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Beidhändigkeit bzw. situativ-adäquate Balance von klassisch und agil

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Die aktuell vielerorts vorzufindenden, unterschiedlichen Organisations- und Führungsansätze in ein und demselben Unternehmen deuten darauf hin, dass es bei der Suche nach den richtigen Organisations- und Führungsprinzipien weniger um ein „entweder oder“, sondern um ein „sowohl als auch“ geht.137 Auch sind die Übergänge von klassisch-hierarchisch zu agil teilweise fließend. Es gibt sowohl klassisch-hierarchische Grundstrukturen mit agilen Elementen (z. B. agile Einheiten und Methoden in einem traditionellen Konzern) als auch agile Grundstrukturen, die in Teilen klassisch-hierarchisch gelebt werden (z. B. Kreise in einer Holacracy-Struktur, die wiederkehrende Routineprozesse mit wenigen Unklarheiten und Veränderungen bearbeiten). Eine scharfe Trennlinie zwischen klassisch-hierarchischen und agilen Ansätzen zu ziehen, hätte folglich, wenn überhaupt, nur einen analytischen Mehrwehrt und ist lediglich theoretischer Natur. Es geht beim Organisieren nicht darum, sich als Gesamtunternehmen eindeutig und einseitig zwischen klassisch-hierarchischer und agiler Organisation zu entscheiden. Gesucht sind vielmehr situations-adäquate Organisationsansätze für ein erfolgreiches Handeln im jeweiligen, spezifischen Kontext – und dieser Kontext kann innerhalb eines Unternehmens sehr unterschiedlich sein.

Der scheinbare Konflikt zwischen Stabilität und Wandel bzw. Effizienz und Innovation ist ein schon lange existierendes Kernproblem jedweder Organisationsgestaltung. Die Diskussion um die dynamische Balance aus Stabilität und Wandel hat eine lange Historie und wird aktuell mit dem Fokus auf agile Ansätze erneut befeuert. Etliche Autoren befassen sich in empirischen Untersuchungen mit dem vermeintlichen Widerspruch zwischen Stabilität und Wandel bzw. Agilität (Agilitäts-Stabilitäts-Paradox).138 Die Ergebnisse zeigen, dass eine dualistische, trennende Betrachtungsweise, insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Umweltentwicklungen (vgl. Kapitel 1), nicht haltbar ist. „Organisieren ist diesen Überlegungen zur Folge kontinuierliches Oszillieren zwischen Verwandeln und Bewahren, zwischen Risiko und Sicherheit.“139 Es gilt, die Balance zwischen Stabilität und Dynamik immer wieder aufs Neue auszuloten.

Einseitige Extreme sind i. d. R. zu vermeiden. Die Bekämpfung jedweder Unsicherheit und Komplexität durch den Abruf vermeintlich bewährter Muster und das Abspulen reflexhafter, tradierter Routinen und Standards kann ebenso wenig funktionieren wie exzessiver Wandel und permanenter Umbau durch ein Zuviel an Agilität.140 In diesem Zusammenhang haben sich die Begriffe der „organisationalen Ambidextrie“ bzw. „Beidhändigkeit“ etabliert (engl. Ambidexterity, abgeleitet aus dem Lateinischen ambo „beide“ und dexter „rechte Hand“), die heute längst über die Grenzen der theoretischen Organisationslehre hinaus Anwendung finden und mittlerweile in den praktischen Sprachgebrauch von Organisationsentwicklern übergegangen sind.

Der Begriff basiert auf einem wegweisenden Aufsatz von MARCH aus dem Jahr 1991. Darin hat er Exploration und Exploitation als zwei Formen des organisationalen Lernens unterschieden.141 Während Exploration für Experimente, Alternativensuche, Varianzerhöhung und Risiko steht, repräsentiert Exploitation die Aspkete Regeleinhaltung, Standardisierung, Varianzreduktion und Risikovermeidung. Organisationale Ambidextrie beschreibt die Fähigkeit, einen organisatorischen Rahmen zu bieten, der es den Organisationsmitgliedern erlaubt, gleichzeitig effizient und flexibel zu agieren. Es beschreibt eine Organisation, in der sowohl bestehendes Wissen und bewährte Routinen auf effiziente und effektive Weise genutzt und optimiert werden können, um den operativen Geschäftsbetrieb am Laufen zu halten (Exploitation), als auch neues Wissen generiert und nach neuen Technologien geforscht wird, um Innovationen hervorzubringen und das Unternehmen zukunftsfähig auszurichten (Exploration) – und das zur gleichen Zeit (vgl. Abbildung 24).142 Untersuchungen zeigen, dass Unternehmen, die über einen längeren Zeitraum erfolgreich sind, es schaffen, sich kontinuierlich an neue Marktbedingungen anzupassen und zu verändern und gleichzeitig die eigene Identität zu bewahren, indem sie sich auf bestehende Strukturen und Kulturen stützen und diese bewusst reflektieren und weiterentwickeln.143

Vor diesem Hintergrund haben unterschiedliche organisatorische Ansätze unter einem „Dach“ also nach wie vor ihre Berechtigung. Trotz dieser Erkenntnisse wurden klassische Organisationsansätze in den letzten Jahrzehnten immer wieder abgeschrieben und stehen aktuell mehr denn je im Kreuzfeuer der Kritik.144 Tatsächlich werden aber viele der zentralen Kernaspekte klassischer Organisation nach wie vor angewendet – und auch agile Ansätze bedienen sich an diesen, wie in Kapitel 4.5 aufgezeigt wurde.

Abb. 24: Organisatorische Beidhändigkeit145

Die Hartnäckigkeit, mit der sich klassische Ansätze im aktuellen Kontext behaupten, liegt also nur zum Teil an der mentalen Starrheit und der fehlenden Veränderungsbereitschaft von Entscheidern. Es liegt eben auch daran, dass ein gesundes Maß an organisatorischen Regeln und Ordnung sinnvoll ist und sich auch für die Arbeitsteilung und Koordination in komplexen und unbeständigen Umfeldern bewährt. Es gilt: „There is nothing inherently virtuous in agility, or … nothing inherently evil in bureaucracy. They are only tools in the service of a strategy for achieving results.“146

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