Читать книгу Agile Organisation – Methoden, Prozesse und Strukturen im digitalen VUCA-Zeitalter - Группа авторов - Страница 46
Selbstorganisation
ОглавлениеDie Koordination innerhalb agiler Prozesse und Strukturen erfolgt nicht durch detaillierte Pläne, festgelegte Prozessbeschreibungen oder eine übergeordnete Instanz, sondern „auf Augenhöhe“ zwischen den Mitgliedern innerhalb der Teams im Rahmen definierter Rahmenprozesse. Das heißt, statt Fremdorganisation (vgl. Kapitel 3.4) erfolgt Selbstorganisation. Selbstorganisation im unternehmerischen Sinne bedeutet, dass Akteure eigenverantwortlich darüber entscheiden, wie sie die zu erledigenden Aufgaben ausüben. Denn es wird davon ausgegangen, dass bessere Entscheidungen getroffen werden, wenn sich diejenigen, die die Aufgaben operativ tun – und damit näher am Problem und Kunden dran sind – direkt selbst untereinander abstimmen und dabei ihre unterschiedlichen Kompetenzen und Perspektiven einbringen.110 Der kollektiven Intelligenz/Kompetenz des Teams an der Basis werden bessere Entscheidungen zugetraut als der individuellen Intelligenz/Kompetenz einer Führungskraft oder eines Vorgesetzten.
Selbstorganisation ist aber nicht gleichbedeutend mit Hierarchiefreiheit. Stattdessen kann treffender von „hierarchiearm“ gesprochen werden.111 Eine gewisse Über- und Unterordnung gibt es meist auch in agilen Organisationen (vgl. Kapitel 8). Untergeordnete Organisationseinheiten (z. B. Subkreise, Squads) müssen sich natürlich irgendwie an den Entscheidungen in der übergeordneten Organisationseinheit (z. B. Kreis, Tribe) ausrichten – und alle am gemeinsamen Zweck (Purpose). Einzelne Rollen (z. B. Lead Link, Tribe Lead) können durchaus disziplinarische Macht ausüben.112 Und es gibt Rechtsvorschriften (z. B. § 76 AktG, § 35 GmbHG, § 26 BGB), die geschäftsführende Positionen einfordern. Darüber hinaus werden temporäre Hierarchien, in denen sich Führungsaufgaben auf mehrere bzw. wechselnde Personen verteilen, oft auch in agilen Strukturen akzeptiert. Schließlich bilden sich bei fehlenden formellen Hierarchien sehr häufig informelle Machtstrukturen bzw. Hierarchien. Von daher führt Selbstorganisation zu Hierarchiearmut, aber nicht Hierarchiefreiheit.
In agilen Organisationen gilt deshalb das organisatorische Subsidiaritätsprinzip, das besagt, dass Entscheidungen möglichst weit „unten“ getroffen werden und „höhere“ Einheiten nur dann eingreifen sollten, wenn die Möglichkeiten des Einzelnen bzw. des Teams auf der niedrigeren Ebene allein nicht ausreichen, um eine bestimmte Aufgabe zu lösen. Dabei kann sich die Entscheidungshoheit nicht nur auf die Art und Weise der Aufgabenverrichtung erstrecken, das Wie, sondern umfasst u. U. auch die Entscheidung darüber, welche Zielsetzung und welche Aufgaben überhaupt verfolgt werden, das Was. Das schließt beispielsweise die Entwicklung eigener Prinzipien zur Selbststeuerung und Selbstführung mit ein – Ausführungs-, Ergebnis-, Prozess- und Führungsverantwortung sind gebündelt und liegen in einer Hand. Dazu benötigen die Akteure weitreichende Kompetenzen bzw. Rechte. Zu große Freiräume bei Akteuren oder Teams können die Gesamtorganisation jedoch schnell überlasten.
Welcher Grad an selbstorganisiertem und eigenverantwortlichem Handeln sinnvoll ist, hängt vom jeweiligen Kontext ab. In selbstorganisierten Systemen geht der Bedarf nach Regeln und Struktur idealtypisch von dem Rolleninhaber aus, bei dem dieser entsteht und wird nach Möglichkeit auch durch diesen gelöst. Nur wenn eine organisatorische Einheit den Regelungsbedarf nicht selbst lösen kann bzw. weitere Rollen oder Teams in die Entscheidung involviert oder von dieser betroffen sind, treten übergreifende Koordinationsmechanismen in Kraft (vgl. nächsten Punkt). Der Regelungsbedarf wird auf dafür geschaffene Plattformen bzw. Ebenen „gehoben“ und allen Beteiligten und Betroffenen transparent gemacht.
Das Unternehmen W. L. GORE & ASSOCIATES zieht seine Agilität aus klaren Regeln, die sich aus vier verbindlichen Unternehmensprinzipien ableiten: Freiheit, Selbstverpflichtung, Fairness und Waterline. Das Waterline-Prinzip vergleicht das Unternehmen mit einem Schiff, das sich bereits auf hoher See befindet, an dem jedoch ständig weitergebaut wird. Hier ist es wichtig, dass Entscheidungen unterhalb der Wasserlinie, die das Schiff ins Wanken oder sogar in eine existenzielle Schieflage bringen könnten, konsultativ und verantwortungsvoll getroffen und getragen werden. Dabei gelten die Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und Eigenverantwortung – die Akteure entscheiden eigenverantwortlich, ob sie sich mit ihren Entscheidungen und Handlungen über oder unter der Wasserlinie befinden.113 Ein Lernprozess, der jedem Mitarbeiter (Associate/Teilhaber) abverlangt wird und nach eigenen Aussagen zwei bis drei Jahre dauern kann, bis man dieses Prinzip verinnerlicht hat.114
Ebenfalls inspirierend ist das Beispiel des US-amerikanischen Chemieunternehmens WD-40 COMPANY. Hier gilt für die Mitarbeiter bezogen auf ihren Verantwortungsbereich: “I am responsible for taking action, asking questions, getting answers, and making decisions. I won’t wait for someone to tell me. If I need to know, I’m responsible for asking. I have no right to be offended that I didn’t get this sooner. If I’m doing something others should know about, I’m responsible for telling them.”115 Diese Aussage, WD-40 spricht von „Maniac Pledge“ (verrücktes Versprechen), bringt sehr klar zum Ausdruck, welche Freiheiten, aber auch welche Verantwortung mit Selbstorganisation verbunden sind.
Viele agile Initiativen kranken an einer Überdosis verordneter Selbstorganisation und missverstandener Delegation. Agiles Management bedeutet aber nicht „laissez faire“, Verantwortung einfach zu delegieren und auf Mitarbeiter oder Teams zu übertragen, eine „Open Door Policy“ auszurufen oder ab „jetzt sofort“ auf Dress-Codes zu verzichten. So gesehen ist auch die Selbstorganisation zu organisieren.