das Theorie-Praxis-Verhältnis sich zur Mesalliance. Unaufgearbeitetes bricht hervor und irritiert die Vernunft-Harmonie. Das Partielle, Sinnliche, die Qualia sind es, welche immerzu und aufs Neue Aufmerksamkeit verlangen. Wie versehentlich wird aus dem zum Partikularen gedrängten Ganzen wieder ein zum Totalen gefügter Einzelner. Unbehagen überfällt den zur Einheit Genötigten. Die Sprache absoluter Verständigung vermag auch Marx nicht zu leihen. Eine Hypothek, an welcher die Sowjetgesellschaft sich abmühte.

Noch einmal: Der Marxismus fühlt sich dem Hegel’schen Identitätsprinzip verpflichtet; jedoch in der umgekehrten Folge seiner Elemente: Die Verhältnisse haben sich dem Individuum anzugleichen. Im Zentrum steht der einzelne Mensch und die von ihm sinnlich wahrgenommene Lebenswelt. Er wird zum Maßstab seiner Gattung. Das Ganze bildet die notwendige Peripherie: seine Umstände, im Wortsinn. Sie haben ihn aufzufangen. Einmal initiiert, steht diese Tendenz nicht mehr zur Disposition. Die Materie, im Einzelmenschen erscheinend, offenbart sich als anweisende: kritischer Materialismus. Marx schreibt:

»Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst. Die politische Emanzipation ist die Reduktion des Menschen, einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische unabhängige Individuum, andererseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person.«21

Das staatliche Gemeinwesen hat die bürgerliche Gesellschaft, aus Individuen bestehend, in ihren privaten Vorlieben und Interessen als ›Naturbasis‹ zu akzeptieren. An ihr haben die öffentlichen Entscheidungen je sich zu orientieren. Im Gegensatz zu Hegel hat die politische Totalisierung von unten nach oben zu geschehen. Es ist die aufsteigende Bewegung, geronnen in der ›Tathandlung‹ von Ich und Wir, von Ich als Wir, welcher die Hoffnung auf Umsturz innewohnt. Die emanzipative Wandlung des Menschen zum Gattungswesen verspricht die Zusammenschau seiner Gegensätze. Dem Willen zur Veränderung entspricht der Wunsch nach der Identität dessen, welches sie verweigert.

3. Sowjet-Marxismus

Sowohl das vernünftig-ideale, als auch das historisch-materiale Allgemeine stellen eine Form von Abstraktion dar, deren Funktion Vermittlung zu sein hat. Abgehoben von aller Gegenständlichkeit, kommt es dann, dass die Vernunft ihre abstrahierenden, erklärenden Kräfte verwirkt und selbst vermittelt sein will. Die Vermittlung der Vermittlung: regressus ad infinitum. Früh entstand die Frage, ob Allgemeines überhaupt ist. Engels verneint dies im Anti-Dühring. Selbst Materie existiere nur als Begriff, sei ›Gedankensschöpfung‹. Man greife nach ihr ebenso vergeblich wie man statt Kirschen, Birnen, Äpfel das Obst als solches zu sehen verlange. Abstraktion erscheint in ihrer Notwendigkeit als kategoriales Produkt, welches die Einheit des Mannigfaltigen herstellt. Kategorien = ›reine synthetische Verstandesbegriffe‹ (Kant). Auch die exakte Analyse der Ware sowie ihrer und des Geldes Zirkulation im Kapitalismus machen die Fähigkeit abstrakten Denkens unverzichtbar.

Nicht die Abschaffung der Warenproduktion per se postuliert Marx, sondern die für den Tausch und dessen Markt bestimmte. Um die Änderung der sie bedingenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse geht es ihm, um die Übergabe der Produktionsmittel an die Produktivkräfte: Ex- und Transpropriation. In der sozialistischen Weise zu produzieren, soll der Gegensatz, welcher die Ware bewohnt, Gebrauchs- und Tauschwert nämlich, aufgelöst werden. Der Widerspruch, welcher zwischen privater (für den Gebrauch) und gesellschaftlicher (für den Tausch) Herstellung dominiert, soll im Rahmen vergesellschafteter Arbeit bezwungen sein. Dies bedeutet, dass der gesellschaftliche Reichtum nicht mehr an einer ›ungeheuren Warensammlung‹, sondern an seinem gesellschaftlichen Nutzen, an der Produktion nützlicher Gegenstände, welche ausschließlich der Existenzsicherung dienen, zu messen ist. Was dem Kriterium der utilité existentielle nicht entspricht, wird als ›Vergeudung‹ der Kräfte und Mittel bekämpft.

»Ihre Befreiung aus diesen Banden ist die einzige Vorbedingung einer ununterbrochenen, stets rascher fortschreitenden Entwicklung der Produktivkräfte und damit einer praktisch schrankenlosen Steigerung der Produktion selbst. […] Die Anarchie innerhalb der gesellschaftlichen Produktion wird ersetzt durch planmäßige bewußte Organisation. Der Kampf ums Einzeldasein hört auf. Damit erst scheidet der Mensch, in gewissem Sinn, endgültig aus dem Tierreich, tritt aus tierischen Daseinsbedingungen in wirklich menschliche.«22

Engels’ Wunsch nach uneingeschränkter Steigerung der produzierenden Kräfte sowie nach einem ›hohen Grad ihrer Entwicklung‹, um der Besserung der Verhältnisse willen, legitimiert die Ausrichtung der Sowjetgesellschaft auf totale Produktivität. »Der Kapitalismus kann endgültig besiegt werden und wird dadurch endgültig besiegt werden, daß der Sozialismus eine neue, weit höhere Arbeitsproduktivität schafft.«23 Diese wird als der höhere Zweck gesetzt, welcher absolute Explikabilität und langfristige Harmonie garantiert: »Sowjetmacht plus Elektrifizierung«24. Mit ihm resurgiert die Forderung nach Abstraktion. An obigen Überlegungen lässt sich nun anknüpfen.

›Vergesellschaftete‹ Arbeit koinzidiert mit ›gesellschaftlicher‹ insofern, als beide ein nicht geringes Maß an Abstraktionsvermögen, an Bewusstsein und Aufgeklärtheit um der Identifikation willen bedürfen. Was ist gemeint? Wie der Wert einer Ware enthält auch die Arbeit eine Doppelform. Die Wertabstraktion reicht uns den Schlüssel, das duplizierte Innere der Ware zu dechiffrieren: ihren Gebrauchs- und Tauschwert. Sie vollzieht sich bewusstlos, nicht unbewusst. Die Bewusstlosigkeit entspringt der allgemein gültigen Äquivalentform zwischen Ware A und B, das heißt dem gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozess. Sohn-Rethel differenziert deshalb Real- und Denkabstraktion: bewusstloses und bewusstes Abstrahieren vom Gegenstand Ware.25 Abstraktion bezeichnet den Gang vom Gebrauchswert zum (Tausch-)Wert; Reduktion die umgekehrte Bewegung. Ebenso ergeht es der Arbeit, aus welcher Marx den Wert der Ware deriviert:

»Da die Tauschwerte der Waren nur gesellschaftliche Funktionen dieser Dinge sind und gar nichts zu tun haben mit ihren natürlichen Qualitäten, so fragt es sich zunächst: Was ist die gemeinsame gesellschaftliche Substanz aller Waren? Es ist die Arbeit. Um eine Ware zu produzieren, muß eine bestimmte Menge Arbeit auf sie verwendet oder in ihr aufgearbeitet werden. Dabei sage ich nicht bloß Arbeit, sondern gesellschaftliche Arbeit. Wer einen Artikel für seinen eignen unmittelbaren Gebrauch produziert, um ihn selbst zu konsumieren, schafft zwar ein Produkt, aber keine Ware. Als selbstwirtschaftender Produzent hat er nichts mit der Gesellschaft zu tun. Aber um eine Ware zu produzieren, muß der von ihm produzierte Artikel nicht nur irgendein gesellschaftliches Bedürfnis befriedigen, sondern seine Arbeit selbst muß Bestandteil und Bruchteil der von der Gesellschaft verausgabten Gesamtarbeitssumme bilden. […] Wie aber mißt man Arbeitsquanta? Nach der Dauer der Arbeitszeit, indem man die Arbeit nach Stunde, Tag etc. mißt. Um dieses Maß anzuwenden, reduziert man natürlich alle Arbeitsarten auf durchschnittliche oder einfache Arbeit als ihre Einheit26«.

Das Quantum an Arbeit, welches zur Herstellung einer Ware aufgewendet werden muss, heißt gesellschaftliche oder abstrakte Arbeit. Es ist die gesellschaftliche Formbestimmung der Arbeit. Sowohl der kapitalistische ›Reichtum der Nationen‹, als auch der sozialistische, ›vergesellschaftete Reichtum‹ führen eine in erster Linie abstrahierte Existenz. Es gilt hier das gleiche wie für Engels’ Obst, welches gleichermaßen existiert und nicht existiert: dilemmatische Ontologie. Auch ›vergesellschaftete Arbeit‹, ausschließlich zur Produktion von Gebrauchsgütern bestimmt, ist abstrakte Arbeit, sofern sie gemein ist und vom Besonderen sich distanziert. Mag sie inhaltlich konvertiert, gar revolutioniert sein, ist sie doch nur im Begriffe wirklich, da sie vom Ganzen her und auf es hin gedacht wird.

Hier schließt sich der Kreis und führt uns zurück zur Moral. Um den ersehnten Zustand gelingender Planwirtschaft und kommunistischer Gesellschaft zu erreichen, kam es zu ›Problemen des Übergangs‹. Unerreichtes wurde als Nichtidentisches in Kauf genommen, der Einzelne dem Ganzen subordiniert. Das Totum versprach ihn bald zu erlösen, wofern er nur den Glauben an es, dessen Sinn ja er selbst sei, nicht verliere. Von Beginn an drohte der realexistierende Sozialismus zugrunde zu gehen, weil jene Abstraktionsleistung, die jedes Ideal für sich beansprucht, vom Subjekt der Arbeit nicht genügend erbracht wurde. Dessen gewahr, suchte man in den jungen Volksrepubliken das nötige Bewusstsein mit Hilfe von Erziehung wie Bildung der Massen herbeizuführen. Ungebrochen blieb der Glaube an ein »richtiges Leben im falschen« (Adorno), an die Kongruenz von privatem und gesellschaftlichem Interesse. Schaff:

»Das, was also in dieser Hinsicht postuliert wird, ist auf den ersten Blick bescheiden und einfach, wenn auch weittragend in den Folgen: aus der Psyche der Menschen die Folgen der Warenwirtschaft zu beseitigen, insbesondere die Folgen der kapitalistischen Warenwirtschaft. Anders gesagt: Die Sache beruht darauf, daß der Mensch in der Überzeugung handle, daß sein richtig verstandenes Interesse ihm immer gebietet, das Interesse anderer Menschen zu respektieren, also das gesellschaftliche Interesse, und daß die so geformte Mentalität entsprechende Gebote und Verbote des Verhaltens im Rahmen der Normen enthalte, die für einen anständigen Menschen im alltäglichen Sinne des Wortes bezeichnend sind«27.

Das Einwirken auf das Bewusstsein des neu zu kreierenden sozialistischen Menschen bedürfe Zeit, ja ›Ausdauer‹. Was immer am Ende dabei herauskommt, ist mit Glück nicht gleichzusetzen. Marxistische Ethik ist kein Pendant aristotelischer Tugendlehre, welche durch das bürgerliche Gelöbnis auf die am Nicht-Bürger sich schuldig macht.

»Die Marxisten versprechen nur die Beseitigung – aber nicht einmal eine dauernde Beseitigung – der Ursachen des Massenunglücks, das heißt sie versprechen, die gesellschaftlichen Möglichkeiten eines glücklichen Lebens für den Einzelmenschen zu schaffen. Nicht mehr versprechen sie, aber damit versprechen sie sehr viel.«28

Die Moral des Marxismus definiert sich in ihrem Kern als Selbstvergesellschaftung, nicht als Unterpfand von Glückseligkeit: Einsichten der Chruschtschow-Ära.

Sowenig wie mit stoischer Askese und Illusion, ist marxistische Ethik mit deontologischen Modellen zu verwechseln. Dies sei gesagt, weil gerade der Neukantianismus innerhalb der moralphilosophischen Theoriebildung der Sowjetunion eine nicht unerhebliche Rolle spielte (Berdjajew, Tugan-Baranowsky etc.). Statt durch Bewusstseinsbildung Willen zu erzeugen, wurde hilflos an die blinde Pflicht dem Ganzen gegenüber appelliert. Abgeschnitten vom inneren Gefühl ihrer Adressaten, brachte sie das Zwanghafte kantischer Ethik ungeschmälert zur Geltung. Es wundert nicht weiter, wenn in der Praxis man auf gutes Gelingen vergeblich wartete.

Eine Untersuchung des »Moralbewusstseins« in sowjetischen Betrieben um 1970 ergab, dass »Gleichgültigkeit« und »Trunksucht«, gefolgt von »Bummelei« und »Verletzung der Arbeitsdisziplin« als »typische Abweichungen von den Normen der kommunistischen Moral«29 betrachtet wurden. Die »Normabweichungen« in jener sowjetischen Brigade könnten auch einen westlichen Industriebetrieb beschäftigen. Allein die Absicht des ›moralischen Überbaus‹ unterscheidet sich: Erhöhung der kollektiven Produktivität hier und des Kapitalprofits dort. Dem Arbeiter ist es am Ende einerlei. Das Trinken ist ihm nicht zu verübeln. Tugendappelle werden ausgegeben, um Subalterne am Denken zu hindern. Dies gilt auch für die nötigenden Versuche kapitalistischer Wirtschaftsethik, welche durch Verhaltenscodices das Heer der Angestellten auf die anonyme Totalität des Systems verpflichten. Dem einmal zugestimmt, sieht das Individuum, lustlos und leer geworden, sich so absorbiert, dass für Änderungen am Ganzen es zu spät scheint.

Die stille Allianz von bürgerlicher Wirtschaftsethik und sowjetischer Arbeitsmoral zu beschreiben, gelang bereits in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Herbert Marcuse:

»Arbeiten im Dienste des Sowjetstaats ist per se sittlich – die wahre Berufung des Sowjetmenschen. Die individuellen Wünsche werden diszipliniert; Versagung und harte Arbeit sind der Weg zum Heil. Die Theorie und Praxis, die zu einem neuen Leben in Freiheit führen sollten, werden in Instrumente verwandelt, die Menschen für eine produktivere, intensivere und rationellere Arbeitsweise zu trainieren. Was die kalvinistische Arbeitsmoral durch die Verstärkung irrationaler Angst vor den auf ewig verborgenen göttlichen Ratschlüssen erreichte, wird hier durch rationalere Mittel geleistet: ein befriedigenderes menschlicheres Dasein soll die Belohnung für die wachsende Arbeitsproduktivität sein. Und in beiden Fällen garantiert die weit nachhaltigere ökonomische und physische Gewalt ihre Wirksamkeit. Die Ähnlichkeit ist mehr als zufällig: die beiden Ethiken begegnen sich auf dem gemeinsamen Boden geschichtlicher ›Gleichzeitigkeit‹– sie reflektieren die Notwendigkeit, eine gut ausgebildete, disziplinierte Arbeitskraft zu schaffen, die es vermag, der ewigen Routine des Arbeitstages ethische Gesetzeskraft zu verleihen und auf immer rationellere Weise stets ansteigende Gütermengen zu erzeugen, wobei die vernünftige Anwendung dieser Güter für individuelle Bedürfnisse durch die ›Umstände‹ stets mehr hinausgezögert wird. In diesem Sinne bezeugt die sowjetische Ethik die Ähnlichkeit zwischen der Sowjetgesellschaft und der kapitalistischen Gesellschaft.«30

Gemein ist beiden Systemen weiter, dass sie, obgleich auf Produktion bezogen, ebenso alles Private sich einverleiben. So hat auch das menschliche Triebleben seine Autonomie verloren.

»Das [sowjetische] Lob der monogamen Familie und der Freude und Pflicht ehelicher Liebe erinnert an die klassische ›kleinbürgerliche Ideologie‹, während die Auflösung der Privatsphäre die Wirklichkeit des zwanzigsten Jahrhunderts widerspiegelt. Der Kampf gegen Prostitution, Ehebruch und Scheidung beschwört dieselben sittlichen Normen wie im Westen, während die Erfordernisse der Geburtenziffer und des verstärkten Energieaufwands für wettbewerbliche Arbeit als Manifestationen des Eros gepriesen werden.«31

Die kapitalistische Wirtschaftsethik ist keine Erfindung unserer Tage. Da schon im 19. Jahrhundert mit ihr unglücklich experimentiert wurde, ist ihren aktuellen Repräsentanten (Sen, Ulrich, Wieland etc.) neben Klasseninteresse auch Regression vorzuwerfen. Es ist der idealistische Versuch, die Gesamtstruktur nicht zu gefährden, indem ›rechtzeitig‹ karitative Maßnahmen ergriffen werden. Engels erkannte dieses Phänomen als

»die alten Redensarten von der Harmonie der Interessen von Kapital und Arbeit. Wenn die Kapitalisten ihr wahres Interesse kennten, würden sie den Arbeitern gute Wohnungen liefern und sie überhaupt besserstellen; und wenn die Arbeiter ihr wahres Interesse verständen, würden sie nicht streiken, nicht Sozialdemokratie treiben, nicht politisieren, sondern hübsch ihren Vorgesetzten, den Kapitalisten folgen. Leider finden beide Teile ihre Interessen ganz woanders […]. Das Evangelium der Harmonie zwischen Kapital und Arbeit ist nun schon an die fünfzig Jahre gepredigt worden […]. Und wie wir später sehen werden, sind wir heute grade so weit wie vor fünfzig Jahren.«32

Theoretischen Vertretern ökonomischer Harmonie- und Kompromissgläubigkeit wie Proudhon, wirft Marx politischen Indifferentismus und Mutualismus vor. Es ist die Angst vor der Tatsache der Differenz, welche jene »Apostel« sich nicht eingestehen, und der Glaube, dass das »Gute« und die »ewigen Prinzipien« am Ende siegen werden, wenn das Proletariat nur mehr Geduld und Verständnis aufbrächte. »Wir müssen nichtsdestoweniger anerkennen, daß sie die 14 oder 16 Arbeitsstunden, die auf den Fabrikarbeitern lasten, mit einem Stoizismus ertragen, der der christlichen Märtyrer würdig ist.«33 Dieser Argumentation treu, wandte Lenin sich in Was tun? gegen die Methoden der russischen Sozialdemokraten, welchen er »Trade-Unionismus« vorhielt, da sie sich auf den Gang durch öffentliche Institutionen (Parlament, Gewerkschaften etc.) einließen, um auf ›legalem‹ Wege den begehrten Umsturz zu erwirken. Ausschließlich die Revolution könnte jedoch die Harmonie totaliter leisten, so der Verfasser.

Die Behandlung der Symptome im kapitalistischen Wirtschaftssystem dient der Ablenkung vom Wesentlichen. Die Ursachen bleiben unberührt, die Diagnose ungenannt. Es ist die Trägheit der Struktur als ganzer, als gegebener, welche die Kräfte des Subjekts bindet. Innerhalb dieses Schicksals eine Variation zu leben, mag sie größer oder kleiner ausfallen, bedeutet in Wahrheit, sich in es zu fügen, gar es zu bestätigen, »confirmer«, wie Sartre sagt:

»Tel ouvrier quitte une usine où les conditions de travail sont particulièrement mauvaises pour aller travailler dans une autre, où elles sont un peu meilleures. Il ne fait que définir les limites entre lesquelles son statut comporte quelques variations […] mais il confirme par là même son destin général d’exploité.«34

Die Pluralität der Moral des Kapitalismus entspricht der Trennung seiner gesellschaftlichen ›Sphären‹ und deren Interessen: Wirtschaft, Staat, Religion etc. Ein je eigener Ethos bildet dort sich heraus. ›Bereichsspezifische‹, ›angewandte‹ Ethik findet als Alibi Verwendung, um ungeniert in dem fortzufahren, was zur Scham Anlass bietet. Diese Polytomie des Ethischen will der Marxismus mittels der Verbrüderung von Individuum und Gesellschaft sowie der Aufhebung der Klassen beseitigt wissen. Die moralische Konkordanz kann ihm nur durch die Veränderung des Ganzen gelingen. Konkrete Probleme treten in der sozialistischen Gesellschaft dann auf, wenn Reste aus überkommenen feudalen oder bürgerlichen Moralsystemen mit der neuen, marxistischen Ethik kollidieren. Gemeint seien religiöse und rassistische Vorurteile sowie allgemein die Diskriminierung von Minderheiten. Unter diesen, durch lokale Traditionen erschwerten Umständen die ›Schöpfung des neuen Menschen‹ zu inszenieren, können wir uns mit Recht als besondere Schwierigkeit denken. Die sowjetische Sozialphilosophie ließ sich nicht davon abbringen, für solcherlei Konflikte, mochten sie noch so spezifisch sein, praktische Lösungen zu finden. So entstanden in der UdSSR paradigmatisch

»viele moralische Konflikte in den Städten auf Grund der Enge in Gemeinschaftswohnungen. Der intensive Wohnungsbau beseitigt viele Standardkollisionen moralischer Art aus dem Leben der Städte. Die wesentlichen Unterschiede [der] Lebensbedingungen in der Stadt und auf dem Land führen immer noch dazu, daß der energischste Teil der Jugend aus den Dörfern fort in die Städte geht.«35

Mit der Aufhebung der kulturellen Differenz zwischen Stadt und Land würden, so die optimistische Vorstellung, auch jene ›Kollisionen‹ rasch beseitigt. Übersetzt: Handgreiflichkeiten unter rivalisierenden Jugendgruppen russischer Metropolen wollen sich nicht zum Bild des ›guten Sowjetmenschen‹ fügen. Dass urbane Aggression, welche an rustikaler Minorität sich entlädt, nicht nur strukturell, sondern auch psychologisch zu verorten ist,36 bleibt ein Defizit der Moralforschung überhaupt. Unnötigerweise – Sartre beklagt dies ausführlich in Questions de méthode – mied der sowjetische Marxismus die Erkenntnisse der Psychoanalyse Freuds.

Den hier dargestellten Versuch einer Vereinigung der Moral auf das Ziel der Veränderung des Ganzen hin, zum Wohle aller partizipierenden Individuen, bezeichnet Marcuse als »Politisierung der Ethik«. Zugleich macht er darauf aufmerksam, dass die »Politisierung der Ethik« sowohl am Anfang wie am Ende der abendländischen Philosophie stünde. Was ist gemeint? Von Platon bis Hegel existiere eine Tradition, nach welcher die Individual-Ethik sich jener der res publica unterwerfe. Wenn nämlich die »Idee des Guten« zu ihrer Verwirklichung oder zur Annäherung an diese der Polis bedürfe, dann sei das Gute nur im bios politikos erreichbar, und die Polis verkörpere die »absoluten sittlichen Maßstäbe«, so Marcuse:

»Ethische Wahrheit ist somit politische Wahrheit, und politische Wahrheit ist absolute Wahrheit. Wesentlich dieselbe Auffassung lebt in der Marxschen Theorie weiter, insbesondere in der Behandlung der Ideologie. Wir haben bemerkt, daß sowjetische Darlegungen über die geistige Kultur bis in ihre Formulierungen hinein an Platons Staat und die Gesetze erinnern«37.

Die Macht, welche das ›Verschwinden‹ der unabhängigen Moralphilosophie und die Auflösung der privaten sittlichen Werte bewirke, sei die Geschichte. Der Fortschritt der westlichen Zivilisation selbst habe die Überführung der inneren Werte in äußere Verhältnisse, der subjektiven Ideen in objektive Realität und der Ethik in Politik auf die Tagesordnung gesetzt. Wenn Hegel die Vernunft als Geschichte interpretierte, habe er in einer idealistischen Formulierung den Marx’schen Übergang von der Theorie zur Praxis vorweggenommen. Der historische Prozess habe die materiellen wie geistigen Vorbedingungen für die Verwirklichung der Vernunft (Hegel) in der Organisation der Gesellschaft (Marx) geschaffen, für das Konvergieren von Freiheit und Notwendigkeit.

Es gilt also die Freiheit des Einzelnen als Notwendigkeit des Ganzen sowie die Notwendigkeit des Einzelnen als Freiheit des Ganzen zu erhalten und stets neu ins Werden zu setzen. In der Konsistenz demokratisch institutionalisierter Diskurse hat die dialektische Spannung zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft fruchtbar ausgetragen zu werden. So allein wird es möglich, die Teile und das Totum, aus der Sklerose ihrer Beziehung, vom Nihil zum Novum, von bloßer Differenz zu wahrer Identität zu führen.

Resümee

Gerade die Zergliederung des Ethos unter Beibehaltung der Entfremdungsbedingungen gereicht der Profitwirtschaft zum Vorteil. Aus diesem Grunde erkennt sie es als ihre tückische Pflicht, einer Änderung des Ganzen entgegenzuwirken. Erst die Vereinigung moralischer Prinzipien auf die Emanzipation des entfremdeten Subjekts und seiner Selbstvergesellschaftung hin könnte neue Möglichkeiten einer in toto stimmigen Ethik eröffnen. Grundlage und Leitidee vermag ihr jener (allein gültige) »kategorische Imperativ« zu sein, den Marx selbst formuliert: »[…] alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.«38

Die nicht abgegoltene Wirkmacht marxistischer Moral besteht in ihrer anspruchsvollen, aus der geschichtlichen Materie und materiellen Geschichte deduzierten Reflexion. Sie ist als »Umschlagsmoment« mit Potenz zur »konkreten Utopie« (Bloch) zu begreifen und für einen verbesserten Fortgang gesellschaftlicher Praxis zu nutzen. Nicht nur demaskiert sie die Tartüfferien des Kapitals, sondern auch die seiner ›moralischen‹ Regulierungsversuche. Unbeschadet ihrer guten Absichten, permaniert als Fauxpas ihre Angst vor psychoanalytischer Vertiefung. Allein die Furcht vor einem Zuviel an subjektiven (Trieb-)Kräften und emanzipiertem Ich bietet als Deutung sich an. Marx’ Aktualität wie Rezeption entscheidet die Frage, ob Individuum und Gesellschaft sich bestimmen lassen oder sich selbst wollen.

Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 34/35

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