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Chronik (4) Das ‚Potsdamer Modell‘ der IG BCE und die Ausdehnungsvereinbarung der IG Metall in Sachen Zeitarbeit:
Kleine aber feine Fortschritte deutscher Tarifpolitik Das ‚Potsdamer Modell‘
ОглавлениеEin gutes Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung hat sich die IG BCE ein hohes tarifpolitisches Ziel gesetzt, nämlich die Angleichung der Regelarbeitszeit in der ostdeutschen Chemie-Branche von 39 Stunden auf das West-Niveau von 37,5 Stunden, und das bei vollem Lohnausgleich. In diesem Unterschied zwischen Ost und West macht sie den entscheidenden Grund dafür dingfest, dass im Osten die Chemie nicht stimmt. Im Mai 2017 ist es dann nach insgesamt zweijährigen Verhandlungen endlich so weit, in Potsdam werden alle Ziele „zu 100 % erreicht“ und die IG BCE kann in ihrer Kampagnenzeitung frohlocken: „90 Minuten mehr Freizeit: Jetzt stimmt die Chemie!“
Eine einzige Erfolgsgeschichte also. Abhaken muss man dafür nur, dass zum einen eine derart aus dem Rahmen fallende Errungenschaft hier und heute nicht anders zu haben ist denn in Gestalt der Aussicht auf ihre Umsetzung in realistischen Drittelportionen von 2019 an, bis in sechs Jahren dann die Chemie endgültig stimmt: „2023: In diesem Jahr wird der letzte materielle Unterschied zwischen den Beschäftigten der Chemie in Ost und West wegfallen.“ Und zum anderen darf man die „90 Minuten mehr Freizeit“ keineswegs damit verwechseln, dass 37,5 Stunden von 2023 an so etwas wie eine Regelarbeitszeit wären. Das hieße nämlich, die Verfügbarkeit ostdeutscher Chemie-Arbeitskraft zu beschränken, und dazu hat der Verhandlungsführer der Gegenseite gleich zu Beginn das Nötige klargestellt: „Wenn alle weniger arbeiten, bräuchten wir auf einen Schlag mehr Arbeiter, wo sollen wir die herbekommen?“ (Thomas Naujoks, rbb-online.de, 21.11.16) Diese Sorge erspart das ‚Potsdamer Modell‘ den Arbeitgebern mehr als gründlich, indem es gleich überhaupt „die Tradition einer brancheneinheitlichen Arbeitszeit zur Restgröße macht“:
„Im Normalfall sollen künftig Betriebsrat und Geschäftsführung festlegen, welche Wochenarbeitszeit jeweils als Vollzeitarbeit gilt, abhängig davon, was sich die Beschäftigten wünschen und welches Arbeitszeitvolumen der Betrieb benötigt. Je nach Höhe variiert dann auch der Monatslohn. Die Grenzen setzt ein neuer tariflicher Korridor von 32 bis 40 Stunden je Woche. Auch für einzelne Betriebsteile oder Arbeitnehmergruppen, etwa Schichtarbeiter, soll die vereinbarte Vollzeitarbeit unterschiedlich ausfallen können. Daneben sollen die Betriebsparteien zusätzlich einen ‚individuellen Korridor‘ einführen können.“ (FAZ, 10.5.17)
Der große Erfolg der Kampagne „Keine Zeit zu verschenken“ heißt also im Klartext: Zwischen dem nahezu Fünffachen von „90 Minuten mehr Freizeit“ – mit entsprechenden Abschlägen – und der Überschreitung sogar der bisherigen 39 Stunden als neue Normalarbeitszeit ist alles drin. Und was am Ende praktisch für die verschiedenen Beschäftigten der einzelnen Betriebe herauskommt, welches Arbeitsvolumen der Betrieb in seinen verschiedenen Abteilungen nämlich jeweils gerade benötigt, das teilt ihnen ihr Betriebsrat mit... Dass sich die Umsetzung der errungenen Arbeitszeitreduzierung derart einsinnig als flexibles Disponieren der Betriebe über die Arbeitszeit ihrer Angestellten buchstabieren kann, ohne größere Irritationen auszulösen, hat seinen einfachen Grund darin, dass diese Freiheit in Potsdam nicht erst hergestellt wird, sondern der Einigung als ‚Normalfall‘ längst vorausgesetzt ist. Ein kleiner Überblick über die Arbeitszeitmodelle der Vor-Potsdam-Ära:
„Durch Vereinbarung auf betrieblicher Ebene kann für einzelne Betriebsteile oder größere Arbeitnehmergruppen eine längere oder kürzere Wochenarbeitszeit festgelegt werden. Hierfür steht ein Korridor zwischen 35 und 40 Wochenstunden zur Verfügung. Bezahlt werden die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden... Die festgelegte Wochenarbeitszeit muss nicht in jeder einzelnen Woche, sondern kann im Rahmen eines ‚Verteilzeitraums‘ von bis zu 36 Monaten durchschnittlich erreicht werden... Mehrarbeit – also Arbeitsstunden, die über die vereinbarte Wochenarbeitszeit hinausgehen und nicht im Rahmen eines Verteilzeitraumes (s.o.) ausgeglichen werden – wird gemäß Chemietarifvertrag nicht mehr bezahlt, sondern durch Freizeit ausgeglichen. Wenn der Zeitausgleich innerhalb eines Monats erfolgt, fällt auch kein Mehrarbeitszuschlag an. Dadurch gibt es in der Chemie praktisch keine bezahlten Überstunden mehr... Die verschiedenen Flexibilisierungsmaßnahmen können weitgehend miteinander kombiniert werden.“ (www.bavc.de)
Die Beschäftigten der Chemie-Branche sind also bereits gut vertraut mit einem eher losen Zusammenhang der von ihrer Gewerkschaft ausgehandelten Wochenarbeitszeit und ihrer eigenen Arbeitswoche, damit nämlich, dass so viel oder so wenig gearbeitet wird, wie ihr Betrieb ansagt – und bezahlte Überstunden kennen sie nur noch vom Hörensagen. Was da in den Betrieben längst am Werk ist, ist nicht einfach Wildwuchs, sondern die Anwendung des bestehenden Flächentarifvertrags, den die IG BCE im Zusammenspiel mit ihrem Sozialpartner in den letzten Jahren mittels „Flexibilisierungen, Öffnungen und Optionen“ zu dem absurden Konstrukt eines ausgeklügelten Systems der Abweichungen von der branchenverbindlichen Regelarbeitszeit ausgearbeitet hat. Auf dieser soliden Grundlage fußt der gestalterisch-modellbildende Fortschritt, den die IG BCE sich zugutehält: „Mit dem Potsdamer Modell haben wir einen zukunftsweisenden Abschluss. Arbeitszeit betrieblich innerhalb fester Leitplanken bedarfsgerecht festzulegen, ist bundesweit einmalig.“ (Peter Hausmann, Verhandlungsführer der IG BCE, 9.5.17) Das Eigenlob ist wirklich gekonnt: Die Gewerkschaft hat einen zukunftsweisenden Abschluss erreicht, der vorsieht, die Arbeitszeit betrieblich festzulegen! Den Schein universeller und verbindlicher Zuständigkeit für diese Frage, bis eben mühevoll in Form flächendeckend zugestandener Ausnahmeregeln aufrechterhalten, behandelt die IG BCE einfach als Geschwätz von gestern und stellt das Resultat entschieden konstruktiv vom Kopf auf die Füße: Dann ist eben die praktisch ohnehin von den Arbeitgebern errungene betriebliche Freiheit der Arbeitszeitgestaltung der positive Ausgangspunkt, und der betriebliche Bedarf avanciert in aller Form zum flexibel-normsetzenden Kriterium für „Vollzeit“ – natürlich nur unter dem Schutzschirm einer garantiert zukunftsfesten gewerkschaftlichen Regelungsmacht, die dafür feste Leitplanken setzt. Und die sind schon ein interessantes Bild, unterstellen sie doch – einmal ernst genommen – den betrieblichen Umgang mit der Arbeitszeit als irgendwie unbekömmliche Praxis, die es einzuhegen gilt. Diese eher rückwärtsgewandte Sicht verschwindet ganz hinter der zukunftsweisenden Deutung der IG BCE, dass ihre Leitplanken die Sache im guten Sinn regeln; sie ist bei den Betriebsparteien in besten Händen, sind doch deren Festlegungen quasi automatisch ‚bedarfsgerecht‘ für beide Seiten – andernfalls würden sie sich ja nicht darauf einigen.
Wenn die von der IG BCE gesetzten Leitplanken den Spielraum dessen abgeben, was am Ende für die Arbeitnehmer an Arbeitszeitmodell herauskommt, definieren sie recht betrachtet auch den Freiraum für deren „bedarfsgerechte Flexibilität“. Insofern ist die Ausweitung, die die alten Korridore im Zuge ihrer Umwidmung zu nun aber wirklich festen Leitplanken erfahren, gleichzeitig eine Erweiterung der Möglichkeiten der Arbeitnehmer, für die die Gewerkschaft den ganzen Aufwand schließlich betreibt, und die Gewerkschaftsfunktionäre stehen nicht an, den Beschäftigten zu erklären, welche Perspektiven sich ihnen damit auftun. Z.B. der Landesbezirksleiter Nordost im Selbstinterview der Kampagnenzeitung:
„Ich kann mich gut daran erinnern, wie ich nach der Ausbildung in der chemischen Industrie übernommen wurde. Da steht man plötzlich vor der Frage, ob man bis zur Rente in einer gleichbleibenden Wochenarbeitszeit arbeiten will. Dabei ist doch klar, dass es Phasen gibt, in denen ich mal weniger arbeiten will. Wenn ich mich zum Beispiel um meine Kinder oder Hobbys kümmern möchte. Oder ich möchte wieder mehr arbeiten, wenn die Kinder aus dem Haus sind und Langeweile aufkommt. Hier brauchen wir einfach mehr Flexibilität. Wie schafft der neue Manteltarifvertrag diese Flexibilität? Indem er die Möglichkeit schafft, dass Betriebsrat und Arbeitgeber im Betrieb oder in Betriebsteilen eine betriebliche Arbeitszeit festlegen können. So können sie zum Beispiel gesundheitsschonendere Schichtsysteme entwickeln.“
Wenn das tatsächliche Ausschöpfen der großartigen neuen Möglichkeiten, Beruf und Familie mittels Lohneinbußen besser vereinbar, Schichtarbeit länger aushaltbar und das Rentenalter durch lebensphasengerechtes Haushalten mit der vorgegebenen Lebensarbeitszeit am Arbeitsplatz erreichbar zu machen, dem Betriebsrat überantwortet wird, dann ist gleich zweierlei garantiert. Erstens natürlich, dass dieses Gremium, nach entsprechenden gewerkschaftlichen Schulungen „mit richtig guten Ideen und Projekten“ ausgestattet, in der Umsetzungsphase ab 2019 auch wirklich das Beste für die Arbeitnehmer herausholt. Und zweitens die Beachtung der entscheidenden Prämisse aller guten Ideen: Verantwortungsvolle Arbeitnehmervertreter vor Ort wissen auch ohne Blick in das Betriebsverfassungsgesetz, dass Gesundheitsschonung und die Möglichkeit zur Hobbypflege im Betriebswohl ihr hartes Kriterium haben – alles andere würde ja die Arbeitsplätze selbst aufs Spiel setzen, die da arbeitnehmergerecht gestaltet werden sollen.
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Gewerkschaftliche Interessenvertretung durch ihre Überantwortung an den Betriebsrat – dieser fortschrittliche Schachzug bleibt nicht der IG BCE vorbehalten: