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Mystikerin innerhalb und außerhalb des Christentums
ОглавлениеDie Widersprüchlichkeit in den Aussagen Weils in Bezug auf Christentum und Kirche bleibt auch nach dem Durchgang durch einige ihrer wichtigsten Schriften bestehen. Sie selbst bezeichnete sich als „Christin außerhalb der Kirche“29: „Ich habe immer als einzig mögliche Haltung die christliche Haltung angenommen. Ich bin sozusagen im christlichen Geist geboren, aufgewachsen und immer darin verblieben.“30 Dabei identifiziert sie sich besonders mit dem Katholizismus: „Wenn es eine religiöse Tradition gibt, die ich als mein Erbe ansehe, so ist es die katholische Tradition.“31 Insofern sie durchdrungen ist von der Liebe zum Gekreuzigten, insofern das Evangelium für sie die volle Wahrheit geheimnisvoll beschreibt und die Sakramente das Heil in Fülle enthalten, kann man Weil tatsächlich als Christin bezeichnen. Dies wird dadurch bestätigt, dass die Beschäftigung mit anderen Religionen und mystischen Traditionen des Ostens und der Antike letztlich in ihr die Liebe zu Christus verdoppelt haben.32
Dennoch wäre Weils „Christentum“ noch einmal näher zu bestimmen. Wenn es tatsächlich weniger im Katechismus und den Dogmen, sondern mehr in der Mystik und der Liturgie liegt, muss man fragen: Kann man diese beiden Seiten (anders formuliert: Amt und Charisma) so gegeneinander ausspielen? Muss an Weil nicht selbst die Frage gestellt werden, ob sie das Christentum, das immer kirchlich vermittelt ist oder eben nicht ist, überhaupt richtig verstanden hat? Umgekehrt hat sich die Kirche die Frage zu stellen, ob sie die Beschäftigung mit der christlichen Mystik und den mystischen Traditionen aller Zeiten nicht vertiefen müsste, um im Dialog mit anderen Religionen zukunftsfähig zu bleiben. Seit dem II. Vaticanum sind ermutigende Fortschritte gemacht worden, auch von lehramtlicher Seite (wenn man an die positiven Beurteilungen anderer Religionen der letzten drei Päpste denkt). In diesem Sinn ist ihr mystischuniversales „Christentum“ weiterhin inspirierend.
Weil bleibt eine Grenzgängerin zwischen dem Christentum und den mystischphilosophischen Traditionen anderer Völker und Zeiten. Sie steht auf ihre ganz eigene Weise an der „Peripherie“, am Rand, auf den wir nach den Worten von Papst Franziskus nicht nur in sozialer, sondern auch in religiöser und kirchlicher Hinsicht blicken sollen. Mit ihrer philosophischen Position bewegt sich Weil auf einer Schwelle, die es ihr erlaubt, den Blick von innen und von außen auf Kirche und Christentum zu lenken. Damit kann sie zu einer Horizonterweiterung beitragen und eine Art Anwältin einer „philosophischen Reinigung“ werden: „Die philosophische Reinigung der katholischen Religion hat nie stattgefunden. Um sie durchzuführen, muss man drinnen und draußen stehen.“33 Simone Weil stand mit ihrem Leben und Denken tatsächlich drinnen und draußen und kann damit heute Inspiration sein, um Brücken im interreligiösen Dialog zu schlagen und darüber hinaus den tiefen Schatz der eigenen mystischen Tradition neu zu entdecken.
1Zu ihrer Biographie vgl. S. Pétrement, La vie de Simone Weil, 2 Bd. Paris 1973 (dt. Übersetzung von E. Fischer, Simone Weil. Ein Leben. Leipzig 2008). Vgl. auch J.M. Perrin / G. Thibon, Wir kannten Simone Weil. Paderborn 1954; J. Cabaud, Simone Weil. Die Logik der Liebe. München 1968; E. T. Winter, Weltliebe in gespannter Existenz. Grundbegriffe einer säkularen Spiritualität im Leben und Werk von Simone Weil (1909–1943). Würzburg 2004.
2S. Weil, Das Unglück und die Gottesliebe. Mit einem Vorwort v. T.S. Eliot. München 21961, 60 (= UG).
3J.M. Perrin / G. Thibon, Wir kannten Simone Weil, 69 [s. Anm. 1].
4Vgl. S. Weil, Lettre à un religieux. Paris 1951. Hier zitiert in der dt. Übersetzung von F. Kempf: S. Weil, Entscheidung zur Distanz. Fragen an die Kirche. München 1988 (= ED), 37: „Die Kirche ist nur in einer einzigen Hinsicht vollkommen rein: als Bewahrerin der Sakramente. Nicht die Kirche ist vollkommen, sondern Christi Leib und Blut auf dem Altar.“
5Vgl. zum Thema Weil als Mystikerin J. Cabaud, Simone Weil, 172–187. 257–272 [s. Anm. 1]; R. Kühn, Vom Rationalismus zur personalen Transzendenz. Simone Weils religiöse Entwicklung, in: Ephemerides carmeliticae 36 (1985), 83–120; E. T. Winter, Weltliebe, 41–59 [s. Anm. 1]. Biographisch fallen die mystischen Erlebnisse Weils in das Jahr 1938 sowie in ihre Zeit in Paris und Marseille (1940–42). Die erste entscheidende Wende zum Christentum lässt sich aber schon in die Jahre 1935/36 datieren.
6Vgl. zum Folgenden UG 47–51 [s. Anm. 2].
7Vgl. den Text des Prologs bei J. Cabaud, Simone Weil, 184f. [s. Anm. 1] bzw. R. Kühn, Rationalismus, 105f. Zur Interpretation vgl. ebd., 104–120 [s. Anm. 5].
8S. Weil, Cahiers. Aufzeichnungen. Hrsg. und übers, von E. Edl / W. Matz. 4 Bd. München 1991/1993/1996/1998, hier: Cahiers 3, 128.
9S. Weil, Cahiers 4, 309 [s. Anm. 8].
10 Ebd., 313 [s. Anm. 8].
11 S. Weil, Cahiers 2, 155 [s. Anm. 8].
12 UG, 201 [s. Anm. 2].
13 UG, 214 [s. Anm. 2].
14 S. Weil, Cahiers 2, 297 [s. Anm. 8].
15 Demgegenüber tritt die Bedeutung der Auferstehung und der Wunder stark zurück. Vgl. ED, 45: „Wenn in den Evangelien jede Erwähnung der Auferstehung Christi fehlte, fiele es mir leichter zu glauben. Das Kreuz allein genügt mir.“ [s. Anm. 4].
16 Vgl. UG 61f.: „Ich bleibe auf Seiten aller Dinge, (…) die in die Kirche, dieses universale Haus der Aufnahme, keine Aufnahme finden können, aufgrund dieser beiden kleinen Wörter.“ [s. Anm. 2].
17 Vgl. R. Wimmer, Simone Weil. Person und Werk. Freiburg i. Br. 2009, 186: „Weil hätte dieses Umdenken zweifellos freudig begrüßt, zugleich aber eine energischere (…) Auseinandersetzung gefordert.“
18 Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen (Nostra aetate), Art. 2.
19 S. Weil, Cahiers 4, 126 [s. Anm. 8].
20 Ebd., 227 [s. Anm. 8].
21 ED, 35 [s. Anm. 4].
22 Siehe zum christl. Universalismus v.a. S. Weil, Lettre à un religieux, Paris 1951 (dt. ED). Vgl. ebd., 27. 53: „Die unterschiedlichen authentischen religiösen Überlieferungen sind unterschiedliche Reflexe derselben Wahrheit, und vielleicht gleicherweise kostbar.“ [s. Anm. 4]. R. Wimmer, Simone Weil, 188, unterscheidet zw. exklusivem, inklusivem und relationalem Universalismus; er sieht bei Weil letzteren gegeben. Dieser wird definiert als „offen für die Anerkennung und Übernahme religiöser Wahrheiten aus anderen religiösen Lebensformen.“ Doch bleibt fraglich, ob Weil wirklich alle religiösen, mythischen und philosophischen Überlieferungen als gleichwertige Wege zum Heil versteht. Ihre persönliche mystische Erfahrung spricht für die Einzigartigkeit Jesu Christi. Zum ganzen Thema vgl. ebd., 147–194 [s. Anm. 17]. Ders., Simone Weil interkulturell gelesen. Nordhausen 2007.
23 S. Weil, Cahiers 2, 217 [s. Anm. 8].
24 ED, 31 [s. Anm. 4].
25 UG, 63 [s. Anm. 2].
26 Ebd., 65 [s. Anm. 2].
27 ED, 50 [s. Anm. 4].
28 Ebd., 28f. [s. Anm. 4].
29 Ebd., 8 [s. Anm. 4].
30 UG, 42 [s. Anm. 2].
31 S. Weil, La connaissance surnaturelle. Paris 1950, 87.
32 Vgl. UG, 52 [s. Anm. 2]. Vgl. auch R. Kühn, Rationalismus, 102f.: „Anstatt hierin einen Beweis für ihren unorthodoxen Glauben zu sehen, sollte man den universalen Ansatz ihres Versuchs beachten, der auf alle religiöse und profane Wirklichkeit die empfangene Mitteilung Christi anwenden will und in dem Geheimnis des Kreuzes einen neuen Wirklichkeitshorizont erahnen lässt. Trotz aller Kritik scheint hierin ein theologischer Konsens erreichbar zu sein.“ Es bleibt dabei, „dass Christus im Mittelpunkt ihrer Erfahrung steht“ [Herv. RK; s. Anm 5].
33 Vgl. S. Weil, Cahiers 2, 260 [s. Anm. 8].