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DIE GRENZEN EINER MARKTGESELLSCHAFT
ОглавлениеOder: warum „Polanyi die Persönlichkeit unseres Jahrhunderts sein sollte“
BRIGITTE AULENBACHER, VERONIKA HEIMERL, ANDREAS NOVY
In seiner Würdigung der Arbeiten Karl Polanyis sagt der international renommierte französische Ökonom Robert Boyer, „dass Polanyi die Persönlichkeit unseres Jahrhunderts sein sollte“. Was macht seine Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Kapitalismus heute so brisant? Polanyi untersuchte in seinem 1944 erschienenen Hauptwerk „The Great Transformation“ den Wirtschaftsliberalismus des 19. Jahrhunderts, den Börsenkrach von 1929 und die Große Depression sowie das kommunistische, faschistische und demokratische Ringen um die Neuordnung der Gesellschaft. Warum wurden diese Reflexionen seit den 1980er-Jahren, vor allem aber nach 1989 unter den Vorzeichen einer neuen Phase der Globalisierung wiederentdeckt und warum lässt sich heute geradezu von einer Polanyi-Renaissance sprechen? Vier Gründe lassen sich anführen, die die Einzigartigkeit von Polanyis Kapitalismuskritik hervorheben.
Die zerstörerische Macht des Marktes
Karl Polanyi war nicht nur ein Vordenker der Kapitalismuskritik, sondern auch ein unkonventioneller Querdenker. Als Journalist, Volksbildner, Wissenschaftler schrieb er teils essayistisch, was seine Schriften ebenso verständlich wie eindringlich macht. Informiert durch die Rechts-, Wirtschafts-, Sozialwissenschaften, Philosophie und Anthropologie ist sein Gesamtwerk weit gespannt und auch sein Hauptwerk bewegt sich quer zu disziplinären Spezialisierungen und über sie hinweg. So gelingt es ihm, das Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft neu zu definieren.
Historisch weit ausholend zeigt er, wie in vorindustriellen Gesellschaften wirtschaftliches Handeln Teil des sozialen und kulturellen Lebens war. In der Regel wurden ökonomische Interessen (wie Gewinnstreben und Preissetzungen) sozialen und politischen Motiven (wie Status und Stabilisierung der bestehenden Gesellschaftsordnung) untergeordnet. Der Tausch auf Märkten war einzig eine von vielen wirtschaftlichen Institutionen. Umverteilung (Redistribution) durch eine Zentralmacht lebt heute in der Sozialversicherung und im Steuerstaat fort; doch schon in bäuerlichen Gemeinschaften kam beispielsweise der zentralen Lagerhaltung eine wichtige wirtschaftliche Bedeutung zu. Gegenseitigkeit (Reziprozität) gehört zum Zusammenleben in der Familie, in der Hauswirtschaft und lebt in Nachbarschaften fort. Gegenseitigkeit prägt aber auch bis heute den Zusammenhalt von Burschenschaften oder die Vettern- und Parteibuchwirtschaft.
Mit der Herausbildung des Industriekapitalismus änderte sich Karl Polanyi zufolge die untergeordnete Stellung der Ökonomie. Erstmals in der Geschichte (wirtschafts-)liberalen Denkens wird die Idee des „selbst-regulierenden Marktes“ für die Ausgestaltung des Verhältnisses von Wirtschaft und Gesellschaft leitend. Die Verhältnisse verkehren sich: Die Prinzipien und Mechanismen des Marktes beginnen die Wirtschaft und letztlich die Gesellschaft zu beherrschen. Dies „(…) bedeutet nicht weniger als die Behandlung der Gesellschaft als Anhängsel des Marktes. Die Wirtschaft ist nicht mehr in die sozialen Beziehungen eingebettet, sondern die sozialen Beziehungen sind in das Wirtschaftssystem eingebettet“ (Polanyi 2015, S. 88). Es geht Polanyi nicht um Marktkritik per se. Auch Polanyi würdigt die Errungenschaften, die sich aus technischem Fortschritt und aus dem liberalen Wertekanon ergeben, der das Recht auf Nonkonformismus und Rechtsstaatlichkeit festschreibt. Wohl aber kritisiert er scharf eine Entwicklung, in der Märkte zu Taktgebern des gesellschaftlichen Lebens werden.
Im Finanzmarktkapitalismus, wie er sich nach 1989 herausgebildet hat und auch durch die Krise 2008/09 nicht zu Fall gebracht worden ist, ist diese Marktmacht in bis dato unbekanntem Ausmaß zur Geltung gelangt und dringt in alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens vor. Alles wird käuflich, alles kann zur Ware werden: Finanzialisierung und ihre Folgen im Gesundheitswesen, im Immobiliensektor und in vielen weiteren Bereichen prägen den gesellschaftlichen Alltag. Kommodifizierung – etwas zu einer Ware machen – erstreckt sich auf alle wirtschaftsrelevanten „Elemente“, auch solche, die dazu nicht vorgesehen sind: Land als Metapher für Natur, Arbeit als Inbegriff menschlicher Tätigkeit, Geld als Mittel des Tausches – sie sind bloß „fiktive Waren“ (Polanyi 2015, S. 102). Werden sie den Dynamiken der „Marktwirtschaft“ in einer „Marktgesellschaft“ untergeordnet und unterworfen, gefährden sie damit die Gesellschaft in ihrer Substanz. Wenn Arbeit als eine Ware wie alle anderen gilt, dann werden Kollektivverträge obsolet und Prekarisierung wird unvermeidbar. Wenn kurzfristige Geschäftsinteressen wichtiger sind als Klimaschutz, gefährdet dies die ökologischen Grundlagen unserer Zivilisation. Es sind aber nicht nur die auf Anhieb als zerstörerisch erkennbaren Entwicklungen, die an die Substanz der Gesellschaft gehen, sondern auch die subtileren Mechanismen, mit denen Menschen gezwungen werden, sich in der „Marktgesellschaft“ einzurichten. Diese suggerieren nämlich ein neues Ausmaß an individueller Freiheit für diejenigen, die erfolgreich mitspielen: als Unternehmer und Unternehmerinnen ihrer selbst, als Ich-AGs, Best-Ager etc. Schließlich sind weitere Elemente zu nennen, auf die Polanyis Konzept der „fiktiven Waren“ angewandt werden kann: So wird das Wissen etwa zur Ware, wenn Universitäten zusehends wie Unternehmen geleitet und an der Marktgängigkeit ihrer Forschungs- und Lehrergebnisse bemessen werden oder wenn indigenes Wissen patentiert zur Ressource industrieller Medikamentenproduktion wird.
Die Neuordnung der Gesellschaft
Geschichte wiederholt sich nicht. So sind die gegenwärtigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Ordnung und Neuordnung nicht mit den Umwälzungen gleichzusetzen, die die Folge von Wirtschaftskrise, Faschismus und Krieg waren und deren Zeitzeuge Polanyi war. Mit der Finanzkrise 2008/09 und der nachfolgenden Übernahme der Verluste von privaten Unternehmen durch öffentliche Haushalte hat sich die Krise jedoch zugespitzt. Nachdem sich mit Bewegungen wie Occupy Wall Street und vielen weiteren Protestbewegungen weltweit zunächst progressive Kräfte formierten, beobachten wir seit geraumer Zeit ein Erstarken rechtspopulistischer Parteien, die Herausbildung illiberaler Demokratien und die Verhärtung autoritärer Regime. Erneut – wie zu Polanyis Zeiten – folgt auf das Versagen der Ideologie freier Märkte eine Neuordnung der Gesellschaft. Die Ausrichtung dieser Neuordnung ist jedoch umkämpft. Ihr Spektrum reicht von Ideen einer den Kapitalismus überwindenden sozialökologischen Transformation und einer solidarischen Gesellschaft ohne Wachstumszwang bis hin zu sehr realen Entwicklungen eines autoritären Kapitalismus in wirtschaftlich dynamischen Schwellenländern, aber auch innerhalb der Europäischen Union. Reaktionäre Ordnungsvorstellungen und der Rückgriff auf traditionelle Geschlechterverhältnisse und nationale Identitäten können hierbei sowohl mit neoliberalen als auch globalisierungskritischen Ansätzen einhergehen.
Karl Polanyi hat solche Entwicklungen mit dem Konzept der „Doppelbewegung“ (Polanyi 2015, S. 102, 185, 207 f.) zu erfassen versucht. Für ihn ist die Gesellschaftsgeschichte ab dem 19. Jahrhundert das Ergebnis einer „Doppelbewegung“, einer „Bewegung“, mit der sich die Idee des „selbst-regulierenden Marktes“ durchsetzte, und einer „Gegenbewegung“, in der sich gesellschaftliche Gruppierungen sowie staatliche Institutionen auf unterschiedliche Weise vor den negativen Dynamiken der Marktwirtschaft zu schützen suchen. Angst vor der Kommodifizierung von Land, Arbeit, Geld und Wissen wird zu einer diffusen Sorge um die Zukunft. Dies kann für neue progressive Allianzen genutzt werden, wie Bernie Sanders in den USA und Ada Colau in Barcelona zeigen. Aber auch nationalistische Politiken verstärkter Grenzkontrollen können durchaus als Reaktion auf die Konkurrenz auf globalen Arbeitsmärkten gelesen werden. Karl Polanyis integrierte Analyse eröffnet inspirierende Anhaltspunkte, um über die aktuellen Auswirkungen von wirtschaftlichen Umwälzungen auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen nachzudenken.
Die Visionen einer gerechten und freien Gesellschaft
Wenngleich für wachsende Teile der Gesellschaft der Kapitalismus ökologisch, sozial und ökonomisch kein zukunftsfähiges System ist, so ist damit noch nichts über die Alternativen zu ihm gesagt. Karl Polanyis Nachdenken über eine gerechte und freie Gesellschaft setzt bei der Vorstellung an, dass – wie er es seinerzeit vermutete – die Menschheit nach den Erfahrungen von Diktatur und Krieg nie wieder den Weg einer radikalen Wirtschaftsliberalisierung gehen würde. Unter dieser Voraussetzung sieht er in der Industriegesellschaft eine Grundlage, auf der sich eine gerechte und freie Gesellschaftsordnung herausbilden kann. Was den ersten Punkt angeht, wurden wir inzwischen eines Schlechteren belehrt: Der Finanzmarktkapitalismus hat die Wirtschaftsliberalisierung erneut auf die Spitze getrieben. Was den zweiten Punkt angeht, so ist die Industrialisierung des Lebens in sozialer und ökologischer Perspektive zu einem eigenen Problem geworden, dessen Ursachen nicht allein in der „Marktwirtschaft“ zu suchen und zu sehen sind. Dies hat Zivilisationskritik anderer Art hervorgerufen, bei der es um die destruktiven und befreienden Potenziale technologischer Entwicklungen geht: Die Sharing Economy kann eine Kultur der Commons, des gemeinsamen Nutzens, begründen oder digitale Plattformen als neue globale Monopole schaffen. Wissen kann mit Wikipedia für alle zugänglich sein oder durch Vereinheitlichung die Entstehung globaler Bildungskonzerne ermöglichen, die Wissen enteignen und konzentrieren. Roboter können Arbeitserleichterung schaffen, aber auch die totale Überwachung wird technisch möglich.
Gerade deshalb ist Polanyis pluralistisch-sozialistische Vision von „Freiheit in einer komplexen Gesellschaft“ (Polanyi 2015, S. 329 ff.) von großer Aktualität, wenn es darum geht, über emanzipatorische und solidarische Formen einer postkapitalistischen Gesellschaft nachzudenken. Anders als zu Polanyis Zeiten blicken wir heute jedoch auf eine Geschichte des (Staats-)Sozialismus zurück, die ursprünglich als sozialistisch verstandene Ideen von Gleichheit, Freiheit, Solidarität deformiert und diskreditiert hat. Über eine Neuordnung der Gesellschaft im emanzipatorischen Sinne nachzudenken bedeutet auch, sich mit den historischen Erfahrungen staatssozialistischer Diktaturen auseinanderzusetzen und Wege in eine solidarische Gesellschaft zu suchen, in der sich die Freiheit der Einzelnen mit sozialer Gerechtigkeit und Entfaltungsmöglichkeiten für alle verbindet.
Karl Polanyis zentraler Beitrag, den er auf den letzten Seiten von „The Great Transformation“ ausführt und den wiederzuentdecken lohnt, besteht in einem flammenden Appell gegen Dogmatismus und Vereinfachung. Es ist ein Plädoyer für Dialektik und Pragmatismus. Die Kritik am fehlgeleiteten Glauben an die Selbststeuerungskraft des Marktes darf nicht zu einer Ablehnung von Märkten an sich führen. Die Kritik am exzessiven Individualismus liberalen Denkens darf nicht vergessen lassen, wie bedeutsam das Recht auf Nonkonformismus und der Schutz von Minderheiten ist. Doch gleichzeitig führt kein Weg daran vorbei, dass Gesellschaften nur mit „Planung“, „Regulierung“, „Kontrolle“ (Polanyi 2015, S. 338 ff.) und einem handlungsfähigen Staat gestaltbar sind. Sonst herrscht das Recht des Stärkeren: Digitale Plattformen verdrängen mit Steuer- und Sozialdumping die Konkurrenz; Radfahren bleibt eine Nische für Ökobewusste und geflogen wird weiterhin steuerbegünstigt. Kurzum, ohne „Planung“, „Regulierung“, „Kontrolle“ ist „Freiheit in einer komplexen Gesellschaft“ (Polanyi 2015, S. 329 ff.) nicht möglich, wenn sie mehr sein soll als die individuelle Freiheit der Privilegierteren.
Warum Polanyi die Persönlichkeit des Jahrhunderts sein sollte
Karl Polanyi verdient es, eine zentrale Referenz für das 21. Jahrhundert zu werden, weil sein Denken auf der Suche nach konstruktiven, solidarischen Alternativen hilft. Polanyi ist keinesfalls der einzige Vor- und Querdenker, um in der aktuellen Umbruchphase eine umfassende Systemkritik mit einer konkreten Zeitdiagnose zu verbinden. Es kann nicht darum gehen, Polanyi gegen Marx, Weber, Adorno, Keynes oder viele andere auszuspielen. Querdenken heißt, verschiedene Perspektiven zu nutzen, um in der Vielfalt der aktuellen Dynamiken nicht orientierungslos zu werden. Jedoch gibt es für die Polanyi-Renaissance gute Gründe: Sein Werk lädt ein, das Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft neu zu denken. Polanyi hilft, die Gefahren zu erkennen, denen sich eine Zivilisation ausgesetzt sieht, in der materielle Eigeninteressen als einzig legitime gesellschaftliche Interessen gelten: Zahlt es sich aus? Rechnet es sich? Können wir uns dies und jenes leisten? Polanyi hilft uns, dieses ökonomische Denken erneut in größere gesellschaftliche und ökologische Zusammenhänge einzubetten. Nur auf diese Weise können die gesellschaftlichen Belange der Vielen zum Taktgeber der Wirtschaft gemacht werden, statt sie an den individuellen Interessen von wenigen auszurichten.
Und Polanyi lädt – auch in Verbindung mit seiner Biografie – dazu ein, an die Anfänge des 20. Jahrhunderts zurückzugehen und aus der Geschichte zu lernen: aus dem Kampf um Demokratie und Frauenrechte, um Wohlfahrtsstaat und gegen Krieg. Aus den großen Siegen (gegen den Faschismus und beim Aufbau der Völkerverständigung) und schrittweisen Erfolgen (den vielen kleinen Gesetzesänderungen, geänderten Routinen und kulturellen Selbstverständlichkeiten wie der voranschreitenden Gleichstellung der Geschlechter, der breiten Akzeptanz von Homosexualität, der wachsenden Sensibilisierung für die Belange von Menschen mit Beeinträchtigung) können wir Kraft schöpfen für die Auseinandersetzung mit erstarkenden rechtspopulistischen und autoritären Kräften. Es kann auch wieder anders werden: „[M]ehr Freiheit für alle zu schaffen“ (Polanyi 2015, S. 344) ist möglich. „Freiheit für alle“ bleibt der Horizont konkreter Utopien.
Quellen
Robert Boyer im letzten Teil, „Karl Polanyi – Wirtschaft als Teil des menschlichen Kulturschaffens“, des auf Arte gezeigten sechsteiligen Films von Ilan Ziv, „Der Kapitalismus“.
Karl Polanyi (2015), The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.