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ОглавлениеErich Garhammer
Seelsorge-Bilder
Eine Einführung
Seit 1999 bin ich Mitherausgeber der Reihe „Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge“ (ab Band 37) und seit 2004 Schriftleiter der Zeitschrift „Lebendige Seelsorge“. Die Zeitschrift wurde 1949 von Dr. Alfons Fischer, damals Dozent für Pastoraltheologie an der Fachhochschule Freiburg, und Alfred Weitmann, dem späteren Rottenburger Domkapitular gegründet. Beide hatten auf dem Bochumer Katholikentag diese Idee geboren. Dazu kam noch der Kamillianerpater Josef Schulze. Die Zeitschrift wurde 1969 mit dem „Oberrheinischen Pastoralblatt“ – begründet 1899 – vereinigt, wozu der Freiburger Erzbischof Schäufele seine Zustimmung gab.
Die Programmatik der Zeitschrift war: den Seelsorgern in den Umbrüchen der Zeit geistige und geistliche Begleitung anzubieten. Viktor Schurr (Seelsorger in einer neuen Welt. Eine Pastoral der Umwelt und des Laientums) und der in Wien lehrende Pastoraltheologe und Homiletiker Bruno Dreher gehörten lange der Redaktion an. Die Lebendige Seelsorge war über Jahrzehnte hinweg ein Organ, das vor allem von Priestern gelesen und für sie gemacht wurde. Dementsprechend war auch der Seelsorgebegriff formatiert.
Im Jahre 1974 übernahmen Professor Dr. Lothar Roos und Prof. Dr. Werner Rück die Schriftleitung. Sie holten in ihr Redaktionsteam so bekannte Namen wie Karl Lehmann, Dieter Emeis, Joseph Sauer, Heinrich Pompey und Josef Müller. Letzterer hat lange Zeit für die Redaktion des „Oberrheinischen Pastoralblattes“ gearbeitet und schließlich dazu beigetragen, dass diese Zeitschrift sich mit der „Lebendigen Seelsorge“ zusammenschloss.
Das „Oberrheinische Pastoralblatt“ erschien noch bis 1974 als eingeheftete Beilage im Umfang von acht Seiten in der „Lebendigen Seelsorge“. Der denkwürdige Ort, an dem die Vereinigung beider Organe vollzogen wurde, war das Priesterseminar St. Peter in Freiburg. Daraus kann man ablesen, dass die „Lebendige Seelsorge“ stark in Freiburg verwurzelt war und ihm auch verpflichtet blieb (Quisinsky). Die „Lebendige Seelsorge“ wechselte ab dem Jahrgang 2004 nach Würzburg. Der Leiter des Echter Verlages Thomas Häußner trug mir nach meinem Wechsel von Paderborn nach Würzburg die Schriftleitung der Zeitschrift an. Vorausgegangen war schon die Hineinnahme in das Herausgeberteam der im Echter-Verlag erscheinenden Reihe „Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge“ ab Bd. 37. Initiator der Reihe war mein akademischer Lehrer Prof. Dr. Konrad Baumgartner. Mit dieser Reihe und der Zeitschrift hat der Echter Verlag prägenden Einfluss auf den Seelsorgediskurs der vergangenen Jahrzehnte genommen – und nimmt ihn noch heute. In dieser Zeit haben sich die Rahmenbedingungen für die Seelsorge erheblich verändert. Dem sollte sowohl durch die neue Reihe als auch durch das neue Konzept der Zeitschrift Rechnung getragen werden.
Seelsorge – gestern und heute
Die Gründung der neuen Reihe und das Konzept und die neu entwickelte Heft-Dramaturgie der Zeitschrift sind zu verorten in den Veränderungsprozessen von Seelsorge und Pastoral in den letzten Jahrzehnten. Bei der Beschreibung der gesellschaftlichen Situation tauchen stets die Begriffe Pluralisierung, Individualisierung und Erlebnisorientierung auf. Wie soll Seelsorge darauf reagieren und wie kann sie in solch dominanten Kontexten überhaupt noch agieren?
Zwei Programmschriften – die eine aus dem evangelischen, die andere aus dem katholischen Bereich – geben darauf folgende Antworten: Hans Ulrich Gehring hat in seiner Habilitationsschrift mit dem Titel „Seelsorge in der Mediengesellschaft“ den Befund der Pluralisierung erweitert zur „reflexiven Pluralisierung“, d. h. Pluralisierung wird nicht einfach als Fortschrittsvorgang verbucht, sondern das Schattige und Ambivalente von Pluralisierung wird durchaus gesehen und wahrgenommen.
Seelsorge benötigt auf diesem Hintergrund zwei Kompetenzen: zum einen die Fähigkeit, mit differenten Erfahrungen umzugehen; zu dieser Fähigkeit zur Differenz und zur Differenzierung muss sich immer mehr eine andere Kompetenz gesellen, nämlich die Fähigkeit zur Kohäsions-Arbeit, d. h. das Vermögen, Verknüpfungen herzustellen und Übergänge zwischen dem Differenten und Disparaten zu bilden.
Doris Nauer hat in ihrer Habilitationsschrift mit dem Titel „Seelsorge im Widerstreit“ den Versuch gemacht, die pluralen Konzepte von heutigen Seelsorgeansätzen zu bündeln und zu ordnen. Dabei unterscheidet sie drei Hauptrichtungen: Seelsorgekonzepte mit theologisch-biblischer, mit theologisch-psychologischer und mit theologisch-soziologischer Perspektivendominanz. Diesen Hauptperspektiven werden dann einzelne Seelsorgekonzepte zugeordnet. Auch wenn sich über die Zuordnungskriterien trefflich streiten ließe, ist doch ein Überblick über aktuelle Seelsorgekonzepte sowie eine inhaltliche Beschreibung über Zielsetzung und Relevanz von Seelsorge gelungen.
Entspricht also der Pluralisierung der Lebenswelt nach dem Motto „Jeder ist ein Sonderfall“ eine Pluralität von Seelsorgeansätzen und kann man unter diesen wie in einem Supermarkt auswählen? Die Neukonzeptionierung der Zeitschrift „Lebendige Seelsorge“ realisierte hier einen anderen Weg: es geht nicht um eine Addition von Ansätzen, sondern es geht um ein Gespräch und einen produktiven Streit zwischen den Ansätzen und vor allem um ihre Praktikabilität.
Seelsorge hat Zukunft
So hat gleich das erste Heft mit dem programmatischen Titel „Seelsorge hat Zukunft“ eine nachhaltige Kontroverse angestoßen. Die Frage lautete: Wird die Seelsorge in Zukunft mehr orts- und gemeindebezogen sein oder soll sie sich als Kommunikationspastoral, als Pastoral der Zwischenräume verstehen? Zwei dezidierte Positionen lagen dazu bereits vor: auf der einen Seite Jürgen Werbick mit seinem Buch „Warum die Kirche vor Ort bleiben muss“, das für eine Verörtlichung von Seelsorge plädiert. Auf der anderen Seite Michael N. Ebertz, der einer erweiterten Ort-Suche von Seelsorge das Wort redet. Das Erstaunliche war, dass beide noch nicht miteinander in das Gespräch und den Austausch getreten waren. Das ist das Konzept der neuen Lebendigen Seelsorge, solche Gespräche, solche in der Luft liegenden Kontroversen auszutragen, aufzugreifen, zu ermöglichen und ihnen einen Platz zu geben. Dabei sollen keine schnellen Antworten erreicht oder gar harmonisierende Vermittlungen erzwungen werden. Eher soll es um Suchbewegungen gehen, aber auch um die Formulierungen und Präzisierung der Konsequenzen, die sich ergeben, wenn man sich auf eines der Konzepte einlässt. Es geht also um die Frage: Welche Praxis folgt aus den jeweiligen spezifischen theoretischen Optionen von Seelsorge?
Jürgen Werbick kritisierte am Ansatz von Ebertz eine undurchschaute und latente Hierarchisierung von Kirche – das soziologische Design bei Ebertz verwische diesen ekklesiologischen Aspekt – sowie eine Virtualisierung von Seelsorge. „Gute Orte zum Ein-und Ausgehen, zum Bleiben und Ausruhen; Orte der einladenden und möglichst wenig ausschließenden, niederschwelligen Glaubenskommunikation; wenn man will: Stützpunkte und Treffpunkte, an denen Kirche sich antreffen und sich auch als ‚Stütze‘ in Anspruch nehmen lässt, an denen sie feiert, woraus und wofür sie lebt: Wer meint, diese Orte mehr und mehr virtualisieren zu können oder zu müssen, etwa weil die Problematik der Gemeindeleitung und des SeelsorgerInnenmangels unlösbar geworden scheinen, der gibt die Kirche als ‚Leib Christi‘ an der Basis auf.“ (Werbick 2004, 6)
Ebertz dagegen konstatierte bei Werbick einen Wohn-Territorialismus – wobei sich sehr schnell die Assonanz von Wohnort und Milieu-Terror einstelle. Er attestierte den meisten Gemeinden Milieuverengungen mit exkommunizierenden Tendenzen gegenüber anderen Milieus und ihrem Selbstverständnisstil. Viele Menschen finden das pastorale Angebot ihrer Gemeinden längst nicht mehr attraktiv. Es sei seiner Meinung nach an der Zeit, die Augen zu öffnen und wahrzunehmen, dass sich die meisten Menschen – trotz Wohnraumnähe – schon längst nicht mehr in die pfarrheimlich verlängerten Wohnzimmer begeben wollen und keine Lust auf die auf Frohsinn und Harmonie getrimmte Pfarrcommunio hätten (Ebertz 2004, 17).
Die Zeitschrift wählt also den Weg der „transversalen Vernunft“: sie bringt ins Gespräch, schürt dabei nicht die Kontroversen um der Kontroverse willen, sondern will durch das Gespräch Positionen klären und Theologie im Dialog betreiben. Dabei sollen auch einseitige Zitationskartelle aufgebrochen und einseitige theologische Richtungen oder Schulbildungen vermieden werden. Gab es früher ein Schisma zwischen den Zeitschriften „Diakonia“ und „Lebendige Seelsorge“, so schreiben in der neuen Lebendigen Seelsorge Autoren aller Richtungen und Positionen. Einzige Voraussetzung ist Kompetenz für ein bestimmtes Thema.
Albrecht Grözinger hat in seinem Survey über „Zehn Jahre Zeitschrift Pastoraltheologie“ (2003) festgestellt, dass in den theologischen Zeitschriften kaum noch gestritten werde, dass alles viel zu höflich – man könnte sogar friedhöflich sagen – zugehe. Mehr Streit würde er sich wünschen, denn die aktuellen Herausforderungen lohnen nicht nur den Streit, sie brauchen ihn auch.
Die Lebendige Seelsorge beherzigt das: in Gesprächen, Projektberichten und Praxisbeiträgen zeigt sie etwas vom Plural und den unterschiedlichen Realisationsformen von Seelsorge an verschiedenen Orten. Entwicklung in der Kirche geht ja nie linear: sie geht – so der Wiener Pastoraltheologe Paul M. Zulehner – nach dem Prinzip der Echternacher Springprozession: „Man macht zwei Schritte nach vorn, aber dann braucht man zur Erholung wieder einen Schritt zurück. Dann kommen wieder zwei Schritte nach vorn … Auch auf diesem Weg gelangt man letztlich in eine Zukunft, die bleibt.“ (Zulehner 2004, 33; Garhammer 2016, 156)
Der Blick in die Geschichte (Wolf 2004) ist ein Beweis für diese Springprozession: im Jahre 1926 wurde das Priesterwerk „Amici Israel“ gegründet. Weltweit gehörten der Vereinigung 19 Kardinäle, 278 Bischöfe und an die 3000 Priester an. Angesichts der zunehmenden antisemitischen Agitation setzte sich die Vereinigung zum Ziel, die Karfreitagsbitten grundlegend zu ändern. Der Präsident, Benediktinerabt Gariador, stellte am 2. Januar 1928 bei der Ritenkongregation die Petition, die Begriffe „perfidus“ und „perfidia“ zu streichen. Ferner sollte auch die Kniebeuge eingeführt werden, um diesen Anti-Gestus der rituellen Verweigerung zu beenden. Die Kniebeuge entfiel ja deshalb, um nicht das Andenken an die Schmach zu erinnern, mit der die Juden um die neunte Stunde den Heiland durch Kniebeugungen verhöhnten. Der von der Ritenkongregation beauftragte Gutachter stellte sich voll hinter diese Anliegen. Die liturgische Kommission der Ritenkongregation kam am 18. Januar 1928 zu dem Entschluss, dem Vorschlag der „Amici Israel“ zu folgen. Zwei Tage später wurde der Vorgang ans Heilige Offizium weitergeleitet: dort nahm er allerdings eine völlig andere Wendung. Der päpstliche Hoftheologe Marco Sales OP betrachtete die Vereinigung „Amici Israel“ als eine private Angelegenheit. Wenn man aufgrund einer einfachen Petition einer Vereinigung damit beginnen würde, die alte und ehrwürdige Liturgie zu ändern – so seine Argumente – käme man an kein Ende und würde der Willkür Tür und Tor öffnen. Außerdem hätten die Juden die Verantwortung für die Kreuzigung Christi mit dem Vorwurf „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ (Mt 27,25) übernommen. Papst Pius XI. stimmte nicht nur dieser Wertung zu, sondern ordnete auch die Auflösung der Vereinigung „Amici Israel“ wegen schwerwiegender Irrtümer an. Er bemängelte vor allem die Umfunktionierung von einer Gebetsbrüderschaft für die Konversion der Juden zu einer kirchenpolitischen pressure group. In die Formulierung des Aufhebungsdekretes, das am 25. März 1928 in den Acta Apostolicae Sedis erschien, griff er selber ein. Er würdigte darin die Verdienste der „Amici Israel“ als Gebetsgemeinschaft für die Konversion der Juden; sie sei jedoch durch ihre aktuelle Vorgehensweise vom „sensus ecclesiae“ abgewichen und habe sich angemaßt, die heilige Liturgie zu verändern. Die Kirche habe aber stets jede Form von Antisemitismus abgelehnt und Israel ausdrücklich in das kirchliche Liebesgebot eingeschlossen. Im Anschluss daran wird der Hass gegen das einst von Gott erwählte Volk, den man auch Antisemitismus nennt, nachdrücklich verurteilt. Die Leiter von „Amici Israel“ unterwarfen sich mit dem Hinweis, dass der Papst damit den Antisemitismus entschieden verurteilt habe, „besser als wir es jemals gekonnt hätten.“ Abt Schuster, der auch der Gruppierung angehört hatte, wurde von Papst Pius XI. ein Jahr danach zum Erzbischof von Mailand berufen, später zum Kardinal ernannt. 1996 hat ihn Papst Johannes Paul II. selig gesprochen.
Papst Johannes XXIII. schließlich hat bei der Karfreitagsliturgie die Wörter „perfidus“ und „perfidia“ im Jahre 1959 einfach ausgelassen und damit den entscheidenden Anstoß gegeben für die Änderungen im neuen Messbuch 1970. Die „Amici Israel“ hatten sich also doch noch durchgesetzt – trotz vorherigen Aufhebungsdekrets! So geht Änderung römisch-katholisch: nach der Ordnung der Echternacher Springprozession.
Seelsorgeverständnis heute
Der Kölner Jesuit Friedhelm Mennekes, der im Gespräch zwischen Kirche und Künstlern seit Jahrzehnten eine führende Rolle einnahm und lange die Kunst-Station St. Peter in Köln leitete, hat von dem englischen Künstler Martin Creed eine Turminstallation an St. Peter vornehmen lassen (Schlimbach, 286). Sie trägt den Titel „Don’t worry“. Neonschriftzüge in vier Sprachen sind auf den vier Turmseiten angebracht. Den Besuchern des gerade neu eröffneten Agrippa-Bades mit seiner ausgedehnten Wellness-Landschaft leuchtete dabei hauptsächlich die Schrift „DON’T WORRY“ entgegen. Die meisten assoziierten damit natürlich „Don’t worry, be happy“ – das Lebensgefühl der Erlebnisgesellschaft.
Wer sich aber die Mühe macht, die Aufschrift auf den anderen Turmseiten zu entdecken, der kann dort lesen: „NOLI SOLLICITÜS ESSE“, „MH MERIMNA“ und „SORGE DICH NICHT.“ Es handelt sich dabei um ein Wort Jesu aus der Bergpredigt: „Sorgt euch nicht um euer Leben und darum, dass ihr etwas zu essen habt, noch euren Leib und darum, dass ihr etwas anzuziehen habt. Sorgt euch vielmehr um das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit und alles andere wird euch dazugegeben“ (Mt 6,25 f).
Diese Installation ist eine Intervention: Seelsorge soll zunächst wahrnehmen, dass wir uns viele Sorgen machen, aber in einem Punkt allzu unbesorgt sind, nämlich was die Reich- Gottes-Sorge angeht. Reich-Gottes-Sorge beinhaltet zwei prinzipielle Dimensionen: Gratuität und Barmherzigkeit. Gratuität, d. h. das Wichtigste können wir nicht selber machen und uns auch nicht verdienen, d. h. wir alle leben aus der Vergebung und die einzig zulässige Hierarchie, die es geben kann, ist das Mehr an Barmherzigkeit – eine Dimension von Seelsorge, die vor allem Papst Franziskus wieder anmahnt (Garhammer 2017).
Seelsorge im Sinne von Reich-Gottes-Sorge ist also kein Aktivismus, kein Verschulungsprogramm, keine Beschäftigungstherapie, sondern Eröffnung eines Raumes, wo ich und die anderen Luft bekommen und atmen können, ganz im Sinne von Reiner Kunzes Gedicht „Pfarrhaus“:
Wer da bedrängt ist findet
mauern, ein
dach und
muß nicht beten
(Kunze, 118)
Seelsorge ist also zunächst Schutzraum, Asylort ohne Nötigungsdruck zum Frommsein und ohne Bekehrungshintergedanken. Seelsorge ist Ermöglichung zum Aufatmen, zum Luftholen, wo eigentlich alle Zeichen auf Durchdrehen stehen (Zerfaß). Seelsorge treibt die Dämonen aus, den Dämon: „du musst funktionieren“, den Dämon „du musst okay sein“, überhaupt den Dämon „du musst“. Seelsorge bietet Raum für die Gottes-Herrschaft, sie öffnet den Raum für Menschen in der Krise.
Eines tages wird uns in der seele frösteln,
und die landschaft wird uns zu knapp sein,
um sie zusammenzuziehen
über der brust
Dann werden wir die säume abgreifen,
ob etwas eingeschlagen ist
(Kunze 2003, 283; Garhammer 2011)
Menschsein bedeutet nach diesem Gedicht von Reiner Kunze: in Krisen geraten. Das ist eine Dimension des Anthropologischen, der conditio humana, die in allen momentanen Reformdiskussionen politisch und universitär kaum zur Sprache kommt. Der Mensch ist ein Wesen der Krise und vor allem: er ist endlich. Es gibt Situationen, in denen uns in „der Seele fröstelt“, oder wie es Paul Gerhardt in dem Passionslied „O Haupt voll Blut und Wunden“ ausgedrückt hat: „Wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein“. Man braucht dabei nicht nur an das Sterben zu denken, es gibt auch andere Situationen, wo uns nichts mehr wärmt, wo wir die Säume abgreifen, ob etwas eingeschlagen ist. Hier entscheidet sich, ob der Seelsorger/die Seelsorgerin selber solchen Gefühlen Raum geben kann, weil er/sie sie kennt und um sie weiß. Von daher scheint mir der Begriff vom verwundeten Arzt, den der Theologe Henri Nouwen ins Spiel gebracht hat, sehr hilfreich zu sein. Nur wer mit eigenen Wunden umgehen gelernt hat, kann wirklich heilen. Die therapeutische Kompetenz ist nicht nur eine Methode, sondern sie hat wesentlich auch mit eigener Erfahrung zu tun.
Der Passauer Pastoralpsychologe und Caritaswissenschaftler Isidor Baumgartner hat in seiner Pastoralpsychologie den Emmausgang als Summarium seelsorgerlichen Handelns gedeutet: das Mitgehen Jesu geschieht nicht aufdringlich, sondern mit-gehend und zu-hörend, stehen-bleibend, allerdings nicht statisch, sondern prozessorientiert und vertiefend. Lösend ist dabei gerade das Sich-Lösen-Können. „Er tat so, als wollte er weitergehen.“ (Lk 24,28) Im lateinischen Text heißt es: „finxit se longius ire.“ Für Papst Gregor den Großen war dies in einer Osterpredigt eine Betrachtung wert: hat Jesus hier mit den Enttäuschungen und Ängsten der Jünger gespielt? Gregor gibt zur Antwort: mitnichten. „Nichts tat die einfache Wahrheit in Zweideutigkeit, vielmehr zeigte sie sich ihnen im Leibe so, wie sie bei ihnen im Geiste war.“ (Gregor der Große 421). Als Eindeutigen hätten die Jünger Jesus nicht wahrnehmen und ertragen können, aber als Mitgehenden, der sogar bereit war ganz zu gehen, ging er ihnen auf. Seelsorge hat etwas von dieser mitgehenden und loslassenden Kompetenz. Sie spannt einen Raum auf, sie schützt und gibt frei.
Kunst und Seelsorge
Es gibt ein Kunstwerk, das diese Geste eingefangen hat. Es stammt von Alberto Giacometti. Vor dem Betrachter steht eine nackte Frau von annähernd menschlicher Größe und Erscheinungsform. Was man für Augen halten könnte, sind zwei Räder, das eine intakt, das andere zerbrochen. Sie hat die Arme vor der Brust erhoben, sie scheinen sehr behutsam etwas Unsichtbares zu halten. Man hat den Eindruck, die Figur sei gerade dem Abgrund entstiegen. Giacometti erzählt, diese Figur sei ihm plötzlich fertig eingefallen. Er stellte sie am Grab seines Vaters auf. Interessant sind ihre unterschiedlichen Bezeichnungen: „L’object invisible“ (Der unsichtbare Gegenstand) oder „Mains tenant le vide“ (Hände, die die Leere halten). Beim Hören ergibt der Ausdruck eine lautgleiche Äquivalenz zu: „Maintenant le vide – Jetzt die Leere.“ Die Bedeutung von „le vide“ ist vielschichtig: Leere, Zwischenraum, Tiefe, Abgrund. Was aber halten die Hände?
In den Zeiten, in denen Giacometti in Paris in seinem Atelier arbeitete, besuchte er häufig den Louvre. Eines seiner Lieblingsbilder war ein Marienbild aus dem Freskenzyklus von Cimabue. Vor allem beeindruckte ihn die „Wahrheit der Hände“ der Madonna. „Man kann die Hände nicht echter und dichter gestalten“, so Giacometti. Die Hände seiner Skulptur sind den Händen auf dem Marienbild sehr ähnlich – nur halten sie kein Kind, keinen Jesus, sondern die Leere. Der Raum zwischen den Händen ist eine Leer-Stelle. Er wird aufgespannt, aber nicht gefüllt. „Kunst interessiert mich sehr – aber die Wahrheit interessiert mich unendlich viel mehr … und die Wahrheit ist einzig das Leben“, so hat es Giacometti formuliert (Steinmeier 2003, 198–203).
Man könnte diese Figur auch „Seel-Sorge“ nennen. Aus dem Abgrund aufsteigend, schauend und verletzt, spannt sie die Arme auf, um zu bergen und doch freizugeben. Eine Reihe und eine Zeitschrift, die im Titel den Begriff „Seelsorge“ führen, dürfen natürlich zwischen den beiden Buchdeckeln nicht die Leere aufspannen, aber etwas von diesem Bewusstsein soll in jedem Exemplar wach gehalten werden: im Aktivismus allein liegt nicht die Lösung.
Theologie und Praxis von Seelsorge wollen etwas von diesem Paradox der Seelsorge inszenieren: Handeln ist kein Erdrücken, Freiraum geben aber auch keine interesselose Distanz. Seelsorge ist ein Paradox: das Junktim zwischen Naivität des Herzens und Professionalität der Methode (Garhammer 1989).