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„Man muss drinnen und draußen stehen“ Christussehnsucht und Kirchenkritik bei Simone Weil

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Eine Hinwendung der Kirche zu jenen, die am Rand stehen, an der Peripherie der Gesellschaft und der Kirche, hat Papst Franziskus seit seinem Amtsantritt häufig angemahnt. Er selbst überschreitet mit seinen Aussagen immer wieder die Grenzen der Kirche und geht auf Außenstehende zu. Zeit ihres Lebens verstand sich auch die französische Philosophin, Soziologin und Mystikerin Simone Weil (1909–1943)1 als jemand, der an der Schwelle der Kirche steht, „am Schnittpunkt des Christentums mit allem, was es nicht ist“, und zwar aus Liebe zu allem, was außerhalb von ihr liegt: „Immer bin ich genau an dieser Stelle geblieben, auf der Schwelle der Kirche, ohne mich zu rühren, unbeweglich, ἐν ὐπομονᾖ (ein wie viel schöneres Wort als patientia!); nur dass nunmehr mein Herz, wie ich hoffe für immer, in das Allerheiligste versetzt worden ist, das auf dem Altar ausgesetzt ist.“2

Es hat den Anschein, dass es bei ihr manchmal mehr ein Hin- und Herpendeln bzw. ein Überschreiten der Grenzen als das gläubige Ausharren an einer Schwelle ist. Denn in vielen Ausführungen zu ihrer Christusmystik überschreitet sie eindeutig die Schwelle zur Kirche hin und begibt sich in die Fußspuren großer Heiliger (v.a. Franz von Assisi und Johannes vom Kreuz). In anderen Gedanken wiederum steht sie offensichtlich ganz außerhalb der Kirche und des Christentums, betrachtet sie gleichsam von außen als Institution, die totalitäre Züge hat und nur de jure, aber nicht de facto katholisch ist, weil sie Menschen anderer Meinung verfolgt und v.a. keinen Sensus für die göttlichen Spuren außerhalb ihrer institutionellen Verfasstheit entwickelt hat. An Gustave Thibon kann sie deshalb schreiben: „Für den Augenblick wäre ich eher geneigt, für die Kirche zu sterben als in sie einzutreten – falls sie es nächstens nötig hätte, dass man für sie stirbt. Sterben, das verpflichtet zu nichts, wenn ich so sagen darf; es schließt keine Lüge ein.“3

Auch wenn man nicht der Versuchung erliegen sollte, bei Weil das oberflächliche Schema: „Gott/Christus ja – Christentum/Kirche nein“ anzuwenden, scheint sie in gewisser Weise immer wieder einen Keil zwischen Gott und Jesus Christus auf der einen und dem von der Macht korrumpierten Christentum und der Kirche auf der anderen Seite zu treiben. Sie liebt Christus über alles und begeht im Gedanken an das Kreuz, wie sie selber schreibt, die „Sünde des Neids“ (UG 69). Dem institutionalisierten Christentum hingegen steht sie skeptisch bis ablehnend gegenüber – es sei denn, man betrachtet die Kirche als Bewahrerin der Sakramente, in denen auch für Weil das göttliche Heil liegt.4 So wird sie mitunter sogar als Kirchenlehrerin und Heilige interpretiert, die das „Draußen (…) ins Herz der Kirche hereingeholt“ hat, v.a. wenn man annimmt, dass sie kurz vor dem Tod doch noch von ihrer Freundin Simone Deitz getauft wurde.

Im Folgenden soll zunächst die Gottesliebe bzw. Christussehnsucht Weils thematisiert werden, denn ihre eigenen mystischen Erfahrungen, die auch von liturgischen Erfahrungen geprägt waren, bilden den Hintergrund, vor dem dann in einem zweiten Teil die Kirchen- und Christentumskritik zur Sprache kommen kann. Hier zeigt sich bei ihr eine eigenartige Widersprüchlichkeit, die nicht ganz aufgelöst, aber doch für heutige Diskussionen fruchtbar gemacht werden kann.

Geist und Leben 3/2015

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