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4. Weihnachten mitten im November – wie wir im kalten Chicagoer Winter zu unserem Familienspruch kamen

Nach meinen ersten Jahren in Afrika – in Ghana, als Fußballtrainer und Missionar (in dieser Reihenfolge) – wohin ich damals in den 1950er Jahren vom CVJM in Deutschland ausgesandt wurde, um einen CVJM aufzubauen, zogen meine Familie und ich für ein Jahr in die USA, nach Chicago, um dort zu studieren. Meine Frau Karin, die finnische Zahnärztin, unsere beiden ersten Kinder (von später drei Kindern) und ich, Fritz Pawelzik, aus dem Herzen des Ruhrgebietes in Deutschland, aus Herne. Der CVJM hatte uns dafür ein Jahr Zeit gegeben und ein Stipendium für mich. Ich wollte in Amerika mehr über das menschliche Verhalten in Gruppen erfahren, während Karin gerne schwierige Kieferoperationen durchführen wollte. Sie hatte es nicht leicht. Mit ihr spezialisierten sich in einem kleinen Seminar ehrgeizige Zahnärzte, die sich in der Chicagoer Ambulanz eines Krankenhauses gegenseitig die schwierigsten Operationen nach Schlägereien und Autounfällen wegschnappten. Karin musste lernen, sich durchzusetzen. Morgens arbeitete sie in der Klinik und im Hörsaal, nachmittags in einem Hotel als Kellnerin. Zunächst wurde sie dort als Zimmermädchen angestellt, doch dann meinte ihre Chefin, sie könne mit ihrem freundlichen Wesen, ihren Sprachen und ihrer „Besteckkenntnis“ besser beim Servieren helfen. Also wurde sie dort tätig, wo sie mehr Trinkgeld als Lohn einnahm. Wenn sie am Abend nach Hause kam, wollte sie am liebsten ins Bett fallen. Doch da waren noch unsere Kinderchen, die nun endlich etwas von ihrer Mutter haben wollten. Tagsüber brachten wir sie im Hort und im Kindergarten unter.

Als ich nach Amerika kam, war ich eigentlich für ein Universitätsstudium gar nicht qualifiziert. Ich besaß kein Abitur. Doch ich hatte sehr viel gelesen und mich selbst weitergebildet. Als die Professoren mich abfragten und meinen IQ feststellten, meinten sie erstaunt: „Sie sollten eigentlich hier Ihren Master machen.“

Ich war sehr verblüfft. Voraussetzung für den Magister in Amerika sind mindestens fünf Jahre Studium, doch sie meinten: „Ihr Wissen und Ihre Erfahrung reichen schon. Wenn Sie sich voll einbringen, dann schaffen Sie es schon, und wir helfen Ihnen dabei.“

Ich versuchte es und besorgte mir Stapel von Büchern, die ich lesen musste. Ich saß in den Vorlesungen und verstand kein Wort. Erst einmal dieses amerikanische Englisch und dann auch noch die Fachausdrücke. Dauernd war ich mit meinem Wörterbuch beschäftigt, bei jedem Satz; denn ohne Nachschlagen bekam ich den Sinn nicht zusammen. Wenn ich den Satz verstanden hatte, dann musste der erst noch in den Zusammenhang des Kapitels, des ganzen Buches und des Faches gebracht werden.

Ich wollte schon aufgeben. Doch als ich sah, wie Karin sich für uns abschuftete, machte ich doch weiter. Arbeiten gehen musste ich aber auch. Im Schlachthof von Chicago, der nicht weit von uns entfernt lag, wurden Männer gesucht, die Rinderseiten aus den Kühlhallen in die Container schleppen konnten. Eine unangenehme und anstrengende Arbeit, aber sie brachte zusätzliches Geld.

Trotzdem reichte es nicht wirklich. Karin und ich nahmen bis auf die Knochen ab, doch für die Kinder hatten wir immer genug zu essen. Die Heizung konnten wir nur stundenweise anstellen, trotz des mörderischen Chicagoer Winters draußen, der bitterkalt bis in unser Zimmer kroch und Eisblumen über unsere Fenster zog. Eisblumen kennt man in den heutigen gut gedämmten Häusern und Wohnungen zumindest in Westeuropa kaum noch. Sie sind wie durchsichtige Bilder am Fenster. Sehen sehr schön aus. Aber in unserer Wohnung war es dabei so kalt wie im Kühlschrank.

Wir hausten als Familie zusammen in einem Zimmer, schliefen dort auf vier Matratzen. Außerdem gab es noch eine Kochnische mit einem Klapptisch. Dort arbeiteten Karin und ich abwechselnd und studierten. Ich war immer ganz früh morgens dran, während sie am liebsten am späten Abend ihre Aufgaben erledigte.

So rappelte auch an einem sehr frühen, eiskalten Novembermorgen mein Wecker.

Ich war natürlich noch nicht ausgeschlafen, wollte nicht aufstehen und es war bitterkalt. Trotzdem quälte ich mich hoch, stellte mich unter die eiskalte Dusche, um wenigstens richtig wach zu werden und einen klaren Kopf zu bekommen. Danach zog ich mich schnell warm an. Karin hatte uns bei einem Shop der Heilsarmee eingekleidet. Mit dem, was andere Leute aussortiert hatten – doch die Sachen waren noch sehr gut.

Wir wohnten in einem Studentenwohnheim der Baptisten. Um uns herum lebten fromme Leute, für die wir als Heiden galten, weil wir nicht ihre fromme Sprache redeten. Nicht die richtigen christlichen Vokabeln benutzten. Wer von den Studenten dort ebenfalls nicht so ganz dazugehörte, hielt sich an uns. Oft saßen bei uns welche herum. Besonders Schwarze, denen wir immer wieder von ihrer Urheimat Afrika erzählen mussten.

An diesem Morgen lag draußen dicker Schnee. Wie sollte ich Karin später zur Schule bringen, mit unserem uralten Auto, und rechtzeitig zur Klausur, die an diesem Morgen in Statistik geschrieben werden musste, in der Uni sein? Davor hatte ich sowieso Bammel.

Mit Frühstück war auch nichts. Das Brot, das noch da war, sollte für die Kinder sein.

Das Lernen für die Klausur wollte nicht gelingen. Ich wollte heulen, aber es kamen keine Tränen. Wo sollte Trost herkommen? Verzweiflung kroch in mir hoch.

Ich suchte nach einem leichteren Buch als die Unibücher. Dabei fiel mir ein kleines Heft in die Hand, das mir ein wohlmeinender Mensch in Deutschland geschenkt hatte: Die Losungen. Für jeden Tag des Jahres ein Spruch aus dem Alten und Neuen Testament und ein Liedvers. Dort hatte ich schon lange nicht mehr reingeschaut, weil ich es als zu simpel fand; es hatte keine Beziehung zu meinem Studium, meinte ich. Aber an jenem Morgen schlug ich die Losungen doch auf und suchte nach der entsprechenden Tageslosung. Und dann stand da auf einmal: „Siehe, ich habe vor dir gegeben eine offene Tür, und niemand kann sie zuschließen.“ (Zum Nachlesen im Neuen Testament: Offenbarung 3,8b.)

Ich schreckte auf. Das betraf mich, uns. Mich traf dieses Wort nicht im Kopf, sondern viel tiefer. Mensch, hoffte ich, wenn das wahr ist …

Auf einmal hatte ich das Gefühl: Das ist für uns geschrieben, für Karin, für die Kinder und mich. Dann sprang ich auf, lief zu Karin und weckte sie.

„Warum?“ Sie wurde böse. „Lass mich schlafen. Ich habe bis in den Morgen gepaukt, und Tina hat eine Erkältung, weshalb ich zweimal aufstehen musste.“

„Karin, wir haben eine Zusage. Es geht doch weiter!“, rief ich.

Sie verstand nicht. Aber sie kannte mich. Ich war immer der Optimist, der leicht zu Begeisternde in der Familie, bei dem auch schnell die Fantasie überschäumte. Deshalb war sie vorsichtig.

„Was ist denn nun?“, fragte sie.

Weil sie schnell weiterschlafen wollte und auch musste. Ich erklärte ihr das mit der Losung. Sie sah mich erstaunt an und begriff immer noch nicht ganz.

„Karin, ich werde mich darauf verlassen. Das ist eine Zusage. Du glaubst doch auch an Gott.“

„Aber nicht so“, antwortete sie.

Aber ich gab nicht auf: „Ich kann es nicht erklären. Aber wir machen es, wir verlassen uns darauf.“

Sie sah mich an und merkte, dass ich es ernst meinte.

„Ok“, antwortete sie.

Ich riss einen Zettel aus meinem Notizbuch und schrieb den Spruch in Druckbuchstaben darauf. Dann klebte ich ihn an die Wand vor mir, über den Klapptisch, und fing an zu pauken. Auf einmal ging es besser.

Der Tag und die Klausur verliefen gut.

Aber später, als wir gegen Abend zu Hause saßen, da fing es wieder an, trübe zu werden. Nicht nur draußen, sondern auch innen drin bei uns. Wir hatten wieder Hunger und wussten nicht, wie es weitergehen sollte. Wir saßen am Klapptisch, da wurde an unsere Tür geklopft. Sicher wieder einer von den Studenten, der etwas von uns wollte. Doch als ich öffnete, stand der Mann vor uns, der Beamte, der in New York die Sache mit dem Stipendium entschied. Seine kühlen Briefe, mit denen er eine Erhöhung abgelehnt hatte, hatten in uns keine angenehmen Gefühle geweckt.

Doch jetzt stand er in unserem Zimmer und trug zwei große Einkaufspapierbeutel im Arm, wie sie in den USA üblich sind. Er begrüßte uns freundlich, hatte aber keine Zeit, sich zu setzen, weil er gleich noch zu einer Sitzung der Universität musste.

„Ich bin nur mal eben hier vorbei gekommen“, sagte er, „auf dem Weg vom Flugplatz. Da habe ich auch noch etwas eingekauft, damit Sie sich einen netten Abend machen können.“

Auf einmal war es so wie Weihnachten. Und er war der Weihnachtsmann, mitten im November. Er stellte für mich eine Whiskeyflasche auf den Tisch und eine Flasche Sekt für Karin. Aber er hatte auch daran gedacht, dass wir Hunger hatten. Es gab Brot, Butter, Käse und Wurst. Für die Kinder Süßigkeiten. Sogar eine Kerze hatte er mitgebracht, damit es ein wenig feierlicher in unserer Wohnung werden würde. Ehe wir alles so richtig begriffen, war der Mann auch schon wieder weg.

„Das ist heute das zweite Geschenk“, sagte ich. Nun nickte auch Karin.

Wir wollten gerade mit dem Feiern beginnen, hatten den ersten Schluck schon intus und uns freundlich zugeprostet – Karin mit ihrem Sekt, ich mit dem Whiskey – da wurde wieder an unsere Tür geklopft. Aber dieses Mal kam nicht ein neuer Weihnachtsmann, sondern ein Student, der genauso wenig besaß wie wir. Der feierte mit. Dann holte er noch einen „armen Hund“, und bald war unsere Bude voll, die Flaschen leer und das Brot und der Belag in den Mägen verschwunden. Nachdem Karin noch reichlich für die Kinder reserviert hatte.

So haben wir also unseren Familienspruch kennengelernt. Den von der offenen Tür.

Und er hat sich immer wieder bewahrheitet. Türen sind immer wieder aufgegangen, hinter denen sich gute Wege und tolle neue Horizonte eröffnet haben.

FRITZ PAWELZIK

Weihnachtswundernacht 4

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