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Die Zeugin und der Freund

Ich wurde 2012 in Berlin katholisch getauft. Es ist hier nicht selbstverständlich, Christ zu sein. Das macht es vielleicht einfacher. Ich nehme, sooft es geht, sonntags an einer Eucharistiefeier teil. Es sind Begegnungen im Alltag, die mich bewegen, erschrecken und mich bisweilen an die Grenzen des Begreifbaren führen. Der Glaube hilft mir, in all dem Unbegreiflichen ein zuversichtlicher Mensch zu bleiben.

Die Zeugin

In der Anklage heißt es:

Am Tattag betrat der Angeklagte gegen 10:00 Uhr die gemeinsam mit seiner Ehefrau bewohnte Wohnung, packte die Zeugin am Arm, zerrte sie zunächst ins Wohnzimmer, warf sie auf das Ecksofa, wodurch die Zeugin nicht unerhebliche Schmerzen im Brust- und Schulterbereich erlitt, was der Angeklagte zumindest billigend in Kauf genommen hatte. Dabei sagte er zu der Zeugin: »Hier wird jetzt dein Ende sein.« Er versetzte der Zeugin mit der rechten Faust einen gezielten Schlag gegen die linke und einen weiteren Schlag gegen die rechte Kopfseite. Der Angeklagte beugte sich über die Zeugin, fixierte sie mit seinem Körpergewicht und begann sie mit beiden Händen und zunehmender Intensität zu würgen, welche hierdurch infolge mangelnder Luftzufuhr kurzzeitig das Bewusstsein verlor. Als sie röchelte, sagte er zu ihr: »Wieso bis du immer noch am Leben?« Der Angeklagte schlug die Zeugin nunmehr erneut mit der Faust und traf sie am Hinterkopf, weil es ihr gelang, den Kopf wegzudrehen. Anschließend begann er sie wieder zu würgen und sagte: »Das ist dein Ende. Du kommst hier nicht raus.« Die Zeugin verlor nun mangels Luft das Bewusstsein. Als sie es wiedererlangte, äußerte der Angeklagte verwundert, dass die Zeugin noch lebe, ließ dann aber von ihr ab, als sie ihm ihre Liebe versicherte. Anschließend forderte der Angeklagte die Zeugin auf, auf den Koran zu schwören, dass, wenn sie am Leben bleiben würde, niemandem von den Geschehnissen erzählen würde. Aus Angst vor dem Angeklagten leistete sie diesen Schwur und verzichtete zunächst darauf, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie vertraute sich erst am folgenden Tag einer Nachbarin an, die die Polizei alarmierte.

Die Zeugin hat Angst vor dem Angeklagten. Sie lebt mit ihrer Tochter in einem Frauenhaus an einem geheimen Ort. Er lässt sie aus der Untersuchungshaft heraus über Dritte mit dem Tode bedrohen. Er lässt ihr auch ausrichten, dass er ihr verzeihe.

Ein Saal im Kriminalgericht an einem Gründonnerstag.

Die Zeugin trägt einen Hidschab. Sie kommt in Begleitung von vier Polizisten des Personenschutzes, einer Frau und drei Männern. In dem Saal ist rechts eine Tür, ich steige die Treppe hinab in einen Sicherheitsbereich. Ich bin ihr Anwalt. Die Zeugin wartet auf ihre Aussage – zitternd vor Angst. Neben ihr sitzt die Dolmetscherin. Sie hält ihre Hand und beruhigt sie in russischer Sprache. Es klingt zärtlich. Über die Dolmetscherin verdeutliche ich ihr, dass sie das Geschehen der Richterin, dem Schöffen und der Schöffin wie Freunden schildern solle. Sie hat Angst vor dem Mann. Ich sage ihr, dass er nichts mehr ausrichten könne. Er sitze hinter einer Panzerglasscheibe. Es seien genug Beamte zu ihrem Schutz da. Er könne ihr nicht mehr wehtun. Das sei vorbei. Er habe jetzt mit Konsequenzen zu rechnen. Sie müsse nur genau erzählen, was passiert sei. Sie fragt, ob er Fragen stellen dürfe. Ich antworte: Ja, er hat das Recht, Fragen zu stellen. Schauen Sie dann einfach nur nach vorn zur Richterin und erzählen Sie. Es ist die Wahrheit. Sie können sich nicht irren.

Die Aussage dauert zwei Stunden. Als die Richterin Fragen stellen möchte, sagt sie, dass sie noch nicht fertig sei, und erzählt eine weitere Stunde. Jedes grausame Detail. Die Todesangst. Die Verwunderung, noch zu leben. Sie weint immer wieder. Die Dolmetscherin übersetzt und hält ihre Hand. Die Zeugin bricht den Schwur. Satz für Satz. Wort für Wort. Zitternd und weinend befreit sie sich. Die Gerichtsmedizinerin zählt 65 Verletzungen auf. Der Mann wird zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Sie kann ihr Leben beginnen. Irgendwo an einem geheimen Ort. Die Angst wird bleiben.

Der Freund

In der Vorsorgevollmacht meines Freundes stand, dass ihm ein Rabbi beistehen solle, wenn er stirbt. Er hatte sich eine Überdosis Kokain gespritzt, sein Assistent fand ihn leblos. Es gelang den Rettungssanitätern, ihn wiederzubeleben. Sein Gehirn blieb acht Minuten lang ohne Sauerstoffversorgung. Keine Möglichkeit mehr.

Ich besuche ihn im Jüdischen Krankenhaus. Er scheint zu lächeln. Er sieht friedlich aus. Sein Körper verkrampft sich alle paar Minuten, was lebendig wirkt, aber – so die Schwester – nur die Folge des Elektroschocks bei der Wiederbelebung sei. Seine Hände sind kalt.

Seine Freundin hatte mir die Nummer des Rabbiners gegeben. Ich erklärte ihm am Telefon, was in der Vorsorgevollmacht steht.

»Ist Ihr Freund gläubig? Ich habe mir auf seiner Website seine Fotografien angesehen. Sonderlich gläubig wirkte das nicht.«

»Ja, das stimmt. Es ist kompliziert. Er hatte in der Reha in Beelitz eine Mesusa an den Türrahmen geklebt und eine riesige Israelfahne in seinem Krankenzimmer aufgehängt. Er setzt sich in seinem Werk mit dem Umstand auseinander, Jude in Deutschland zu sein. Wenn auch eher punkmäßig.«

»Eben.«

»Er will in Israel begraben werden …«

»Gut, wir machen einen Termin. Wann soll ich kommen? Aber es darf kein Gerät abgeschaltet werden.« Die Intensivstation: Ich hatte diese Stationen immer als einen Zwischenraum begriffen. Es weht etwas Unbegreifliches hinein. Die Kakophonie der Überwachungsgeräte: EKG, Blutdrucküberwachung, Sauerstoffsättigung des Blutes. Die Patienten mit ihren Atemmasken und dem Gesichtsausdruck, von dem man sagt, er wirke friedlich. Schweigende und ratlose Angehörige.

Da hinein betet der Rabbi das Sündenbekenntnis in hebräischer Sprache. Es schafft Frieden. Es ist traurig und ich fühle mich getragen. Ich schließe die Augen und halte eine Hand meines Freundes. Ich bete für ihn, dass er aufgenommen werde in die Herrlichkeit des Herrn.

Der Rabbi steigt auf seine Vespa und fährt weg. Drei Tage später stirbt mein Freund. Wir mussten keine Geräte abschalten.

Wir begraben ihn ein paar Tage später in der Sharonebene. Ich soll ihn in der Totenhalle des Friedhofs identifizieren. Der deutsche Sarg steht aufgehebelt und nutzlos geworden neben der Halle in der Augusthitze. Der Rabbi entfernt das dunkelblaue Tuch mit dem aufgestickten weißen Davidstern. Er öffnet behutsam das darunterliegende weiße Leinen. Ich nicke und unterschreibe.

Ein kurzer Trauergottesdienst unter freiem Himmel in der Sonne, die Gedächtnisrede des Rabbiners. Zwei Freunde schließen sich an.

Der Rabbi legt den Körper ins Grab. Alle zusammen schaufeln das Grab mit rotbrauner Erde zu. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden. Auch die Kinder schaufeln mit. Ihn Gott überantworten. Psalm 16: … auch mein Fleisch wird wohnen in Sicherheit. Frieden. Ewigkeit.

S.P., Rechtsanwalt, getauft mit 44 Jahren

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