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ОглавлениеJörg Seip
Pastoral und Seelsorge
Eine diskurskritische Relektüre
„‚Wenn ich ein Wort verwende‘, behauptete Hampti Dampti hochmütig, ‚dann hat es genau die Bedeutung, die ich haben will – nicht mehr und nicht weniger.‘
‚Die Frage ist‘, wandte Alice ein, ‚ob man das einfach machen kann, einem Wort so viele verschiedene Bedeutungen geben.‘
‚Die Frage ist‘, korrigierte Hampti Dampti, ‚wer das Sagen hat – das ist alles.‘“ (Caroll 1998, 719)
Eine Frage der Verortung
„Pastoral“ und „Seelsorge“ sind Begriffe, die das Christentum seit seinen Anfängen begleiten und von diesem stets neu adaptiert und transformiert werden. Beide gehen und gingen dabei Mesalliancen mit der jeweiligen Zeit und ihren Bedingtheiten ein. Das zeigen schon die Fundorte, die Topik der beiden Begriffe: während das Wort „Pastoral“ über die altorientalischen Bilder vom Hirten (pastor, lat.) auf die jüdisch-christliche Antike zurückgeführt wird, entstammt das mit der Selbstsorge (epimeleia heautou, gr.) verbundene Wort „Seelsorge“ der griechisch-römischen Antike. Die semantische Offenheit beider Begriffe war in der Folgezeit nie ein Makel, denn sie ermöglichte situative und diskursive Aneignungen und Umstellungen, die einerseits unterschiedliche theologische Konzeptbildungen und Differenzierungen zur Folge hatten und andererseits dennoch schlichtweg sämtliche Handlungsweisen und -träger christlicher Gemeinschaften bezeichnen konnten. In dieser freigegebenen, doppelten Aneignung und Benutzung liegt geradezu der Reiz und möglicherweise ein unterscheidendes Merkmal zum Begriffsgebrauch anderer theologischer Disziplinen, etwa der systematischen oder biblischen. Die Praktische Theologie operiert mit von der Alltagssprache besiedelten Begriffen. Ihre Begriffe werden im Alltagsgebrauch ständig überschrieben. Dass ein solcher Gebrauch die institutionellen bzw. professionellen Definierungen unterläuft, regt die Praktische Theologie nebenbei an, dem kritisch nachzugehen, was man Definitionsmacht nennt. Die Doppelheit von professionalisiertem und alltagspraktischem Bezeichnen schaut auf die Mikropraktiken der Macht und führt zu anderen Praktiken im Umgang mit Begriffen und Fundorten: die Praktische Theologie kann viel weniger als andere theologische Disziplinen eine Norm oder Definition voraussetzen, sondern sie findet bzw. erfindet solche erst in den Konstellationen der Praktiken. Das ist aus Sicht der Diskursforschung gesagt (Angermüller u. a. 2014): Praktische Theologie nimmt ihren Anfang bei den Praktiken und darunter fallen unter anderem nun eben auch Normen, Definitionen oder Prinzipien, aber nicht so sehr in Hinsicht auf das, was sie sagen, sondern auf das, was sie tun und was deren Gebrauch zeigt (Seip 2009, Gärtner u. a. 2014). Insofern ist die doppelte Aneignung der Begriffe „Pastoral“ und „Seelsorge“ keineswegs ein zu begradigender Lapsus oder gar eine zu behebende Unschärfe, der man quasidekretiv mit Definitionen beizukommen hätte, sondern sie ist der originäre Ausgangspunkt pastoraltheologischen Denkens. Mit anderen Worten: es geht um das Zwischen oder Neben (pará, gr.), d. h. um jenen dritten Raum in actu, der beim Bezeichnen und Überschreiben entsteht (Seip 2017 a). Denn der Definitionsmacht schiebt sich ständig „etwas“ dazwischen. Insofern ist das Zwischen der Fundort der Praktischen Theologie.
Dieser Essay geht darum auch weniger rekonstruktiv den historischen oder gegenwärtigen Konfigurationen der beiden Begriffe nach, sondern sucht – im Sinne einer anregenden Lektüreeröffnung – eine Art diskursive Verortung (in) der ebengenannten, stets mitlaufenden Doppelheit pastoraltheologischer Praktiken. Unter „Diskurs“ verstehe ich dabei verkürzt gesagt die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsbedingtheiten: m. a. W. es geht nicht um das Was, sondern um das Wie, nicht um die Aussage, sondern um die Art und Weise des Aussagens, nicht um die Bedeutung des Was, sondern um die Modalität bzw. Erscheinungsweise des Was.
So wird das heuristische Potential der Praktiken aufgegriffen, die unter Bezeichnungen wie „Pastoral“ und „Seelsorge“ erscheinen. In diesem Zuge könnten auch allegorisierende Verwendungen offengelegt werden, die nicht selten eine Verschleierung (kirchen)politischer Strategien sind. Solche treten beispielsweise offen zutage im pejorativen Gebrauch, der „Pastoral“ und „Seelsorge“ lediglich als nette Anwendungen benutzt oder in die Funktion von Steigbügelhaltern drängt für die hehren, andernorts ausgedachten Prinzipien, die durch sie bloß noch zu akkomodieren oder zu illustrieren wären (Garhammer 2005). Das Problem hierbei ist die Ortsfrage: „Pastoral“ und „Seelsorge“ sind eben nicht als Zielorte, sondern als Fundorte der Theologie zu denken (Haslinger 2015, 386–387). Sie umschreiben jenen diskursiven Raum in actu, in dem Theologie weder vordiskursiv gesetzt ist noch nachträglich korrigierend eingreift, sondern, simultan in Denken und Tun, geschieht, gefunden wird und entsteht. Diese normative Aussage impliziert folgende Fragen: Wer autorisiert den Gebrauch? Von wo aus kritisiere ich den Gebrauch?
Zwischen wissenschaftstheoretischen Strategien und alltagspraktischen Taktiken
Professionalisierung und Alltagsgebrauch scheinen einander zu widerstreiten. Daß „Pastoral“ und „Seelsorge“ spätestens um das Zweite Vatikanische Konzil herum eine wissenschaftstheoretische Professionalisierung erfuhren, wiewohl es im Christentum schon früh erste Professionalisierungstendenzen gab (Schöllgen 1998), ist ebensowenig fraglich, als dass diese mittlerweile abgegeben, zumindest aber mit anderen Disziplinen geteilt worden ist, allen voran mit den im 19. Jh. sich herausbildenden Humanwissenschaften (Certeau 2009). Wer daraus allerdings den Schluss zöge, dass man die strategischen, also institutionell in der Wissenschaft gewonnenen neuen Erkenntnisse und Entwürfe der Praktischen Theologie nun bloß nur noch umzusetzen bräuchte, hat nicht mit den Taktiken der Gläubigen gerechnet. Der Gebrauch schiebt sich dazwischen und so findet sich die Praktische Theologie in einem spannungsreichen Gefüge bzw. vor einer Unterscheidung. Die in der Fachgeschichte herausgearbeitete Spannung zwischen Deskriptivem und Normativem bzw. zwischen Ist und Soll realisiert sich in spätmodernen Ansätzen als Spannung zwischen Praktiken und Aussagen bzw. zwischen Alltagsgebrauch und Epistemik. Im Sinne einer Gretchenfrage formuliert: Nun sag, wie hast du es mit diesen dreien, mit wissenschaftsstrategischer Differenzierung, taktischem Gebrauch und akkomodierender Anleitung?
Die Alltagspraktiken, das hat Michel de Certeau in Bezug auf die Stadt analysiert (Certeau 1988), unterlaufen die Pläne jener, die den Alltag allzu gerne kartographieren. Aus dieser Sicht wird Praktische Theologie als Anleitungswissenschaft nicht funktionieren, denn zum einen wissen die Fußgänger schon selber, welche Wege sie einschlagen und wo sie Umwege erfinden. Und zum anderen ist das, was Praktische Theologie tut, keineswegs so etwas wie das Weiterreichen einer Karte, sondern, das haben die handlungs- und wahrnehmungswissenschaftliche Ausrichtung seit den 1970er bzw. 1990er Jahren unhintergehbar gezeigt, ein kommunikatives Handeln, das in actu einer Kommunikation jene Subjekte und sujets, um die es geht, erst ausbildet. Diese Lesart bringt die Positionen von Jürgen Habermas und Michel Foucault zusammen, insofern sie mit Foucault vom normativen Subjektbegriff bei Habermas entlastet (Subjekte in actu ihres Entstehens und nicht vordiskursiv gesetzt) und zum anderen mit Habermas an einem normativen Kern festhält, nämlich der Kommunikation als einer Beziehung bzw. Relation.
Akkomodationen und Anleitungen haben demgegenüber kein Sensorium für Subjekte, für Menschen und Texte: Anleitungen behandeln diese als Objekte. Der Anleitung wohnt auf unterschiedliche Weise ein panoptischer Standort inne: statt um lokale Räume mit ihren unsichtbaren Wegen und Finten geht es ihr um den Hochsitz. Kurz: die Anleitung weiß zuviel. Sie setzt den immergleichen Ort (voraus) und verhandelt ihn nicht.
Der Gebrauch ist nach Certeau frei von solcherart Anleitungen. Er macht eine Diasporisierung oder Streuung und gibt ein „Mehr“ zu denken: er vollzieht ein Gehen, Flanieren und Wandern, das eine kartierte oder katalogisierte Aufzeichnung mit ihren klaren Linien planiert, denn:
„Bei der Aufzeichnung von Fußwegen geht genau das verloren, was gewesen ist: der eigentliche Akt des Vorübergehens. Der Vorgang des Gehens, des Herumirrens oder des ‚Schaufensterbummels‘, anders gesagt, die Aktivität von Passanten wird in Punkte übertragen, die auf der Karte eine zusammenfassende und reversible Linie bilden. Es wird also nur noch ein Überrest wahrnehmbar, der in die Zeitlosigkeit einer Projektionsfläche versetzt wird. Die sichtbare Projektion macht gerade den Vorgang unsichtbar, der sie ermöglicht hat. Diese Aufzeichnungen konstituieren die Arten des Vergessens. Die Spur ersetzt die Praxis. Sie manifestiert die (unersättliche) Eigenart des geographischen Systems, Handeln in Lesbarkeit zu übertragen, wobei sie eine Art des In-der-Welt-seins in Vergessenheit geraten läßt.“ (Certeau 1988, 188–189)
Den Gebrauch, den die Karte der Anleitung vergessen macht, zu analysieren und zu unterscheiden, was nichts anderes heißt als Kritik, ist der Praktischen Theologie aufgegeben. Der Gebrauch geschieht in actu und auf doppelte Weise: über Alltagspraktiken und deren wissenschaftlicher Reflexion. Beide Modi stehen nicht in einem Über-, Nach- oder Nebeneinander, sondern sind miteinander verschränkt in der Weise eines „unvermischt und ungetrennt“. Es geht um ein „hier und da“ (Certeau 1988, 191), um ein Hin-und-Her-Gehen bzw. -Flanieren (discurrere, lat.). Das fängt dann aber schon mit den hier bedachten Begriffen Pastoral und Seelsorge an.
Pastoral als Haltung und als Relationsbegriff
Der Gebrauch des Wortes „Pastoral“ reicht von der Umschreibung dessen, was die Kirche tut (deskriptiv) oder tun müsse (normativ) bis hin zum Synonym für die Relation von Kirche und Welt. Als problematisch kann sich dabei jene materiale Verwendung von „Pastoral“ erweisen, die den Begriff auf eine Innenbeschreibung und -normierung reduziert. Zwar wird der Außenbezug durch humanwissenschaftliche Exkurse, also durch ergänzende soziologische, psychologische u. a. Erhebungen behauptet, manchmal scheint diese Behauptung (einer Profession) jedoch eine Alibifunktion zu haben. Die Radikalität des Verfahrens Sehen-Urteilen-Handeln erscheint dann gekappt, wenn das Sehen die Bedingungen und Bedingtheiten der Urteils- und Handlungsstrategien nicht selber wirklich in Frage stellt und transformiert. Insofern wohnt diesem materialen Pastoralbegriff ein vordiskursives Moment inne, das den Prozess des Verhandelns einer besseren Praxis nicht wirklich offen gestalten läßt, sondern das diesen Prozess vorab rahmt und beschneidet. Dass es stets vordiskursiv gesetzte Elemente geben wird, ist hierbei nicht die entscheidende Frage, es wird in der „Pastoral“ immer unhintergehbare christliche Setzungen geben: Könnte eine solche und damit ein angemessener materialer Pastoralbegriff nicht ausgehen von der Anerkennung des Anderen?
Damit würde sich die Pastoraltheologie spannenderweise an ethisches Fragen zurückbinden – das tat sie wissenschaftspraktisch schon im 17./18. Jh. und damit soll nun nicht die Ausdifferenzierung zurückgenommen werden, vielmehr hat sie einen eigenen Weg zu suchen bei der materialen Bestimmung des Pastoralbegriffs. Der Begriff „Anerkennung“ scheint mir insofern zentral und anschlussfähig, als er gegenwärtige Wissensformationen nach dem postcolonial turn nicht überspringt. Das Konzept der Anerkennung findet sich in Ansätzen von Édouard Glissant, Homi K. Bhabha, Judith Butler und Seyla Benhabib ebenso wie in biblischen, jüdisch-christlichen Schriften, die man als Narrative der Differenz oder als „Schule der Liebe zum Fremden und des Antirassismus“ (Levinas 1996, 126) begreifen könnte. Mithilfe hermeneutischer Formationen ist die Perspektive der Anderen eingebracht worden in diakonisch formatierten Konzepten (Haslinger 1996, 491–503).
Die kriteriologische Frage wäre, auch bei der Rede von Anerkennung und Verletzbarkeit, welche vordiskursiv gesetzte Bedingungen wie, woraufhin und von wem eingesetzt worden sind. Das betrifft auch die Weitung und Operationalisierung des Pastoralbegriffs in der zweiten Kirchenkonstitution Gaudium et spes. Deren Fußnote erfindet den Pastoralbegriff im Sinne einer kontinuierlichen Tradierung neu. Sie verbindet ihn zum einen material mit dem, was sie – überdies ist dies ein Hauptbegriff des Konzils – „Haltung“ („habitudinem“) nennt, und sie qualifiziert ihn zum anderen als Relationsbegriff: „pastoral“ meint danach die „Haltung der Kirche zur Welt und zu den Menschen von heute“ („habitudinem Ecclesiae ad mundum et ad homines hodiernos“; Fußnote zu GS).
Andere Worte für Haltung oder Relation wären Beziehung (Boschki 2003), Resonanz (Rosa 2016), Differenz (Bhabha 2000) oder Balance (Wustmans 2011). Allen gemein ist das Durchbrechen und Außerkraftsetzen binärer Kodierungen und dichotomischer Praktiken. Es geht um so etwas wie Botengänge (Serres 1995). Die Konzilstexte des Zweiten Vatikanum spielen dies auf vielfältige Weise durch: schon im Titel von Gaudium et spes wird Kirche auf Welt hin relationiert und in die Zeit eingebettet statt von ihrer quasiessentialistischen Größe auszugehen, die doch nur wieder ein binäres Ranking zur Folge hätte. Damit bricht der neue Pastoralbegriff und öffnet einen Raum für Melangen und Mischungen, die derzeit in der relationalen Theologie von Papst Franziskus weiterentwickelt werden, beispielsweise in der Dekonstruktion des Zentrums (einhergehend mit der Ermutigung zu peripheren Praktiken) oder der theologischen Aufwertung situativer Bezüge als loci theologici (einhergehend mit der Kritik „katalogisierender“ Praktiken in Amoris Laetitia 2016), fußend auf der grundlegenden, verschiebenden Relationierung von GS 4.1 als einer „Relecture des Evangeliums aus der Perspektive der gegenwärtigen Kultur“ (Franziskus 2015). Eine solche Raumeröffnung für Melangen und Mischungen wirkt der selbstverschuldeten Exkulturation des Evangeliums entgegen.
Pastoral ist somit – im Sinne Certeaus – kein Ortsbegriff, sondern umschreibt einen Raum. Während der Ort essentialistische Zuweisungen annehmen kann, unterläuft der Raum dies, denn ihn gibt es nur mit der zeitlichen Signatur des Präsentischen und das heißt: in actu seines Entstehens und Vergehens, kurz: Ereignens (Seip 2017b). Das wiederum führt zum Verständnis von Pastoral als Haltung zurück: Pastoral heißt Haltung. Haltung ist kein Besitz, denn das wäre keine Haltung, weil Haltung ihre Kriterien am Anderen ausbildet. Weil sie sich am Anderen ausrichtet bzw. weil sie sich dem Anderen aussetzt, kann sie nur in den – aus essentialistischer Sicht zu behebenden, aus relationierender Sicht konstitutiven – Unreinheiten der Zeit performiert werden und bleibt darum aus konstitutiven Gründen fragil und angreifbar. Als theologisches Kriterium der Performance können sich die Begriffe der Anerkennung und Verletzbarkeit als hilfreich erweisen und durchsetzen.
Als kleines erstes Fazit gesagt: Der Begriff „Pastoral“ kann als Raumeröffnung fungieren, indem er vordiskursive Setzungen sichtbar macht. In seiner relationalen Bestimmung liegen die beiden Pole Kirche und Welt weder den normativen noch den praktischen Bestimmungen voraus, sondern werden in diesem Beziehungsnetz bzw. Gefüge erst gefunden, das heißt sie werden permanent re- und dekontextualisiert. „Beliebig“ ist dies nur aus der Perspektive jener, die den Ort kartographiert haben und diese Karte nun für jeglichen Raum als gültige ausgeben. Die pastorale Aufgabe (etwa des kirchlichen Lehramts) bestände demnach darin, den Prozeß dieser Verhältnisbestimmung (und damit der eigenen Definition) in Gang zu halten. In anderen Sprachspielen heißt genau dies Tradition. Tradition gibt es nur mit „Zeitkern“ (Benjamin 1983, 578), d. h. in den diskursiven Bedingtheiten des Heute („huius temporis“, GS 1). Sie schreitet voran im Sinne eines Wachsens und läßt sich nicht abschließen. Dieses Wachsen oder Werden näher zu bestimmen, unterliegt wiederum den diskursiven Bedingtheiten des jeweiligen Heute: während DV 8 („proficit“) entsprechend seiner Zeit von einem linearen Fortschritt ausgeht, geht man in heutiger Zeit weniger von einer solchen Linie aus und denkt das Wachsen nichtlinear, etwa im Sinne eines Konzepts der Natalität (Arendt 2005) oder im Sinne des Ereignisbegriffs (Derrida 2003; Zizek 2014).
Die Epistemik eines solchen Pastoralbegriffs stellt darum neben dem, was gesagt wird (hermeneutische Verfahren), also immer auch die Erscheinungsweise des Gesagten und des Sagens (diskurskritische und dekonstruktive Verfahren). Auf materialer Ebene geht es um eine Erscheinungsweise oder Modalität, die ihr theologisches Kriterium aus der Anerkennung und Verletzbarkeit bezieht.
Seelsorge als Lektüre und als Exegese der eigenen Seele
Auch dem Wort „Seelsorge“ geht es um Anerkennung: um Anerkennung des Anderen (in der Seelsorgebeziehung) und um Anerkennung des Eigenen (in der Beziehung zu sich selbst). „Seelsorge“ wiederholt das soeben skizzierte Pastoralverständnis, da sich hier am Einzelnen jene Relationierung, die der Pastoralbegriff diskursiv zu umschreiben vermag, praktisch zu bewähren hat. Die damit einhergehende Professionalisierung der Seelsorge, die sowohl auf der Rezeption psychologischer Kenntnisse fußt als auch auf dem Proprium der Seelsorge gegenüber therapeutischen Verfahren beharrt (denn Seelsorge findet im Extremfall in Situationen statt, in denen es keine Lösung und es „nichts zu ändern gibt“ (Vogd 2014)), geht einher mit alltagssprachlichen, überaus positiv konnotierten Verwendungen. „Seelsorge“ ist wie „Pastoral“ neben professionalisierten Operationalisierungen zugleich ein alltagssprachlich überschriebener Begriff, der wiederum verbunden ist mit dem semantischen Feld von „Zuhören“, „Helfen“, „Begegnen“, „Aufrichten“, „Aushalten“.
Statt im folgenden verschiedenen Seelsorgekonzepten oder den Kartierungen von Pastoral (als Allgemeinbegriff) und Seelsorge (als Einzelfall oder Eigenname) nachzugehen (Nauer 2001), verknüpfe ich den Seelsorgebegriff mit dem Begriff „Lektüre“. Dabei greife ich zurück in jene Zeit, die die Bedingungen von Seelsorge, wie sie uns noch heute begegnet, grundlegend formatiert hat, das dritte bis sechste nachchristliche Jahrhundert. Ich tue dies aber nicht aus rekonstruktivem Interesse, das über den (vermeintlichen) Ursprung die Etablierung einer Autorität verfolgt, sondern aus einem heuristischen Interesse, das fragt: Welche Umformatierung hat „Seelsorge“, eine Praktik der griechisch-römischen Antike, im Christentum ermöglicht? Welcherart epistemische Möglichkeitsbedingung ergibt sich daraus für die Seelsorge?
Christliche Seelsorge entnimmt den Seelsorgebegriff der antiken Literatur, in der biblischen fehlt er. Sie unterscheidet sich nach Guy Stroumsa von der antiken Seelsorge in folgendem: Das jüdische Ideal des Propheten und das christliche Ideal des Heiligen unterscheiden sich vom griechisch-römischen Ideal des Weisen im Stellenwert, den sie der Ethik als Bestandteil der Religion zukommen lassen. Christliche Seelsorge impliziert insofern stets (und auf andere Weise als die Antike) Ethik und Sorge um den Anderen. Das geht beispielsweise einher mit der Aufwertung, die das antike Christentum Frauen, Nichtbürgern und Sklaven entgegenbringt, und das schließt am schon skizzierten materialen Pastoralbegriff als Anerkennung der Anderen an. Bei der Entstehung des „abendländischen Subjekts“ (Zeillinger 2013) leistet der christliche Seelsorgediskurs die entscheidende Transformation: erstmals erscheint der Mensch lesbar und wird einer Lektüre unterzogen. Lektüre und Seelsorge sind untrennbar miteinander verknüpft. Das Christentum führt in seiner aneignenden Rezeption der antiken Seelsorge die „Exegese der eigenen Seele“ (Stroumsa 2011, 45; Hamaimbo 2015) ein, etwas das ab dem 18. Jahrhundert wiederum die Humanwissenschaften beerben.
„Die Umkehr zu sich – hebräisch teshuva bedeutet zwar Umkehr zu Gott, aber zugleich Umkehr zu sich – setzt ein intensives Interesse am sündigen Ich voraus, eine Lektüre bzw. eine Hermeneutik seiner selbst. Eine solche Haltung bewirkt eine Erweiterung des Selbst, die mehrere Persönlichkeitsaspekte einschließt, die von den heidnischen Denkern als des Interesses unwürdig betrachtet wurden. […] Das Christentum […] sprengt die Grenzen der Person“, insofern diese „jetzt neben der Seele auch den Leib beinhaltet.“ (Stroumsa 2011, 46–47)
Die damit einhergehende Fokussierung auf die Sünde ist Stroumsa zufolge jener Leiberweiterung geschuldet; die Praktiken der Buße und Askese sind als Lektüren der eigenen Seele zu lesen. Diese Ausweitung der Person bedeutet eine Neuformierung bzw. Erfindung dessen, was wir das abendländische Subjekt nennen: „Die große Trennungslinie verläuft nicht mehr zwischen Körper und Seele [wie in der griechischen Philosophie, J. S.], sondern zwischen dem sündigen und dem geretteten Ich.“ (Stroumsa 2011, 50)
Sie bringt die vielfältigen Praktiken der Seelsorge und Pastoral hervor, die durch die Jahrhunderte weitere Transformationen vollziehen. Dabei bleibt allerdings folgendes bewahrt, als These formuliert: Die Frage nach dem Heil bleibt fortan an das Innere gekoppelt. Es gibt eine Lesbarkeit des Inneren, die von den christlichen Seelsorgepraktiken über die Psychologie des 19. Jahrhunderts zur Salutogenese- und Resilienzforschung, aber auch zum heutigen Diskurs der Selbstevaluierung führen: letztere sind ohne diese Umstellung bzw. Erfindung nicht möglich. Das christliche Sprachspiel „sündiges und gerettetes Ich“ erfordert keinen Souverän über den Körper, sondern vielmehr eine In(tro)spektion: das Sprachspiel setzt sich in den Praktiken des im 18. Jh. entstehenden Nationalstaates, auf den die Pastoralmacht übergegangen ist, fort und zeigt sich gegenwärtig am Evaluierungsdispositiv, das sich mithilfe des Sprachspiels „sündiges und gerettetes Ich“ beschreiben und rekonstruieren ließe. Auch die Handlungsansätze der Praktischen Theologie (1970 ff.) fußen diskurskritisch gesehen hier und semiotische sowie diskursanalytische Untersuchungen würden deren introspektive Formatierung zutage fördern, was Redewendungen wie „Intervention“ und „Ressourcenorientierung“ exemplarisch zeigen.
Die theologische Herausforderung in spätmodernen Zeiten hingegen ist, dass es ein Zuviel oder Zuwenig – beides läuft auf dasselbe hinaus – des Lesens und Entzifferns gibt. Mit anderen Worten: der im christlichen Seelsorgeverständnis gründende Fokus auf das Innere (und die Tiefe) erschwert es der Theologie, die postmoderne Epistemik des Außen bzw. Äußeren (und der Oberfläche) konzeptionell zu würdigen und gegen ihre adoptierte Abwehrhaltung kreativ aufzugreifen (Seip 2013, 147–148: FN 21). Das Zuviel der Signifikanten einerseits und das Zuwenig eines daraus ableitbaren Signifikats andererseits wird eine andere, neue Formation von Pastoral und Seelsorge mit sich bringen. Neben der schon erwähnten nichtdichotomisierenden Relationierung von GS 4.1 bei Papst Franziskus wären exemplarisch gegenwärtige Ansätze der Pastoraltheologie zu nennen, die sich der Relation, dem Hybriden, den Balancen, dem Flanieren, dem Ereignis, dem Neben (pará, gr.), dem Konstellativen u. ä. verschreiben und darin das Innere mit dem Außen, die Tiefe mit der Fläche, das Eine mit dem Vielen, den Ort mit dem Raum in eine Beziehung (auf ein Plateau, auf eine Ebene, auf die Fläche) setzen.
Als kleines zweites Fazit gesagt: Seelsorge hängt an der Möglichkeit der Lesbarkeit des Inneren. Den Katholizismus durchzieht eine permanente Spannung zwischen diesem Inneren und seinen Kontrolleuren, zwischen den Charismen und den Ämtern, zwischen den Wegen und der Karte (Certeau 1991, 198–213). Diese Spannung nicht zu vereindeutigen und damit abzuschaffen, sondern sie zu kultivieren ist auch ein Anliegen angemessener und das heißt nicht übergriffiger Seelsorge (Mertes 2013).
Die Lesbarkeit ist aber weder unschuldig gegeben noch sicheres Monopol: sie muss vielmehr in den Bedingtheiten der Zeit neu entstehen können. Vielleicht lassen sich zwei Pole ausmachen, zwischen denen die gegenwärtige Pastoraltheologie ihre Forschungssujets und -zugänge findet und gestaltet: zwischen der rupture, einem Bruch oder einer Pause einerseits (Garhammer 2009, 324) und andererseits der professio, einem Aufgreifen und Gebrauchen von Professionalisierungsstrategien, die mit organisationstheoretisch-ökonomischen und evaluativ-positivierenden Diskursen verbunden sind (Steinebach 2010; Equit 2011; Schrappe 2012). Die herausschälbaren Wissensformationen reichen damit vom Alltagsgebrauch und seiner impliziten Volkstheologie auf der einen bis hin zum professionalisierten Gebrauch auf der anderen Seite. Zwischen rupture und professio, zwischen Kritik und Aneignung, zwischen Rhizomisierungen und Linearisierungen, zwischen ästhetischen und handlungsorientierten Formationen bewegt sich auch das universitäre Wissenschaftssystem. Insofern verhandeln die Begriffe „Pastoral“ und „Seelsorge“, nämlich je nachdem wie sie gefüllt werden, exemplarisch immer auch die Politiken des Wissens. Sie stehen für unterschiedliche, wenn auch ergänzende und einander korrigierende confessiones in Bezug darauf, was sie Wirklichkeit, Welt, Zeit und Kirche nennen – und wie sie es zu gewinnen vermeinen.