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ОглавлениеNorbert Mette
Friedensfördernde Ressourcen in den monotheistischen Religionen
Vorbemerkungen
„Es ist unbestreitbar, dass alle monotheistischen Religionen das Potential in sich tragen, sowohl Frieden als auch Gewalt, Exklusion oder Integration zu fördern.“1 Das muss in Erinnerung behalten werden, um nicht allzu voreilig Religionen als Friedensfaktoren zu preisen. Gleichwohl soll es in den folgenden Überlegungen darum gehen, den möglichen friedensstiftenden und -fördernden Beitrag der Religionen, speziell der monotheistischen Religionen, zu erkunden, also gewissermaßen die zu ihrer gewaltsamen Seite umgekehrte Seite.
Meine Ausführungen beginne ich mit dem Christentum bzw. genauer mit dem Beitrag der einzelnen Christ/innen sowie christlicher Initiativen, Gruppen, Bewegungen in den Kirchen zum Frieden – zum einen weil ich selbst darin meine religiöse Heimat habe und mich hier einigermaßen auskenne, zum anderen aber auch weil ich meine, dass hier die konzeptionellen Vorstellungen am weitesten gediehen sind. Es folgt das Judentum, mit dem das Christentum zentrale Prinzipien teilt, um schließlich auf den Islam zu sprechen zu kommen.
Friedensressourcen im Christentum
„In Leben und Lehre Jesu Christi, in seinem Tod und seiner Auferstehung erkennen wir, dass Friede sowohl Verheißung als auch Gegenwart ist – eine Hoffnung für die Zukunft und ein Geschenk hier und jetzt. Jesus lehrte uns, unsere Feinde zu lieben, für unsere Verfolger zu beten und keine tödlichen Waffen zu benutzen. Der Friede, den er uns bringt, kommt im Geist der Seligpreisungen zum Ausdruck (Mt 5,3-11). Obwohl Jesus verfolgt wird, bleibt er standhaft in seiner aktiven Gewaltlosigkeit, sogar bis in den Tod. Sein Leben für die Gerechtigkeit endet am Kreuz, einem Werkzeug der Folter und Hinrichtung. Mit Jesu Auferstehung bekräftigt Gott, dass eine solch unerschütterliche Liebe, ein solcher Gehorsam und ein solches Vertrauen zu Leben führen. Das gilt auch für uns.“2
Komprimiert findet sich in diesen Sätzen aus dem ökumenischen Aufruf zum Gerechten Frieden aus dem Jahr 2011 die Friedensbotschaft des Neuen Testaments zusammengefasst. Eine doppelte Überzeugung kommt darin zum Ausdruck: Friede ist ein Geschenk, eine Gabe Gottes an die Menschheit. Aus diesem Geschenk erfolgt für die Gläubigen die Verpflichtung, diesen Frieden Gottes, soweit sie es vermögen, praktisch umzusetzen. Jesus Christus ist in seiner konsequenten Gewaltlosigkeit für sie die Verkörperung dieses Friedens und somit maßgebliches Vorbild – wobei die Haltung Jesu vor dem Hintergrund der Entwicklung des Friedensdenkens in seiner eigenen Religion, dem Judentum, zu sehen ist. Darauf wird noch zurückzukommen sein.
Frieden im Sinne des Neuen Testaments ist nicht bloß etwas, das als tröstlicher Ausgleich zu den im Diesseits zugestoßenen gewaltsamen Widerfahrnissen im Jenseits zu erwarten ist. Und er besteht auch nicht in einer quietistischen Einstellung, sondern verlangt konkretes Tun, das durchaus Konflikte provoziert. Der Epheserbrief spricht in diesem Zusammenhang durchaus kämpferisch von der „Waffenrüstung Gottes“, die es anzuziehen gilt (vgl. Eph 6,10-17). Wenn man sich diese Waffenrüstung jedoch genauer anschaut, wird einem das Antibild eines römischen Soldaten vor Augen gestellt: der Hüftgurt ist die Wahrheit, der Panzer die Gerechtigkeit, der Schild der Glaube, der Helm das Heil, das Schwert das Wort Gottes und das Schuhwerk die Bereitschaft für das Evangelium des Friedens – nach normalem menschlichen Ermessen die Wehrlosigkeit in Person schlechthin.
Wie kann das Evangelium des Friedens in einer Welt befolgt werden, die weiterhin von den Mächten des Bösen in Form von Gewalt, Krieg u.ä. beherrscht wird? Das war und ist die entscheidende Frage, vor die die Christenheit sich seit ihren Anfängen gestellt sieht. Die Antworten darauf sind im Laufe der Zeit höchst unterschiedlich ausgefallen und haben zu einem Nebeneinander teilweise konträr zueinander stehender Einstellungen geführt, die sich teilweise noch gegenseitig verurteilt haben. Sie reichen vom Widerspruch und Widerstand gegen die bestehenden Gewaltsysteme – in letzter Konsequenz bis zum Martyrium – bis hin zu einem loyalen Arrangement mit der staatlichen Ordnung; und, wenn es möglich war, wurde daraus deren aktive Mitgestaltung aus christlichem Geist heraus. Die sog. „Friedenskirchen“ (Böhmische Brüder, Herrnhuter Brüdergemeine, Mennoniten, Hutterer, Quäker u.a.) stehen für einen entschiedenen Pazifismus, wie er ihrer Meinung nach in der vorkonstantinischen Christenheit maßgebliche Haltung war und der sich u.a. in der Ablehnung des Militärs zeigt, weiterhin in einer Distanz zum Staat und dem Einsatz von Friedensdiensten in Krisengebieten (Christian Peacemaker Teams). In Absetzung davon lassen sich die behelfsweise hier so genannten „Großkirchen“ von der Überzeugung leiten, dass angesichts der Tatsache, dass wir weiterhin in einer friedlosen Welt leben, es nicht nur erlaubt, sondern um des Dienstes an den von Gewalt und Krieg Betroffenen willen als „ultima ratio“ notwendig ist, „den Schutz von Recht und Leben durch den Gebrauch von Gegengewalt zu gewährleisten (vgl. Röm 13,1-7)“3. Im Zuge des Aufkommens der allgemeinen Friedensbewegung vor mehr als 100 Jahren haben sich auch innerhalb dieser Kirchen Gruppen und Vereinigungen gebildet, die einen kompromissloseren Friedenskurs seitens ihrer Kirchen einfordern und auf eine striktere Friedenspolitik drängen. U.a. ist es ihrem beharrlichen Einsatz zu verdanken, dass die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in den Großkirchen Anerkennung fand.
Ohne damit die Verfehlungen und die Schuld mindern zu wollen, die die Kirchen sich mit der Anwendung von Zwang und grausamster Gewalt bei der Verbreitung des Evangeliums oder auch mit dem Schweigen zu Verbrechen gegen die Menschheit auf sich geladen haben, können auch beeindruckende Beispiele dafür gebracht werden, wie sie zur Eindämmung von Gewalt beigetragen haben.4 Erwähnt sei etwa die mittelalterliche Institution der „treuga Dei“ (Waffenruhe Gottes) als zeitweilige Unterbrechung der herrschenden Gewalt oder die Handhabung von Streitschlichtungsverfahren durch die geistliche oder politische Obrigkeit („Gottesfrieden“). Mit der Schaffung eines völkerrechtlichen Bewusstseins in der beginnenden Neuzeit wurde den ungebändigten Eroberungsfeldzügen in den von den Europäern neu entdeckten Kontinenten zu begegnen versucht. Nicht zuletzt ist in diesem Zusammenhang die Übernahme und Weiterentwicklung der in der antiken Ethik grundgelegten Lehre vom „gerechten Krieg“ zu erwähnen, die nicht – wie sie häufig missverstanden wird – der Legitimation von Frieden diente, sondern in einer Umwelt, in der Kriege gang und gäbe waren, Bedingungen angab, die einzuhalten sind, soll ein Krieg ethisch und rechtlich legitim sein: die Kriegserklärung durch eine legitime Autorität, das Vorliegen eines zulässigen Kriegsgrunds, die gerechte Absicht der Kriegsführenden, letztes Mittel zur Wiederherstellung der Rechtsordnung, Verhältnismäßigkeit der Reaktion und Aussicht auf einen Friedensschluss als Bedingungen des Rechts zum Krieg, ergänzt durch Verhältnismäßigkeit der angewandten militärischen Mittel sowie Schutz der Zivilisten als Recht im Krieg.5 Die Rolle, die solche rechtlichen Regulierungen zur Gewalteindämmung gespielt haben, ist nicht zu unterschätzen. Ebenso gilt es realistisch zu sehen, dass sie gegen Missbrauch nicht genügend gefeit waren.
Die Erfahrungen mit den beiden Weltkriegen im vergangenen Jahrhundert und das Aufkommen von technisch immer wirksameren Waffen bis hin zu Massenvernichtungsmitteln haben innerhalb der christlichen Kirchen einen Bewusstseinssprung hinsichtlich ihrer Verantwortung für den Frieden in der Welt ausgelöst. „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“ war gemeinsame Überzeugung der 1948 zur Gründungsversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen nach Amsterdam gekommenen Kirchenvertreter und sie haben dazu bekräftigt: „Krieg ist als Mittel zur Beilegung von Streitigkeiten unvereinbar mit den Lehren und dem Beispiel unseres Herrn Jesus Christus. Die Rolle, die der Krieg im heutigen internationalen Leben spielt, ist Sünde wider Gott und eine Entwürdigung des Menschen.“6 Die katholische Kirche hat sich dieser absoluten Ächtung des Kriegs 1965 auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil angeschlossen (vgl. Gaudium et spes 79–82 [GS 79–82]), wobei einschränkend „das Recht auf sittlich erlaubte Verteidigung“ (GS 79) anerkannt worden ist. Klar hat das Konzil „jede Kriegshandlung, die auf die Vernichtung ganzer Städte oder weiter Gebiete und ihrer Bevölkerung unterschiedslos abstellt“ (GS 80), als ein Verbrechen gegen Gott und gegen die Menschheit verurteilt sowie beklagt, dass der Rüstungswettlauf unerträglich die Armen schädigt (vgl. GS 81). Gefordert hat es die Einsetzung einer von allen anerkannten öffentlichen Weltautorität, „die über wirksame Macht verfügt, um für alle Sicherheit, Wahrung der Gerechtigkeit und Achtung der Rechte zu gewährleisten“ (GS 82).
Die Tatsache, dass mit dem „Fall der Mauer“ und dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht der erhoffte Weltfrieden eingekehrt ist, sondern sich seitdem allerorten in der Welt neue Brennpunkte entzündet haben, und dazu parallel verlaufende Bewusstseinsbildungsprozesse innerhalb der Ökumene (Konziliarer Prozess, Dekade zur Überwindung von Gewalt) haben zu einer Weiterentwicklung der christlichen Friedenstheologie und -ethik geführt, die sich um den Leitbegriff „Gerechter Friede“ bündelt.7 Ausdrücklich soll unter diesem Leitwort die Lehre vom „gerechten Krieg“ in eine heute zeitgemäße Friedenslehre überführt werden. Es gilt nicht länger die Devise „Si vis pacem, para bellum“ (Wenn Du Frieden willst, bereite den Krieg vor), sondern „Si vis pacem, para pacem“ (Wenn Du Frieden willst, bereite ihm den Weg). Dabei ist, anknüpfend an das biblische Verständnis von Schalom8, ein umfassenderes Friedensverständnis im Blick als jenes, das nur auf die Abwesenheit von Krieg abhebt. Frieden wird in engsten Zusammenhang mit Gerechtigkeit gestellt (vgl. Ps 85,11; Jes 32,17; Röm 14,17). Der EKD-Denkschrift zufolge liegt die Bedeutung dieser Einheit als Inhalt göttlicher Friedensverheißung für menschliche Friedenspraxis darin, „dass sie das gängige Verständnis von Frieden von Grund auf neu orientiert: Friede im Sinn der biblischen Tradition bezeichnet eine umfassende Wohlordnung, ein intaktes Verhältnis der Menschen untereinander und zur Gemeinschaft, zu sich selbst, zur Mitwelt und zu Gott, das allem menschlichen Handeln vorausliegt und nicht erst von ihm hervorgebracht wird. Die biblische Rede vom Frieden beschränkt sich nicht auf die Distanzierung von kriegerischer Gewalt, auch wenn diese zu ihren Konsequenzen gehört (…) Friede und Gerechtigkeit interpretieren sich wechselseitig, weil in den biblischen Schriften auch die Gerechtigkeit mehr ist als eine abstrakte Norm oder ein bloßes Sollen. Im Alten Testament bezeichnet Gerechtigkeit im Verhältnis zwischen den Menschen die Gemeinschaftstreue, in der die Geschöpfe dem Bund entsprechen, den Gott in seiner Gemeinschaftstreue mit ihnen geschlossen hat (…) Sie ist Kategorie einer sozialen Praxis der Solidiarität, die sich – der rettenden Macht Gottes entsprechend – vorrangig den Schwachen und Benachteiligten zuwendet. Die ‚bessere Gerechtigkeit‘, von der in der Bergpredigt die Rede ist (Mt 5,20), erfüllt sich letztlich im Gebot der Nächsten-, ja Feindesliebe; sie zielt auf eine soziale Praxis zunehmender Inklusion und universeller Anerkennung. Sie befähigt zur Achtung der gleichen personalen Würde jedes Menschen unabhängig von seinen Taten (und Untaten) und sie berücksichtigt zugleich die relevante Verschiedenheit der Einzelnen in ihren Lebensbedingungen und -äußerungen.“9
Zusammenfassend wird im Begleitdokument zum erwähnten Ökumenischen Aufruf „Gerechter Friede“ wie folgt bestimmt: Er „versteht sich ganzheitlich. Er ist nicht nur die Abwesenheit von Konflikten und Krieg, sondern ein Zustand des Wohlergehens und der Harmonie, in dem alle Beziehungen zwischen Gott, der Menschheit und der Schöpfung in guter Weise geordnet sind.“10
Entsprechend weit ist das Feld, in dem Friedensbemühungen anzusetzen haben. Das Begleitdokument, aus dem gerade zitiert worden ist, führt folgende Bereiche an: „Für Frieden in der Gemeinschaft – damit alle Menschen frei von Angst leben können“ – „Für Frieden mit der Erde – damit das Leben erhalten bleibt“ – „Für Frieden mit der Wirtschaft – damit alle in Würde leben können“ – „Für Frieden unter den Völkern – damit Menschenleben geschützt werden“.11 Zu ergänzen wäre noch: „Für Frieden unter den Religionen – damit die Menschen sich nach ihrem Gewissen frei von jeglichem Zwang entscheiden und ihren Glauben praktizieren können“.
Die beiden Verlautbarungen der evangelischen und katholischen Kirche in Deutschland entfalten das Leitbild des gerechten Friedens schwerpunktmäßig mit Blick auf die sich daraus ergebenden politischen Weichenstellungen, die vorgenommen werden müssen, um sowohl auf innerstaatlicher als auch auf internationaler Ebene ein Mehr an Frieden, Freiheit und individueller, sozialer und ökologischer Gerechtigkeit zu erreichen. Hervorgehoben werden in diesem Zusammenhang etwa die Bedeutung einer entsprechenden Rechtsordnung, die Schaffung eines Bewusstseins universaler Solidarität mitsamt deren Konkretion im Einsatz für globale Gerechtigkeit sowie der konsequente Einsatz für die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen. Im Einzelnen werden die Bedeutung und Grenzen militärischer Maßnahmen erörtert. Die selbstkritische Aufarbeitung der jeweils eigenen Schuldgeschichte wird angemahnt. Insgesamt sind die Überlegungen und Vorschläge, die unterbreitet werden, von der Überzeugung getragen, dass eine radikale Umkehr im Denken und Handeln überfällig ist: Die insbesondere in Wirtschaft und Politik dominant gewordene, sich aber als selbstdestruktiv erweisende Logik der Machtsteigerung gilt es zu ersetzen durch eine auf Verständigung und Anerkennung der Anderen in ihrer Andersheit ausgerichtete Vernunft. Statt immer wieder nachträglich eingetretene Schäden zu beseitigen, gilt es, präventiv zu planen und entsprechende Vorkehrungen umzusetzen. Dabei spielen vertrauensbildende Maßnahmen eine große Rolle. Statt immer nur in eine noch größere Effizienz der Kriegsmaschinerie zu investieren, sollten die Waffenpotentiale ab- und die zivile Konfliktbearbeitung ausgebaut werden. Statt hinter Errungenschaften einer friedensfördernden internationalen Zusammenarbeit zugunsten der Verfolgung nationaler Interessen zurückzufallen, sind diese Institutionen zu stärken und vor allem mit wirksamer Zuständigkeit auszustatten.
Wie sehr eine biblisch inspirierte Perspektive eine grundlegende Umwälzung der herrschenden Denk- und Handlungsgewohnheiten beinhaltet, wird an der Entwicklung des Gottesbildes ersichtlich: JHWH offenbart sich immer klarer als der, der „auf der Seite der Opfer steht, nicht auf der Seite der gewalttätigen Sieger“12. Von daher richtet sich der Blick der an diesen Gott Glaubenden vorrangig auf die Opfer von Gewalt in jedweder Form von Krieg und Terror und lässt die jeweilige Situation der Welt „von unten her“, in Compassion und Solidarität mit den Betroffenen begreifen und angehen. Mit Verweis auf die bei der Gefangennahme Jesu von diesem an Petrus gegebene Anweisung, er solle sein Schwert in die Scheide stecken, weil alle die zum Schwert greifen würden, durch das Schwert umkämen (vgl. Mt 26,52), heißt es in der Erklärung der deutschen Bischöfe, dass wahre Solidarität in der Bereitschaft bestehen könne, „das Schicksal des anderen dort, wo man ihm nicht mehr helfen kann, wenigstens zu teilen“13. Dieses Ethos trage dazu bei, „die Logik der Gewalt nicht nur einzudämmen, sondern sie in einer entscheidenden Situation zu überwinden“14.
Doch bleiben solche wohlfeilen Ratschläge an die Politik, ihren Kurs im Sinne des Gerechten Friedens zu ändern, nicht Appelle, die ins Leere verhallen? Sind es nicht völlig gegenteilige Interessen, die die Tagesordnung der Welt bestimmen und die den überkommenen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt perpetuieren lassen? Anders gefragt: Welche Einwirkungsmöglichkeiten auf die Politik gibt es überhaupt für solche vom Evangelium inspirierten Überzeugungen? Selbst in Parteien hinein, die sich als christlich verstehen, sind sie zunehmend schwieriger zu vermitteln.
Aufgrund ihrer immer noch gewichtigen gesellschaftlichen Verankerung haben die beiden Großkirchen in Deutschland die Möglichkeiten zu einer direkten und indirekten Einflussnahme, die sie auch nutzen. Dies geschieht etwa durch Lobbyarbeit auf den verschiedenen politischen Ebenen: Bundesland, Bund, Europa und Vereinte Nationen. Die in diesem Zusammenhang wohl engste Verflechtung der Kirchen mit dem Staat, speziell mit dem Verteidigungsministerium, ist mit der staatlich alimentierten (und deswegen innerkirchlich nicht unumstrittenen) Militärseelsorge gegeben; auch wenn sie vorrangig für die Angehörigen der Streitkräfte gedacht ist, stehen durch sie Kanäle offen, durch die kritische Vorbehalte seitens der Kirchen etwa gegenüber militärstrategischen Doktrinen geäußert werden können. Dazu trägt auch das in Trägerschaft der Katholischen Militärseelsorge liegende Institut für Theologie und Frieden in Hamburg bei, das die Aufgabe hat, in theologisch-ethischer Perspektive Grundlagen menschlicher Friedensordnung zu erforschen und in den aktuellen friedenspolitischen Diskurs einzubringen. Auf evangelischer Seite gibt es in Heidelberg die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), übrigens eines der fünf Friedensforschungsinstitute, die jährlich ein Friedensgutachten erstellen.15 Daneben gibt es eine Reihe von Sachverständigengremien zu den verschiedensten Bereichen, die im Zusammenhang mit dem Leitbild des gerechten Friedens stehen. Zu nennen ist etwa auf Bundesebene die Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE), die jährlich einen Rüstungsexportbericht veröffentlicht, in dem das Rüstungsexportgeschehen kritisch kommentiert wird. Auch mit Stellungnahmen und Diskussionen zu anderen aktuellen entwicklungspolitischen Themen tragen die Kirchen zur politischen Meinungsbildung bei. Der Initiative von der Sache überzeugter Christen ist es zu verdanken, dass es staatlicherseits zur Einrichtung und Unterstützung des zivilen Friedensdienstes gekommen ist. Eine wichtige und vorbildliche Rolle spielen des Weiteren die kirchlichen Hilfswerke wie Brot für die Welt, Misereor u.a. Hier und in vielen weiteren Gremien verfügen die Kirchen über einen Sachverstand, über den nicht einfach hinweggegangen werden kann. Zu erwähnen sind weiterhin auf katholischer Seite die in der Regel geheim durchgeführten diplomatischen Aktivitäten des Heiligen Stuhls (Vatikanstaat), die oft genug zur Entschärfung von bedrohlichen Konflikten beigetragen haben. Auch der Ökumenische Rat der Kirchen (Genf) ist auf dieser Ebene tätig. In den öffentlichen Medien wird nur selten über solche Aktivitäten berichtet, was auch mit der Komplexität der jeweils zu verhandelnden Materie, die nur schwer Nicht-Sachverständigen zugänglich zu machen ist, zusammenhängt.
Neben der staatlichen Ebene sind die Kirchen bzw. kirchliche Gruppen und Organisationen auch Akteure auf der zivilgesellschaftlichen Ebene und tragen so zur öffentlichen Meinungsbildung bei. Auch hier spielen die erwähnten Hilfswerke mit ihren Aktionen eine wichtige Rolle. Kirchliche bzw. christlich orientierte Friedensorganisationen zählen zur allgemeinen Friedensbewegung. Dritte- bzw. Eine-Welt-Gruppen praktizieren universale Solidarität. Ökologische Projektgruppen engagieren sich für die Erhaltung der Lebensgrundlagen. Unzählige weitere Initiativen könnten angeführt werden, die je für sich einen Tropfen auf dem heißen Stein bewirken mögen, zusammengenommen aber einen beachtlichen Faktor in der Gesellschaft ausmachen.
Alle genannten Aktivitäten sind letztlich von der Überzeugung getragen, dass es nicht die Menschen sind, die den endgültigen Frieden in der Welt zu bewerkstelligen vermögen, sondern dass es sich dabei um eine Verheißung und Gabe Gottes handelt, für die als Werkzeuge sich einzusetzen die Christ/innen und ihre Kirchen gesandt sind. Von daher bilden neben der Aktion Kontemplation, Gebet und Gottesdienst elementare Vollzüge christlichen Friedensengagements. Gilt es doch, sich des Evangeliums des Friedens immer wieder zu vergewissern, es zu meditieren, dafür zu beten und in der gottesdienstlichen Feier zu vergegenwärtigen, um daraus Motivation und Kraft für das Wirken „nach außen“ zu schöpfen. Als weitere Felder des Friedensbeitrags der Christ/innen und der Kirchen nennt die EKD-Denkschrift die Erziehung und Bildung zum Frieden, den Schutz und die Beratung des Gewissens vor allem mit Blick auf das Ethos des Gewaltverzichts, sowie die Arbeit für Frieden und Versöhnung.
Woran es den Großkirchen mangelt, ist ein entschiedenerer Mut, nicht nur mit Worten z.B. den Wahnsinn, immer zuverlässiger funktionierende Tötungsmaschinen zu erfinden und anzuwenden, zu kritisieren, sondern sich dem auch mit Taten wie z.B. prophetischen Zeichen zu widersetzen und als „Störenfriede“ in das ökonomische und politische Geschehen einzugreifen. Wenn aus ihren Reihen Einzelne sich von ihrem Gewissen her veranlasst sehen, als solche öffentlich aufzutreten und gewaltlosen zivilen Ungehorsam zu praktizieren, wie es z.B. in Aufsehen erregender Weise Daniel und Philip Berrigan in den USA getan haben, dann können diese sich zumindest darauf berufen, dass es für solche Aktionen anerkannte Vorbilder in der Bibel gibt.
Werkzeug – bzw. in katholischer Terminologie: Sakrament – des Friedens zu sein, erlegt nicht zuletzt den Kirchen die Gewissenserforschung auf, wie sie selbst es mit dem gerechten Frieden in ihrem Inneren halten. Dass diesbezüglich einiges im Argen liegt – angefangen bei den Strukturen bis hin zur interkonfessionellen und -religiösen Verständigung –, ist von ihnen ehrlich einzugestehen und dringend anzugehen, kann hier aber nicht im Einzelnen dargelegt werden.
Zwischenbemerkung
Wenn die Ausführungen über das Christentum länger geraten sind, als es die beiden folgenden Abschnitte sein werden, liegt das daran, dass es mir darum ging, einen Eindruck von der Komplexität der Probleme zu vermitteln, mit denen man es bei Bemühungen um Frieden-Stiften und -Fördern zu tun bekommt, und welches Bündel von Maßnahmen darum ins Auge zu fassen ist. Um in vergleichbarer Differenziertheit die beiden anderen Religionen behandeln zu können, mangelt es mir schlicht und einfach an Informationen. Darum beschränke ich mich mithilfe dazu vorliegender Literatur jeweils darauf, welche Ressourcen im Judentum und im Islam auszumachen sind, die zu einem unbedingten Einsatz zur Eindämmung bzw. Überwindung von Gewalt und zur Schaffung einer Friedensordnung in der Welt anhalten.
Friedensressourcen im Judentum
Wie angedeutet, ist die Friedensbotschaft Jesu von Nazaret durch und durch von den Friedensverheißungen geprägt, wie sie in der Hebräischen Bibel aufzufinden sind. Allerdings gibt es in ihr nicht nur diese Linie. Gewalt, die sich bis in Kriege hinein entlädt, ist eine Realität der biblischen Lebenswelt. Auch dies findet in der Bibel seinen Niederschlag. Gewalt besteht ihr zufolge bereits von alters her – als menschliche Anlage, wie die Erzählung vom Brudermord von Kain an Abel berichtet (vgl. Gen 4). Sie durchzieht die ganze menschliche Geschichte und wirkt sich bis in die Strukturen des inner- und zwischengesellschaftlichen Zusammenlebens hinein aus. Wenn das jüdische Volk seinerseits in diese Geschichte von Gewalt und Krieg verstrickt war, dann nahm es – vor allem den Landeinnahmeerzählungen zufolge – Gott dafür in Anspruch, dass er, der sich als „Mann des Krieges“ (Ex 15,3) bei der Rettung Israels aus dem Sklavenhaus Ägypten erwiesen hatte, wiederum seinem Volk zum Sieg verhelfen würde. So ist im Buch Josua zu lesen: „Und ich habe euch ins Land der Amoriter gebracht, die jenseits des Jordans wohnen. Und sie kämpften gegen euch, und ich gab sie in eure Hand, und ihr nahmt ihr Land in Besitz, und ich habe sie vor euch vernichtet.“ (Jos 24,8) Ähnliche Aussagen findet man in den Büchern Richter, Samuel und Könige. Auch wenn die Geschichte sich realiter nicht so abgespielt hat, wie sie im biblischen Rückblick dargestellt wird16, lässt sich der Tatbestand, dass JHWH als Kriegsgott gepriesen worden ist, nicht einfach beiseiteschieben. Oft genug haben diese Bibelstellen als Rechtfertigung von Kriegen im Namen Gottes herhalten müssen.
Doch es gibt noch die andere Seite in der Hebräischen Bibel, die in deutlicher Spannung zu der Meinung steht, dass in einer Welt voller Gewalt nur mit Gewalt etwas auszurichten ist. So wird Kain von Gott seiner Bluttat überführt und für sie verantwortlich gemacht. Kain wird somit bescheinigt, dass er in seiner Freiheit hätte anders handeln können, dass ihm und somit dem Menschengeschlecht der Hang zur Gewalt nicht gewissermaßen unausweichlich angeboren ist. Es sind die leidvollen und grausamen Erfahrungen, die mit gewaltsamen Konflikten und Kriegen einhergehen, die die Überzeugung haben aufkommen lassen, dass sie nicht so alternativlos sind, wie sie gern ausgegeben werden. Das beginnt damit, dass eine Eskalation der Gewalt durch rechtliche Regelungen zu verhindern versucht wird, wie es etwa das Talion-Prinzip vorgibt: Gleiches ist maximal mit dem Gleichen zu vergelten; wenn ein Auge verletzt worden ist, dann muss das andere Auge des Gegners verschont bleiben (vgl. Ex 21,22-25; Lev 24,17-22; Dtn 19,16-19). Als anderes Beispiel können die in Dtn 20 formulierten Kriegsgesetze mit ihren menschenfreundlichen Regelungen angeführt werden.
Die Erinnerung an das Exodusereignis ließ noch eine andere Einsicht aufkommen als die, dass JHWH sich hier als Kriegsmann erwiesen hat, nämlich die, dass er es ist, der für die Unterdrückten und Randgruppen Partei ergriffen und für deren Recht auf Leben gegen die Machthaber eingetreten ist. Diesem so wirksam zutage getretenen Willen Gottes hat, so die in den Sozialgesetzen Israels festgehaltene Überzeugung, eine gesellschaftliche Ordnung zu entsprechen, für deren Rechtmäßigkeit das entscheidende Kriterium ist, dass den „Witwen, Waisen und Fremden“, also den in sozialer und rechtlicher Hinsicht besonders benachteiligten Gruppen die Mittel, die zu einem gedeihlichen Leben notwendig sind, zur Verfügung stehen.
Dass die dazu getroffenen rechtlichen Regelungen nicht beachtet werden, dass im Gegenteil im eigenen Volk eine Praxis der Unterdrückung und Ausbeutung wieder Platz greift und damit in extremster Weise genau der Gott, der ihm zu seiner Existenz aus der ägyptischen Knechtschaft heraus verholfen hat, gelästert wird, wurde zum Anlass einer unerbittlichen Sozial- und Kultkritik seitens der Propheten. Dahinter steckt die Überzeugung, die sich dann mit der Vertreibung des Volkes ins Exil auf bittere Weise bewahrheitet: Wo keine Rücksicht mehr aufeinander genommen wird, wo die einen auf Kosten der anderen leben und nichts mehr davor zurückhält, ausschließlich den vermeintlich eigenen Vorteil zu betreiben, da kommt es langfristig zur Katastrophe. Da hilft es auf Dauer weder, seine eigene Habe so gut wie möglich zu versichern, noch, nach außen hin den modernsten Stand der Waffenrüstung demonstrieren zu können. Sondern wenn das ganze System in seiner inneren Substanz aufgezehrt ist, gibt es nichts mehr, was es vor dem Zerfall bewahren könnte. Sicherheit lässt sich auf der Grundlage ungerechter Verhältnisse nicht erzielen; sie kommt nur dort und in dem Maße zustande, wie an der Gerechtigkeit und in Gerechtigkeit gearbeitet wird – nach innen und nach außen. Übertroffen höchstens noch von der lyrischen Metapher in Ps 85,11, die Gerechtigkeit und Frieden sich küssen lässt, sind diese Zusammenhänge von Gerechtigkeit, Frieden und Sicherheit bei Jes 32,17 in einem Vers zusammengebracht: „Das Werk der Gerechtigkeit wird Frieden sein und die Arbeit an der Gerechtigkeit ruhige Sicherheit auf Dauer.“17
Dieser so nachdrücklich betonte Zusammenhang zwischen Frieden und Gerechtigkeit zeigt an, dass sich das Friedensverständnis der Hebräischen Bibel nicht nur auf den Gegensatz zur Gewalt und zum Krieg als Manifestation des Nicht- oder Unfriedens beschränkt. Der dafür geprägte Begriff „Schalom“ beinhaltet eine viel umfassendere Sichtweise:
„Schalom“, so erläutern Wolfgang Huber und Hans-Richard Reuter diesen Begriff in ihrer „Friedensethik“, „das hebräische Wort für Frieden, ist Ausdruck für ein umfassendes, den ganzen Menschen, seinen Leib, seine Seele, die Gemeinschaft, die Gruppe, die natürliche Mitwelt, ja alle Beziehungen, in denen er lebt, umgreifendes Heilsein und Wohlergehen. Wahrscheinlich geht das Substantiv schalom auf eine Wurzel mit der Grundbedeutung ‚genug haben‘ zurück (…) Schalom ist die Lebensform, in der alle Miteinanderlebenden ‚genug haben‘, zunächst im materiellen Sinn der Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse, sodann aber auch in der weiten, unterschiedliche Kommunikationsebenen berührenden Bedeutung, die auch im Deutschen mit der ‚Genüge‘ verbunden ist: jemandem Genüge tun, aber auch Genugtuung leisten, ja sogar: vergnügt sein.“18
Schalom ist somit nicht vorrangig negativ zu bestimmen, als Gegensatz zu Krieg und Abwesenheit von Gewalt, sondern vielmehr positiv: „als Ganzheit, Wohl, Heil und Leben im umfassenden Sinn, sowohl das ewige wie das zeitliche einschließend, sowohl das Verhältnis zu Gott wie zu den Menschen, sowohl die Seele wie den Leib, sowohl den einzelnen wie die Gemeinschaft und die Völker“19.
Im Grund liegt der Begriff Schalom allen solchen Differenzierungen, die leicht zu Dualismen werden, voraus. Er ist kein statischer abstrakter Begriff, der sich auf eine vorgegebene objektive Ordnung bezieht, sondern ein dynamischer, wirklichkeitsschaffender bzw. wirklichkeitsverändernder Begriff, „ein Wort, das selber stiftet, wofür es steht“. So ist etwa die Gruß- und Abschiedsformel „Schalom“ alles andere als eine routinemäßig gebrauchte Formel oder Floskel, sondern Ausdruck der tätigen Sorge des einen um das Wohlergehen des anderen und umgekehrt.
Der tragende Grund für den Schalom ist jüdischem Glaube zufolge Gott, der ein Gott des Lebens ist und nicht des Todes; hat er doch die Unterdrückten und Rechtlosen aus ihrer Situation des Todes entrissen und zum Leben geführt; hat er doch die ganze Welt im Frieden und zum Frieden geschaffen. Es bedurfte allerdings eines langen Lernprozesses, bis man zu der Einsicht kam, dass dieser Gott wohl doch nicht der Kriegsherr ist, dass er vielmehr der ist, der „den Kriegen ein Ende setzt bis an die Grenzen der Erde“ (Ps 46,10) und der die Völker friedlich miteinander verbunden zum Berge Zion hin zusammenführt. Dort wird von ihm verheißen: „Er spricht Recht im Streit der Völker, er weist viele Nationen zurecht. Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen. Nie mehr wird Volk gegen Volk das Schwert erheben, noch werden sie ferner das Kriegshandwerk lernen.“ (Jes 2,2-4; vgl. Mi 4,3f)
Diese völlige Umkehrung des Gottesbildes kann nicht folgenlos für das Welt- und Menschenbild bleiben: In der Situation der größten Aussichtslosigkeit, dem Exil, kommt die Hoffnung auf einen dauerhaften und weltumspannenden Frieden auf. Er erwächst nicht aus der Fortdauer von Gewalt und Gegengewalt, von Sieger und Besiegten, von Herrschenden und Beherrschten, sondern aus einer eigentümlichen Kraft, die, weil sie nicht auf Macht und Stärke setzt, unbesiegbar ist, aus der Kraft des gewaltlosen und versöhnten Miteinanders. Unüberbietbar findet sich das in der Vision eines buchstäblich paradiesischen Friedens im 11. Kapitel des Jesajabuches ausgemalt:
„Und der Wolf wird beim Lamm weilen,
und die Raubkatze wird beim Zicklein liegen.
Und Kalb, junger Löwe und Mastvieh sind beieinander,
und ein junger Knabe leitet sie.
Und Kuh und Bärin werden weiden,
und ihre Jungen werden beieinander liegen,
und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind.
Und der Säugling wird sich vergnügen an der Höhle der Viper,
und zur Höhle der Otter streckt ein Kleinkind die Hand aus.“
(Jes 11,6-8; Zürcher Bibel)
Diese Vision des Propheten beinhaltet eine Vorstellung vom Frieden, der die Respektierung des Lebensrechtes aller Geschöpfe als oberstes Prinzip des Zusammenlebens zugrunde liegt und der zufolge ein Ende der Rivalität und Feindschaft dadurch erwirkt wird, dass die Feinde nicht bekämpft und getötet, sondern verwandelt werden.20
Doch sind das nicht schöne Träume, denen jedoch anzuhangen angesichts der harten Tatsache der Gewalt, die in der Welt herrscht – das jüdische Volk hat sie im Laufe seiner Geschichte auf brutalste Weise erleiden müssen –, jeglichem vernünftigen Denken widerstreitet?
„Das Judentum“, so fasst Eveline Goodman-Thau ihre in der Durchsicht der biblischen Texte und sie auslegenden rabbinischen Tradition gewonnene Einsicht zusammen, „hat sich, im Gegensatz zum Griechentum, nie das Ideal gesetzt, eine endgültige Antwort oder Wahrheit (hebr. Emet) zu finden. Die Rabbinen verfolgen das Ideal des Schaloms, eines Kompromisses zwischen einer Meinung und einer anderen. Das Suchen nach Kompromissen in allen Lebenssituationen führt erst zum wahrhaften Schalom, wo jeder Einzelne für die Wahrheit haftet.“21
Sie schließt ihren Beitrag: „Das hebräische Wort für Mut ist ,Oz‘, und die Spannung zwischen Frieden und Krieg wird im Psalmenvers ‚(…) Gott gebe seinem Volk Mut und Gott segne sein Volk mit Schalom‘ (Ps 29,1), der in die Gebete Israels eingegangen ist, auf den Punkt gebracht. Oz und Schalom, Mut und Frieden, sind untrennbar miteinander verbunden und so gehört der Mut nicht zum Krieg, sondern zur mutigen Entscheidung des Menschen, Frieden zu wagen: auf den Krieg zu verzichten, um des Schalom willen.“22
Wen zeichnet dieser Mut im heutigen Israel, so ist angesichts der höchst verzwickten Lage in Palästina zu fragen, stärker aus: die – wohl die Mehrheit ausmachenden – Teile der Bevölkerung, die sich allein durch die rigorose Sicherheitsdoktrin der Regierung geschützt fühlen, oder die Einzelnen, Gruppen und Organisationen, die trotz allem im Vertrauen auf eine mögliche Versöhnung an der Notwendigkeit des Dialogs mit den Arabern, Palästinensern und Muslims festhalten und ihn vorantreiben oder die sich bestimmten politischen und militärischen Vorgehensweisen der Regierung widersetzen, wie etwa Soldaten, die sich weigern, ihrer Beurteilung nach gegen die Menschenrechte verstoßenden Befehlen zu gehorchen?23 Zwar werden diese Friedens- und Rechtsinitiativen von der herrschenden Politik als Störenfriede diffamiert und marginalisiert; sie reden ihr dennoch ins Gewissen, indem sie auf aus leidvollen Erfahrungen gewonnene Einsichten insistieren, vor allem dass Sicherheit nur gemeinsam mit allen Betroffenen auf Dauer zu gewährleisten ist und dass Bemühungen, Frieden zu stiften, Hand in Hand gehen müssen mit dem Einsatz, Gerechtigkeit für alle herzustellen.
Friedensressourcen im Islam
„Der Prophet Mohammed sagte: ‚Der Glaube beinhaltet die Zurückweisung jeglicher Gewalt, kein Muslim [Gläubiger] darf Gewalt begehen‘. (…) Dieser Aussage des Propheten zum Trotz sind an den meisten der gegenwärtigen Konflikte Muslime beteiligt. Menschenrechtsverletzungen, autoritäre Staatsführung, gemeinschaftliche Gewalt und Korruption sind in vielen muslimischen Ländern an der Tagesordnung. Die monströsen Attentate (…), Entführungen und Hinrichtungen von Ausländern (…) oder Anschläge auf Touristen, stärken das Bild von Muslimen als Gewalttäter oder Barbaren. All dies hat dazu geführt, dass der Islam, eigentlich etymologisch abgeleitet von dem Wort salam (Frieden), mit Gewalt und Terrorismus assoziiert wird und Muslime als rückständig, barbarisch und gewalttätig stereotypisiert werden (…).“24
So führt die in den USA tätige Friedens- und Konfliktforscherin Ayse S. Kadayifici-Orellana, selbst Muslimin, in ihren Beitrag zu Frieden und Gewalt im Islam ein. Da in diesem Beitrag das Friedenspotential des Islam unter Einbeziehung der Auseinandersetzungen, die es in der eigenen Glaubensgemeinschaft dazu gibt, und auf der Grundlage einer hermeneutisch differenziert vorgehenden Interpretation der islamischen Quellen (Koran, Hadith und Sunna) für mich sehr einleuchtend und nachvollziehbar herausgearbeitet ist, folge ich ihm in meinen Ausführungen zu diesem Abschnitt.25
Zunächst einmal: Wenn man sich vergegenwärtigt, dass es bis heute weder im Judentum noch im Christentum einen Konsens darüber gibt, was Frieden ausmacht und wie auf ihn hinzuarbeiten ist, so kann es nicht verwundern, dass es im Islam nicht anders ist. Gegenwärtig lassen sich nach Frau Kadayifici-Orellana drei gegensätzliche und gegeneinander ringende Interpretationsweisen von Gewalt und Frieden in der muslimischen Welt ausmachen. Sie charakterisiert sie als
– offensiv: Allahs Herrschaft auf der Erde und über sie als Garant für Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden muss mit allen Mitteln gegen die vorherrschenden Systeme der Unterdrückung und Ausbeutung durchgesetzt werden, wenn es nicht anders möglich ist, mit Gewalt und Terror;
– defensiv: Im Falle der Bedrohung des Glaubens und des Lebens inklusive des Landes und Besitzes ist eine kriegerische Abwehr erlaubt; sie muss sich allerdings an die Kriterien gemäß der Lehre vom gerechten Krieg halten;
– gewaltlos: Gemäß den heiligen Texten des Islam ist der Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden verpflichtend, hat allerdings mit gewaltfreien Maßnahmen zu erfolgen.
Nach Überzeugung von Frau Kadayifici-Orellana wird die letzte, die gewaltlose Interpretationsweise am besten dem Geist der zentralen islamischen Quellen gerecht. Diesen zufolge, so führt sie dazu aus, „beginnt der Frieden mit Gott, denn as-Salam (Frieden) ist einer der schönsten der 99 Namen Gottes (Q 59:23). Dieser Frieden ist ein positiver Zustand von Geborgenheit oder Sicherheit, der den Frieden mit sich selbst einschließt sowie den Frieden mit seinen Mitmenschen, mit der Natur und mit Gott (…). Frieden ist jedoch nicht nur ein ‚rein passiver Zustand‘, sondern bedeutet ‚ganz aktiv gegen die Bedrohungen des Bösen, der Zerstörung und des Aufruhrs einzutreten, die von innen oder von außen herrühren können‘ (…). So fordert Gott die Gläubigen stets auf, ihr Streben auf die Wiederherstellung von Harmonie, Gerechtigkeit und Frieden auf Erden zu richten, um den ‚dauerhaften Zustand des Friedens‘ (Q 10:25) zu erreichen.“26
Aus dem Koran lassen sich nach Frau Kadayifici-Orellana mit Blick auf eine dauerhafte Friedensstiftung sechs Säulen ableiten27:
– Tauhid, das Prinzip der Einheit Gottes und allen Seins als die Quelle von Harmonie, Ordnung und Frieden. Es hält die Gläubigen dazu an, „aktiv nach Einheit und Harmonie zu streben, denn die Menschen sind aufgrund ihrer bindenden Verpflichtung gegenüber Gott für den Schutz und die Sorge um Gottes Schöpfung verantwortlich“28. Konflikte und Kriege machen das zunichte.
– Fitrah, das ursprüngliche Wesen des Menschen, nämlich dass er von Gott als sein Ebenbild gut und frei ist, verpflichtet zu unbedingtem gegenseitigen Respekt und zu friedlichen, konstruktiven und harmonischen Beziehungen untereinander.
– Al-Adl, Gerechtigkeit, ein weiterer der schönsten Namen Gottes, woraus sich die untrennbare Zusammengehörigkeit von Frieden und Gerechtigkeit ergibt. Die Gläubigen „sind aufgefordert, sich den ungerechten Bedingungen, die als Ursprung von Konflikten und Chaos in der Welt gelten, zu widersetzen und diese zu korrigieren (Q 27:52)“29. Dabei ist Gerechtigkeit umfassend gemeint, erstreckt sich also auch auf die soziale und ökonomische Dimension, und universal, bezieht also alle Menschen ein.
– Afu, der Vorrang von Vergebung vor Vergeltung, wodurch Gewaltlosigkeit ermöglicht wird.
– Rahmah und Rahim, das Werte-Paar Mitgefühl und Erbarmen, das ebenfalls eine der Eigenschaften Gottes ausmacht. „Daher muss ein wahrer Muslim Erbarmen und Mitgefühl allen Menschen erweisen, ungeachtet ihrer ethnischen oder religiösen Herkunft und ihres Geschlechts. Die Werte Mitgefühl und Erbarmen bedeuten auch, dass das Leid anderer, sei es physischer, wirtschaftlicher oder emotionaler Art, einen wahren Muslim nicht unberührt lassen kann und er sich nicht in grausamer Weise irgendeinem Geschöpf gegenüber verhalten darf.“30
– Sahr, Geduld, die zu beherzigen es möglich macht, sich stellende Probleme unermüdlich, aber ohne Gewalt einer erfolgreichen Lösung zuzuführen.
Nicht gemeint ist mit „sahr“, so fügt Frau Kadayifici-Orellana hinzu, dass Muslime Unterdrückung und Ungerechtigkeit passiv erdulden müssten. Vielmehr hält der Koran sie dazu an, sich aktiv am Kampf um die Schaffung von Gerechtigkeit und Frieden zu beteiligen. Sich dazu zu verpflichten und nicht ständig um sich selbst zu kreisen, nur auf die eigenen Interessen bedacht zu sein, dieses innere Streben macht die eigentliche Bedeutung von „jihad“ aus. Der Einsatz von gewaltsamen, kriegerischen Mitteln ist dann erlaubt, wenn es gilt, gegen Angriffe den Glauben zu schützen und die Gemeinschaft zu verteidigen. Unter welchen Voraussetzungen ein solcher Verteidigungskrieg erlaubt ist und welche Grenzen er nicht überschreiten darf, ist in einem im Laufe der Zeit entwickelten Regelwerk unter dem Titel Siyar festgelegt.31 Insgesamt gilt nach Frau Kadayifici-Orellana die Devise: „Da ein Konflikt als schädigend sowohl für die göttliche als auch die gemeinschaftliche Harmonie gilt, weist der Islam die Muslime an, engagiert für die Lösung von Konflikten einzutreten und die Harmonie friedlich und gewaltlos wiederherzustellen (Q 49:9).“32
Angesichts der höchst divergierenden Auffassungen über Frieden und Gewalt in der muslimischen Gemeinschaft hält sie es für dringend erforderlich, innerhalb der eigenen Reihen eine Bewusstseinsbildung in dem von ihr dargelegten, den Weg der Gewaltlosigkeit bevorzugenden Geist der islamischen Quellen voranzutreiben und so vor allem die Islamisten zu delegitimieren.
Zum Schluss – zwei Zitate ohne Kommentar
„Wenn es nämlich stimmt, dass es in jeder solchen Zelle einen Kern von einigen Personen gibt, die bereit sind, sich zusammenzutun, um so eine größere Öffnung zum und eine größere Hingabe an den Nächsten zu erreichen, dann können diese Minderheiten im Bund mit anderen Minderheiten eine unwiderstehliche Kraft bilden.“33
„Die Grundfrage bleibt: Sollen wir den Realismus der Bibel einem womöglich blauäugigen Pazifismus entgegensetzen? Oder sollen wir einem Realismus, der dem verfällt, was angeblich nun einmal so ist, die biblische Erwartung des Endes von Krieg und Gewalt schon in dieser Welt entgegensetzen? Ich setze entschieden auf das Zweite, aber angesichts mancher brutaler Milizen und Regime empfinde ich zuweilen bestürzend, dass ich gar nicht meiner Meinung bin. Das geht nicht nur mir so.“34
1 Mollov, Ben, Ressourcen für die Friedensförderung in der politischen Tradition des Judentums, in: Mokrosch, Reinhold / Held, Thomas / Czada, Roland (Hg.), Religionen und Weltfrieden. Friedens- und Konfliktlösungspotentiale von Religionsgemeinschaften, Stuttgart 2013, 85–99, 85.
2 Ein ökumenischer Aufruf zum gerechten Frieden, in: Raiser, Konrad / Schmitthenner, Ulrich (Hg.), Gerechter Friede. Ein ökumenischer Aufruf zum Gerechten Frieden, Berlin 2013, 5–20, 6f.
3 Aus Gottes Frieden leben – für den gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2007, 42.
4 Vgl. Die deutschen Bischöfe, Gerechtigkeit schafft Frieden. Wort der Deutschen Bischofskonferenz zum Frieden, Bonn 1983, 23–29.
5 Vgl. ausführlich zum Thema Engelhardt, Paulus, Die Lehre vom „gerechten Krieg“ in der vorreformatorischen und katholischen Tradition. Herkunft – Wandlung – Krise, in: Steinweg, Reiner (Red.), Der gerechte Krieg: Christentum, Islam, Marxismus, Frankfurt 1980, 72–124; Lienemann, Wolfgang, Das Problem des gerechten Krieges im deutschen Protestantismus nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Steinweg, Der gerechte Krieg, 125–162.
6 Zitiert nach: Begleitdokument, in: Raiser / Schmitthenner (Hg.), Gerechter Friede, 21–190, 21.
7 Vgl. neben dem Ökumenischen Aufruf (2013) und dem Begleitdokument (2013) dazu (im Folgenden abgekürzt: ÖA u. BD) und der EKD-Denkschrift (2007; im Folgenden abgekürzt: DS) Die deutschen Bischöfe, Gerechter Friede, Bonn 2000 (im Folgenden abgekürzt: GF). – Zum ersten Mal findet sich dieser Begriff im Abschnitt 36 des Ergebnistextes „Umkehr zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung – Theologische Grundlegung“ der Ökumenischen Versammlung der Christen und Kirchen in der DDR 1988/89 (in: Aktion Sühnezeichen / Pax Christi (Hg.), Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Dresden – Magdeburg – Dresden, Berlin 1990, 40).
8 Vgl. BD, 26–30.
9 DS, 51–53.
10 BD, 30.
11 Zitiert werden hier jeweils die Überschriften zu den vier Abschnitten des 3. Kapitels („Gerechter Friede im Kontext“) im BD; vgl. BD, 67–92.
12 GF, 24.
13 GF, 28.
14 GF, 28.
15 Erscheint jeweils im Mai/Juni im LIT-Verlag (Berlin).
16 Eine sachgenaue Erörterung dazu unternimmt Stobbe, Heinz-Günther, Religion, Gewalt und Krieg. Eine Einführung, Stuttgart 2010, 120–182.
17 Sehr anregend dazu Ebach, Jürgen, Sicherheit – Unverwundbarkeit – Frieden, in: Ebach, Jürgen, Theologische Reden, mit denen man keinen Staat machen kann, Bochum 1989, 7–18; die Übersetzung des Verses ist daraus übernommen (vgl. 15).
18 Huber, Wolfgang / Reuter, Hans-Richard, Friedensethik, Stuttgart 1990, 35; vgl. ausführlich Schmidt, Hans, Frieden, Stuttgart 1969.
19 Mettner, Matthias, Art. Frieden, in: Eicher, Peter (Hg.), Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, Bd. 1, München 2005, 96–123, 97.
20 Vgl. Zenger, Erich, „Selig sind die Friedensstifter …“ (Mt 5,9), in: Frieden ist TATsache. Mut zur Versöhnung. Themen-Heft zur Misereor-Fastenaktion 2002, Aachen 2002, 20f.
21 Goodman-Thau, Eveline, Krieg und Frieden aus den Quellen des Judentums, in: Haußmann, Werner / Biener, Hansjörg / Hock, Klaus / Mokrosch, Reinhold (Hg.), Handbuch Friedenserziehung. Interreligiös – interkulturell – interkonfessionell, Gütersloh 2006, 102–108, 108.
22 Goodman-Thau, Krieg und Frieden aus den Quellen des Judentums, 108. Vgl. auch Mollov, Ressourcen für die Friedensförderung, 85–99; Magonet, Jonathan, Frieden und Gewalt in den Quellen des Judentums, in: Mokrosch / Held / Czada (Hg.), Religionen und Weltfrieden, 100–112.
23 Vgl. Baum, Gregory Gerhard / Frankemölle, Hubert / Münz, Christoph (Hg.), Frieden für Israel. Israeli Peace-and-Human-Right-Groups in Israel, Paderborn – Frankfurt 2002.
24 Kadayifici-Orellana, Ayse S., Frieden und Gewalt im Islam, in: Mokrosch / Held / Czada (Hg.), Religionen und Weltfrieden, 137–156.
25 Vgl. auch Tosun, Cemal / Bilgin, Beyza, Frieden im Koran, in: Haußmann / Biener / Hock / Mokrosch (Hg.), Handbuch Friedenserziehung, 140–146; Rajewski, Christiane, Der gerechte Krieg im Islam, in: Steinweg, Der gerechte Krieg, 13–71; Stobbe, Religion, Gewalt und Krieg, 267–323.
26 Kadayifici-Orellana, Frieden und Gewalt im Islam, 142f.
27 Vgl. Kadayifici-Orellana, Frieden und Gewalt im Islam, 144–148.
28 Kadayifici-Orellana, Frieden und Gewalt im Islam, 144f.
29 Kadayifici-Orellana, Frieden und Gewalt im Islam, 146.
30 Kadayifici-Orellana, Frieden und Gewalt im Islam, 148.
31 Vgl. Kadayifici-Orellana, Frieden und Gewalt im Islam, 149–152.
32 Kadayifici-Orellana, Frieden und Gewalt im Islam, 153.
33 Camara, Dom Helder, Die Wüste ist fruchtbar. Wegweisungen für die abrahamitischen Minderheiten, Graz – Wien – Köln 1972, 74.
34 Ebach, Jürgen, Gott kennt andere Mittel und Wege. Biblische Perspektiven auf den Krieg, in: ru intern 44 (2015) 2f., 3.