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FIKTIVE WAREN UND DREI WELLEN DER VERMARKTLICHUNG

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Was fiktive Waren sind und wie öffentliches Gut zu privatem Kapital wird. Karl Polanyi lesen und weiterdenken

MICHAEL BURAWOY

Nach der Finanzkrise 2008 waren zunächst zahlreiche neue progressive Protestbewegungen weltweit zu beobachten. Inzwischen sind auch rechtspopulistische Kräfte erstarkt. Mit Karl Polanyis Buch „The Great Transformation“ analysiere ich „Vermarktlichung“ vom Standpunkt der sozialen Bewegungen aus, die sie hervorbringt, um darüber hinaus historisch drei Wellen zu unterscheiden.

Die fiktive Ware: von der Kommodifizierung zur Exkommodifizierung

Das zuerst 1944 veröffentlichte Buch Polanyis ist eine schneidende Abrechnung mit der Bedrohung, die der überdehnte Markt für das Überleben der Gesellschaft darstellt. Diese Bedrohung ist so schrecklich, dass sie – bei Strafe des Untergangs – die Selbstverteidigung der Gesellschaft auf den Plan rufen muss. Um die gelebte Erfahrung der Vermarktlichung und die Möglichkeit ihrer Umkehr zu verstehen, ist Polanyis Konzept der „fiktiven Ware“ besonders nützlich. Darin beschreibt er den destruktiven Charakter der Kommodifizierung.

Polanyi behauptet, dass Arbeit, Boden und Geld – als drei Produktionsfaktoren – nie dazu gedacht waren, gekauft und verkauft zu werden, und dass ihre unreglementierte Kommodifizierung (ihr Zur-Ware-Werden) ihren „wahren“ oder „wesentlichen“ Charakter zerstöre. Wenn Arbeitskraft ohne Schutz vor Verletzungen oder Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Überbeschäftigung bleibt oder gegen Löhne unterhalb des Subsistenzniveaus ausgetauscht wird, schwindet die Arbeit, die aus ihr gewonnen werden kann, bald dahin und verkehrt sich in Nutzlosigkeit. Auch wenn Boden, oder allgemeiner die Natur, der Kommodifizierung ausgeliefert wird, lassen sich die Grundbedürfnisse des menschlichen Lebens bald nicht mehr decken. Wenn Geld schließlich dazu verwendet wird, Geld zu machen, zum Beispiel durch Währungsspekulation, dann wird sein Wert so unsicher, dass es nicht mehr als Tauschmittel verwendet werden kann; so werden Unternehmen lahmgelegt und Wirtschaftskrisen generiert. Heute müssen wir eine vierte fiktive Ware hinzufügen: das Wissen, einen Produktionsfaktor, der nicht nur ein wesentlicher Bestandteil der modernen Wirtschaft, sondern für die Produktion der anderen drei Faktoren entscheidend ist.

Wie haben fiktive Waren daran teil, dass die gelebte Erfahrung der Vermarktlichung in spezifischer Weise geprägt wird? Inwiefern trägt die Kommodifizierung von Arbeit, Boden, Geld und Wissen zu sozialen Bewegungen bei? Polanyi weist darauf hin, dass der Tauschakt selbst gegen das Wesen von Boden, Geld und Arbeit verstößt. Menschenhandel oder Handel mit menschlichen Organen können solche Abscheu hervorrufen, dass es zu sozialen Bewegungen kommt. Aber das werden wahrscheinlich keine Bewegungen derjenigen sein, die Opfer von Menschenhandel sind oder die ihre Organe verkaufen. Alternativ können soziale Bewegungen eine Antwort auf die Aufhebung von Schutzmaßnahmen gegen Kommodifizierung sein, etwa wenn Sozialleistungen gekürzt, den Gewerkschaften ihre Vertretungsrechte entzogen, Arbeitsrechte verletzt oder zurückgenommen werden.

Es gibt jedoch auch andere Methoden, den Bewegungen Antworten auf die Kommodifizierung zuzuschreiben, die sich vom Tauschprozess unterscheiden. Polanyi geht kaum auf die Prozesse ein, durch die Dinge in Waren verwandelt werden, Prozesse, bei denen die Ware aus ihrer sozialen Hülle entbettet wird. Marx hatte mit seiner „ursprünglichen Akkumulation“ die Landenteignung im Blick, die zur Schaffung einer von Lohnarbeit abhängigen Erwerbsbevölkerung führte. Heute ist die Enteignung der bäuerlichen Landbevölkerung dazu bestimmt, Land zu kommodifizieren, statt abhängige Arbeitskräfte zu schaffen. Worin auch immer ihr Ziel bestand, die Landenteignung hat viel entschlossenen Widerstand hervorgebracht. Die Enteignung handwerklichen Wissens hat historisch gleichfalls sehr viel Protest ausgelöst. Heute geht es jedoch nicht nur um die Dequalifizierung der Arbeitskräfte, sondern um die Aneignung und Kommodifizierung des Produkts, nämlich des Wissens selbst. Bei der Privatisierung der Universitäten zum Beispiel umfasst die Enteignung die Umwandlung des Wissens aus einem öffentlichen Gut in marktfähiges Kapital. Auch dies ist eine Ursache für so manchen Protest.

Fiktive Waren als Quellen sozialer Bewegungen

Ungleichheit
Exkommodifizierung ARBEIT (Prekarität)
Kommodifizierung GELD (Schulden)
Enteignung
Exkommodifizierung NATUR (Zerstörung)
Kommodifizierung WISSEN (Privatisierung)

Neben der Enteignung, die die Ware hervorbringt, ist die zunehmende Ungleichheit, die aus der Kommodifizierung folgt, eine Quelle sozialer Bewegungen. So ist beim Verkauf der Arbeitskraft „Prekarität“ zur beherrschenden Erfahrung wachsender Bevölkerungsanteile geworden. Die Kommodifizierung der Arbeitskraft ist durch die Kommodifizierung des Geldes noch verschärft worden, bei der Geld aus Geld gemacht wird, indem man mit den Schulden spekuliert.

Ein weiterer Prozess, den Polanyi übersah, ist zu nennen: die Exkommodifizierung, die Ausscheidung von Dingen aus dem Markt, die früher Waren gewesen, es jetzt aber nicht mehr sind. Exkommodifizierung greift den Gedanken auf, dass es Unmengen nützlicher Dinge gibt, die zu ihrem Nachteil vom Markt ausgeschieden werden. Angesichts der Exkommodifizierung kann Kommodifizierung eine sehr attraktive Perspektive sein. In Bezug auf Arbeit machen die überzähligen Arbeitskraftreserven, die auf der ganzen Welt zunehmen, es zu einem Privileg, ausgebeutet zu werden. Riesige Populationen werden ins Exil getrieben oder auf den informellen Sektor der Wirtschaft beschränkt, wo sie ihr Dasein von der Hand in den Mund fristen. In Bezug auf die Natur führt ihre Einbeziehung in die kapitalistische Wirtschaft zu Verschwendung, aber oft ist auch die Abwesenheit des Marktes für ihre Unterbewertung verantwortlich. Wir können die Natur ausplündern, weil ihr Marktwert unbedeutend ist. Ganz anders verhält es sich mit Wissen und Geld, wo die Kommodifizierung nicht zu Verschwendung führt, sondern zu einer verzerrten Anwendung: Die Produktion von Wissen wird auf diejenigen abgestellt, die es bezahlen können, während die Produktion verschiedener Geldmittel dazu verwendet wird, aus Schulden Gewinn zu erzielen.

Über die Merkmale der fiktiven Waren hinaus ist es wichtig, ihre Wechselbeziehungen in bestimmten historischen Kontexten zu untersuchen. Soziale Bewegungen müssen nicht als Reaktion auf die (Ex-)Kommodifizierung einer einzigen fiktiven Ware begriffen werden, sondern als Reaktion auf die Verbindung der (Ex-)Kommodifizierung von Arbeit, Geld, Natur und Wissen. So zeigte sich im Arabischen Frühling die Überschneidung der Prekarisierung von Arbeit mit der Verschuldung durch Mikrokredite als Protestmotiv; Studierendenproteste können in Bezug auf die Prekarisierung der Arbeit und die Privatisierung der Wissensproduktion untersucht werden; Umweltbewegungen liegen an der Schnittstelle von Zerstörung oder Kommodifizierung der Natur und Prekarisierung von Arbeit. Dieses Gerüst fiktiver Waren ermöglicht es, die Triebkräfte in den Blick zu nehmen, die Protesten zugrunde liegen. Die Verbindung der (Ex-)Kommodifizierung der fiktiven Waren kann außerdem verwendet werden, um historische Perioden der Vermarktlichung zu unterscheiden und zu verstehen.

Polanyi dachte, wir würden mit Marktfundamentalismus nie wieder experimentieren

In Wahrheit verwendet Polanyi wenig Aufmerksamkeit auf fiktive Waren, er ist stärker damit beschäftigt, seine majestätische Geschichte zu entwickeln. Diese beginnt mit dem Fortschritt der Vermarktlichung am Ende des 18. Jahrhunderts und endet in den 1930er-Jahren mit einer Gegenbewegung, die neue Formen der staatlichen Regulierung mit sich bringt: sowohl solche, die Freiheiten fördern, wie der New Deal und die Sozialdemokratie, als auch solche, die Freiheiten einschränken, wie Faschismus und Stalinismus. Die doppelte Bedrohung – für das Überleben der Gesellschaft und dann für die als Reaktion auf die Zerstörung der Gesellschaft verwüstete Freiheit – brachte Polanyi dazu zu glauben, dass die Menschheit nie wieder mit dem Marktfundamentalismus experimentieren würde. Er irrte sich. Ab 1973 kam eine neue Runde des Marktfundamentalismus in Gang, die weitreichende Folgen für die Geschichte des Kapitalismus und die Besonderheit der gegenwärtigen Zeitläufe hatte.

Drei Wellen der Vermarktlichung und die Gegenbewegungen

Im Rückblick auf die von Polanyi untersuchte Geschichte der kapitalistischen Gesellschaft und die Entwicklung seither kann man drei Wellen der Vermarktlichung ausmachen, jeweils mit der dazugehörigen realen oder (im Falle der dritten Welle) potenziellen Gegenbewegung. Mit Bezug auf die englische Geschichte – dem Schwerpunkt von Polanyis Analyse – kann man sagen, dass die erste Welle am Ende des 18. Jahrhunderts mit dem Speenhamland-Gesetz von 1795 beginnt, das zu einem Hindernis für die Entwicklung eines nationalen Arbeitsmarktes wurde, der sich erst mit dem neuen Armengesetz von 1834 herauskristallisieren sollte. Mit der Aufhebung des Speenhamland-Gesetzes und der Freisetzung der Marktkräfte setzten auch Gegenbewegungen ein, mit denen die Gesellschaft sich zu schützen suchte: die Bildung einer Arbeiterklasse vermittels der Fabrikbewegung, der Genossenschaften und Gewerkschaften, des Chartismus und der Gründung einer politischen Partei, Fabrik- und Sozialgesetze.

Die zweite Welle der Vermarktlichung begann nach dem Ersten Weltkrieg mit einem erneuten Aufstieg des Marktes, der die Rekommodifizierung der Arbeit und die Öffnung des freien Handels auf der Grundlage des Goldstandards umfasste. Das funktionierte sehr gut für so mächtige Länder wie die USA und Großbritannien, aber für konkurrierende Länder wie Italien und Deutschland führten die Zwänge der starren Wechselkurse zu einem katastrophalen Rückgang der Wirtschaft und grassierender Inflation. Das führte dazu, dass sie mit der internationalen Wirtschaft brachen und sich einem rückschrittlichen System der Marktregulierung zuwendeten. Mit der Wirtschaftskrise, der nur durch Staatsintervention und (einer in diesem Fall fortschrittlichen) Marktregulierung entgegengewirkt wurde, fiel dies auf die USA und das übrige Europa zurück. Nach der Niederlage des Faschismus im Zweiten Weltkrieg setzten sich liberalere Regime durch. Auch in der UdSSR gab es in den 1950er-Jahren eine gewisse Liberalisierung. Im fortgeschrittenen Kapitalismus wurde diese Periode in der Ökonomie vom Keynesianismus und einem „eingebetteten Liberalismus“ beherrscht und in der Soziologie vom Ende der Ideologie, um dann mit dem Aufschwung der sozialen Bewegungen in den 1960er-Jahren aufgesprengt zu werden.

Die dritte Welle, die Polanyi nicht erwartet hatte, beginnt im Jahre 1973 mit der Energiekrise, sie wurde später unter dem Stichwort „Washington Consensus“ beschrieben und bekam großen Auftrieb durch die Regierungen von Margaret Thatcher und Ronald Reagan in Gestalt eines erneuten Angriffs auf die Arbeit. Im Laufe der Zeit hat sie sich mit dem Aufstieg der Finanzwirtschaft als eine Ära der Rekommodifizierung des Geldes und der verschärften Kommodifizierung der Natur, das heißt von Luft, Boden und Wasser, erwiesen. Diese dritte Welle der Vermarktlichung führte zum Zusammenbruch des Staatssozialismus und bezog aus ihm neue Energien. In Lateinamerika kam die Strukturanpassung genau zu dem Zeitpunkt, als die Diktaturen fielen, was zu Experimenten in partizipativer Demokratie führte. Während die Wellen der Vermarktlichung in den Kernländern in einem Zeitraum von mehr als zwei Jahrhunderten aufeinanderfolgten, wurden die Länder an der Peripherie in sehr rascher Folge mit ihnen konfrontiert, sodass sie umso explosiver wirkten.

Es hat nationale Reaktionen auf die Vermarktlichung gegeben – etwa in Gestalt eines islamischen Nationalismus oder sozialistischer Schattierungen in Lateinamerika –, aber sie können die dritte Welle der Vermarktlichung nicht umkehren. Dazu bedarf es einer planetarischen Reaktion auf die globale Reichweite des Finanzkapitals und die heraufziehende Umweltkatastrophe, die eine Bedrohung für die ganze Erde ist. Das Finanzkapital ist allerdings die treibende Kraft hinter der Prekarisierung der Arbeit – ihrer Rekommodifizierung ebenso wie ihrer dementsprechenden Exkommodifizierung – sowie der steigenden Verschuldung, nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch auf der Ebene der Gemeinde, der Stadt, des Staates und der Region. Das Finanzkapital hat Wissen zur Ware gemacht und seine Produktion vorangetrieben, gemeinsam haben sie sich die Natur einverleibt, als eine Akkumulationsstrategie des Kapitals. Eine Gegenbewegung wird einen globalen Charakter annehmen und mit Bezug auf die Menschenrechte formuliert werden müssen, da das Überleben der menschlichen Spezies auf dem Spiel steht.

Es stellt sich die Frage, wo genau wir uns auf der Kurvenlinie der dritten Welle der Vermarktlichung befinden. Optimisten behaupten, die dritte Welle der Vermarktlichung habe bereits von selbst begonnen, sich umzukehren, und wir befänden uns im Aufstieg zu einer Einschränkung der Vermarktlichung. Andere meinen, dass die Kommodifizierung von einem Stillstand weit entfernt sei. Viele Menschen, darunter auch ich, dachten, dass die Wirtschaftskrise von 2008 und die Umstrukturierung der Machtverhältnisse auf der Welt Gelegenheit für eine Gegenbewegung bieten würde, aber dies erwies sich als Illusion. Es ist möglich, dass eine Gegenbewegung noch in weiter Ferne liegt, so wie es auch möglich ist, dass es niemals eine Gegenbewegung im Sinne der Einschränkung der Vermarktlichung geben wird.

Es handelt sich bei diesem Text um einen neu zusammengestellten Auszug aus: Michael Burawoy (2015), Public Sociology – Öffentliche Soziologie gegen Marktfundamentalismus und globale Ungleichheit (hg. von Brigitte Aulenbacher und Klaus Dörre und aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Regine Othmer). Beltz Juventa: Weinheim und Basel.

Karl Polanyi

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