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Spannungsgetriebene Konfliktbearbeitung

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Die oben beschriebenen Charakteristika Selbstorganisation, Transparenz, Abstimmungs-/Entscheidungsprozesse und Purpose zeigen die Kriterien auf, nach denen sich Akteure in agilen Strukturen und Prozessen koordinieren. Sie sind wie Puzzleteile, die, wenn sie adäquat zusammengefügt und integriert werden, ein Spielfeld bereitstellen, auf dem die Organisationsmitglieder interagieren können.

Dort, wo Interaktion stattfindet, treffen nicht selten unterschiedliche Wahrnehmungen und Erwartungen aufeinander. Sie sind der Nährboden für Spannungen und Konflikte. Eine agile Organisationsgestaltung öffnet bewusst Räume und schafft Plattformen, um Spannungen (Tensions) und Konflikte offenzulegen und aus diesen zu lernen. Die Bearbeitung von Konflikten und die Lösung von Spannungen liegen in agilen Organisationen nicht auf den Schultern ausgewählter Personen oder sind in eigens dafür geschaffenen Bereichen, wie z. B. Organisationsentwicklung oder Change-Management, verankert. In agilen Organisationen ist jeder einzelne Rolleninhaber dafür verantwortlich.

Agiles Arbeiten ist u. a. auch aufgrund dieser Relevanz von Spannungen und Konflikten, die von Rolleninhabern und Teams selbst gelöst werden müssen, „ganz schön“ anstrengend. Es fehlt (bewusst) an der übergeordneten Instanz, die schwierige Entscheidungen abnimmt. Auch deshalb passt agile Arbeit nicht in jeden Kontext.

Eine Spannung ist in diesem Zusammenhang die Momentaufnahme einer erlebten Differenz zwischen einem Ist- und einem erwarteten Soll-Zustand.131 Wie TILLMANNSESTORF et al. in ihrem Beitrag in diesem Buch treffend formulieren, ist Spannung die Energie zwischen dem Status quo und dem, was sein könnte, oder was sein sollte. Spannungen treten häufig dann auf, wenn Entscheidungen nicht eigenverantwortlich oder fallabschließend getroffen werden können, sei es aufgrund von Kapazitätsengpässen, Priorisierungskonflikten oder Missverständnissen zwischen Rollenerwartung und Rollenwahrnehmung (vgl. Kapitel 4.3). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn den betroffenen Rolleninhabern wesentliche Informationen fehlen oder die Selbststeuerung mit erheblichem Abstimmungsaufwand verbunden ist bzw. zu Doppelarbeiten und zu Verschwendungen führt. Inwieweit Rolleninhaber ihre Kompetenzen im Sinne des Unternehmens möglichst optimal einbringen können, hängt also stark davon ab, welche Erwartungen das Umfeld an eine Rolle hat. Diese Erwartungen werden aber häufig nicht ausgesprochen, sind mitunter sogar unbewusst. Eine rollen- oder teamübergreifende Abstimmung und Koordination auf „höherer“ – nicht hierarchischer Ebene – ist dann meist zielführender und akzeptierter, als wenn Rolleninhaber diese Konflikte mit sich selbst ausmachen oder versuchen, diese informell untereinander zu klären (vgl. hierzu z. B. die Impediment-Arbeit des Scrum Masters in Kapitel 6.3). „Nichts hat so viel Macht wie das Ungesagte“, das zu erkennen und offen zu thematisieren ist häufig ein langer Prozess.

FISCHERMANNS bspw. beschreibt in seiner 7-jährigen Lernreise eindrücklich, welche Herausforderungen es in dieser Hinsicht zu bewältigen gab. Unterstützend und hilfreich waren in diesem Prozess verbindliche und akzeptierte Entscheidungsregeln ebenso wie strukturierte Synchronisations- und Meetingformate, die eine permanente Arbeit am und im System gewährleisten. Am Beispiel des OKR-Ansatzes (vgl. Kapitel 6.6) und der Holokratie (vgl. Kapitel 8.3) macht FISCHERMANNS deutlich, wie solche rollenübergreifenden Entscheidungsprozesse stattfinden und Spannungen prozessiert werden können. Und manchmal hilft auch der symbolische Akt des „Schreibtischzersägens“, um zu verdeutlichen, dass die offene, ehrliche und eigenverantwortliche Bearbeitung von Konflikten und Spannungen kein Tabu-Thema mehr ist. HARTMANN macht in seinem Beitrag am Beispiel eines Versicherungsunternehmens deutlich, wie die Qualität einer Organisation von der Qualität der Interaktionen zwischen den Individuen abhängt und wie diese im Rahmen einer Veränderungsarchitektur optimiert werden können.

Transparente Koordinationsmechanismen, die selbstorganisiert geschaffen werden und wieder vergehen, sobald diese durch neue Formen der Abstimmung ersetzt oder obsolet werden, tragen dazu bei, dass die Verbindlichkeit gegenüber Prozessen und das Vertrauen unter den Organisationsmitgliedern gestärkt werden. Je besser es gelingt, die Erwartungen offen auszuhandeln, Spannungen zu lösen und die Beziehungen bewusst zu gestalten, desto besser können Rolleninhaber in selbstorganisierten Unternehmen wirken. Im Idealfall besteht eine Kongruenz aus Rollenbeschreibung, Rollenwahrnehmung und Rollenerwartungen, wie in Abbildung 23 aufgezeigt wird.

Abb. 23: Wirksame Rollenausübung

Zusammenfassend lässt sich für Kapitel 4.4 festhalten, dass die Koordination in agilen Prozessen und Strukturen nicht fremdorganisiert erfolgt, sondern auf Selbstorganisation durch die operativ tätigen Rollen und Teams basiert. Damit Selbstorganisation funktioniert, braucht es eine ausgeprägte Transparenz über alle relevanten Informationen, definierte Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse sowie die Bereitschaft und Fähigkeit von allen Beteiligten, Spannungen und Konflikte zu lösen. Um das arbeitsteilige, selbstorganisierte Entscheiden und Handeln zu koordinieren, ist schließlich eine gemeinsame Ausrichtung an einem klaren, akzeptierten und motivierenden Purpose (auf verschiedenen Ebenen) sehr hilfreich.

Agile Organisation – Methoden, Prozesse und Strukturen im digitalen VUCA-Zeitalter

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