Читать книгу Weihnachtswundernacht 4 - Группа авторов - Страница 7
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In einer Zeit, in der Schnelllebigkeit immer mehr Tradition frisst, versuchen wir, das Wenige zu bewahren. Am Samstag nach Totensonntag steige ich unsere Bodentreppe hoch, um die beiden alten großen Weihnachtskartons herunterzuholen. Jedes Jahr, wenn wir im Januar alles wieder zusammenpacken, nehmen wir uns vor, alles in neuen Kartons zu verstauen. So langsam jedoch haben wir kapiert, dass nichts daraus wird, und der erste gute Vorsatz im neuen Jahr gleich dahin ist. Aber am Samstag nach Totensonntag, da freue ich mich immer wieder, die alten, vergilbten Kartons doch wieder herunterschaffen zu können.
Gemeinsam mit meiner Frau und unseren Kindern befreie ich den Herrnhuter Stern, den Bergmann und natürlich darf auch dieses Jahr der große Engel nicht fehlen. Mein Großvater hat ihn geschnitzt und sein Engel wartet jedes Jahr aufs Neue mit uns zusammen auf die Geburt Jesu. Niemanden stört es, dass dem Engel seit Jahren die Spitze des rechten Flügels fehlt. Anfangs hatte ich immer versucht, sie wieder anzukleben. Aber sie hielt nie lange und eines Tages meinte meine Große: „Ach Papa, lass ihn doch so, er darf trotzdem mitfeiern!“ Mir kam es vor wie eine Erlösung.
Während wir unser Wohnzimmer schmücken, schwelgen wir meist in Erinnerungen. Oft wollen die Kinder etwas von ihrem Urgroßvater hören: „Warum hat er sich so viel Mühe gemacht und den Engel selbst geschnitzt? Hätte er ihn gekauft, hätte er sich sicher nicht mit ihm so abmühen müssen.“
„Wisst ihr, als mein Opa, also euer Urgroßvater, nach Deutschland kam, da hatte er gerade mal einen Koffer und einen Rucksack dabei, eure Urgroßmutter an der Hand und vier Kinder. Mehr hatten sie nicht. Und so zogen sie in ihre kleine Wohnung ein, in die es hineinregnete.“
Falk will wissen: „Warum kamen sie nach Deutschland? Wir sind doch Deutsche?“
Ich überlegte einen Moment. Sollte ich wirklich mit den alten Geschichten beginnen?
„Als meine Großeltern 1945 in Serrahn ankamen, da waren sie seit Monaten unterwegs. Sie mussten ihre Heimat Bessarabien verlassen, weil die politisch Mächtigen das damals so beschlossen hatten. Von Bessarabien hab ich euch doch schon öfter erzählt. Ihr wisst, das ist das Land, das in der heutigen Ukraine und in Moldawien lag.“
„In der Ukraine ist heute immer noch Krieg“, rief Falk aufgeregt dazwischen.
„Das ist schon wieder ein neuer Krieg“, fuhr ich fort, „meine Großeltern mussten damals ihre Heimat verlassen und lernten den Krieg zur Genüge kennen. Auf ihrer Flucht quer durch Europa mussten sie mit ansehen, wie ihre Tochter verhungert ist.“
„Verhungert? Aber sie hätten ihr doch etwas von ihrem Essen abgeben können“, meinte Falk und schien die Welt nicht mehr zu verstehen.
„Damals hatten die Flüchtlinge zum Teil so wenig zu essen, dass sie sich auf fremde Höfe geschlichen haben, um von den Komposthaufen fremder Leute Kartoffelschalen zu stehlen“, erzählte ich weiter: „Einmal hetzten die sogar einen Hund auf meinen Großvater, aber er konnte sich gerade noch so über den Zaun retten. Viele Leute jagten die Familie eurer Urgroßeltern weg. Geholfen haben ihnen nur sehr wenige. Aber es war ja auch eine Zeit, in der alle nur sehr wenig hatten. Ja, und dann kamen sie in den Kreis Güstrow und fanden ihr geliebtes Dorf Serrahn, direkt an dem schönen See, an dem wir im Sommer immer Urlaub machen. Zunächst war natürlich alles ganz fremd für sie. Sie brauchten eine Zeit lang, um sich einzuleben und sich einzurichten. Alles war ganz primitiv und so schöne Weihnachtssachen um ihre Stube zu schmücken, wie wir sie hier heute haben, hatten sie natürlich nicht. Vielleicht war das der Grund, weshalb mein Großvater in der Adventszeit 1945 diesen Engel geschnitzt hat. Er wollte doch für seine Kinder auch eine geschmückte Weihnachtsstube haben.“
Ganz still war es im Wohnzimmer geworden. Ich überlegte, ob es richtig gewesen war, die alten Geschichten wieder auszupacken. Falk holte tief Luft, ich sah ihm an, wie er alles in seinem kleinen Kopf verarbeitete. Aber als er dann meinte: „Na, ein Glück, dass es heute nicht mehr solche armen Leute gibt“, musste ich ihm widersprechen: „Doch Falk, auch heute gibt es mitten unter uns Flüchtlinge. Auch sie sind aus ihrem Zuhause weggelaufen. Viele vor neuen Kriegen. Und viele, weil es in ihrer Heimat nicht genug zu essen gibt oder es für sie dort zu gefährlich ist, an unseren Gott zu glauben. An den, weshalb wir überhaupt Weihnachten feiern und es einen Heiligen Abend gibt.“
Falks Augen wurden ganz groß.
„Heute, hier?“, fragte er.
„Ja, Falk. So viele Fremde wie zurzeit, kamen noch nie nach Deutschland. Sie verlassen ihre Länder, weil sie vor Krieg und Armut weglaufen oder weil sie an den Gott glauben, an den auch wir glauben und dafür verfolgt und getötet werden.“
Falk machte noch größere Augen. Ich sah ihm an, dass es mächtig in seinem Kopf brodelte.
„Papa, meinst du die, die im Asylbewerberheim wohnen?“, wollte Falk nun wissen und man sah ihm an, dass er mächtig aufgeregt war.
„Genau, die meine ich. Sie alle haben aus ihrer Not heraus ihr Zuhause verlassen. Hier sitzen sie nun im viel zu engen Asylbewerberheim und merken, dass viele sie hier überhaupt nicht haben wollen“, antwortete ich und fühlte mich dabei ziemlich hilflos.
Falk, in seiner Unbeschwertheit, wie sie eben nur ein Achtjähriger haben kann, fragte mich: „Wollen wir sie denn hier haben?“ Mein Kleiner war nicht mehr klein. Ganz unverhofft konnte er unbequeme Fragen stellen.
„Weißt du Falk, das Problem ist, viele scheuen sich davor, die vielen Fremden ‚Willkommen‘ zu heißen. Wir haben selbst genug zu tun und haben oft keine Zeit, da …“
Mein Kleiner, der mir plötzlich so groß vorkam, meinte: „Aber über Weihnachten haben wir doch Zeit. Lass uns doch einfach nach Heiligabend ins Asylantenheim gehen. Ich hab gesehen, da wohnen auch viele Kinder. Ich würde sogar ein paar Süßigkeiten mitnehmen, um mit den Fremden zu teilen.“
CHRISTIAN DÖRING