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ОглавлениеGeorg Steins
„Seid auf das Ganze bedacht!“
Zu den biblischen Grundlagen
kreativer Gewaltfreiheit
Kein Randthema der Bibel
Das Thema „Gewaltfreiheit“, „Gewaltverzicht“ oder „Gewaltlosigkeit“ – die gebräuchlichen Begriffe deuten eine je verschiedene Perspektive auf den Umgang mit Gewalt an – ist kein Randthema der zwei-einen Bibel, sondern findet sich in prominenten Texten des Alten wie des Neuen Testaments. Oder müsste man nicht besser andersherum sagen, dass diese Texte durch die Betonung des zu jeder Zeit provozierenden Themas zu Schlüsseltexten der Bibel werden? Aber einerlei, von welcher Seite auch immer die Sache betrachtet wird, die Frage nach der Gewaltfreiheit führt in das Zentrum der biblischen Botschaft: Immer geht es um die Wiedergewinnung eines für alle guten Zustandes des Lebens, um Gerechtigkeit und Frieden, um Ausgleich und Versöhnung, um „unseren schalom“ (vgl. Jes 53,5).
Aus dem Alten Testament sind als herausragende Beispiele die „Lieder vom Gottesknecht“ im Buch Jesaja zu nennen. Unabhängig von den zahlreichen bibelwissenschaftlichen Theorien zur Textentstehung und zur Identität des „Knechtes“ lässt sich feststellen, dass in dem mit Jes 40 beginnenden zweiten Hauptteil des Buches die Leitfigur des „Gottesknechtes und -schülers“ (vgl. Jes 42,1; 50,4) begegnet, für den der Verzicht auf Gewalt zur herausragenden Signatur seines Handelns in göttlichem Auftrag wird. Nicht die historische Identifikation des Gottesknechtes ist entscheidend, sondern seine Rolle oder sein „Amt“ und die Funktion, die ihm im Zusammenspiel von Gott, Israel und den Völkern zukommt. Am Ende meines Beitrages werde ich darauf zurückkommen; die Ausführungen zur Gewaltlosigkeit des Knechtes lassen sich präziser verstehen, nachdem das avancierte biblische Modell der Gewaltüberwindung durch Gewaltlosigkeit an anderer Stelle eingehender studiert worden ist.
Dazu bietet sich der bekannteste Abschnitt des Neuen Testaments zu diesem Thema an, der Abschluss der jesuanischen Disputationsworte in der „Bergpredigt“ des Matthäusevangeliums (Mt 5). In einer sehr wörtlich gehaltenen Arbeitsübersetzung, die für Interpretationsprobleme sensibilisiert, Textakzente markiert und Ergebnisse der nachfolgenden Auslegung bereits integriert, lauten die beiden relevanten Abschnitte Mt 5,38-42 und 43-48:
Mt 5 (Arbeitsübersetzung)
38 Ihr habt gehört, dass gesagt wurde:
Auge gegen Auge und Zahn gegen Zahn.
39 Ich hingegen sage euch,
nicht gegen zu stellen dem Bösen;
sondern jeder, der dich schlägt auf deine rechte Wange, wende ihm auch die andere zu.
40 Und dem mit dir prozessieren
und dein Untergewand nehmen Wollenden, lass ihm auch das Obergewand.
41 Und jeder, der dich nötigen wird eine Meile, gehe mit ihm zwei.
42 Dem dich Bittenden gib,
und von dem von dir borgen Wollenden wende dich nicht ab.
43 Ihr habt gehört, dass gesagt wurde:
Du sollst lieben deinen Nächsten,
und du sollst hassen deinen Feind.
44 Ich hingegen sage euch:
Liebt eure Feinde
und betet für die euch Verfolgenden,
45 damit ihr Söhne eures Vaters in den Himmeln werdet, weil er seine Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute und regnen lässt über Gerechte und Ungerechte.
46 Denn wenn ihr liebt die euch Liebenden, welchen Lohn habt ihr?
Tun nicht auch die Zöllner dasselbe?
47 Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was macht ihr Besonderes?
Machen nicht auch die aus den Völkern dasselbe?
48 Sein sollt ihr also ganzheitlich
wie euer himmlischer Vater ganzheitlich ist.
Anti-Thesen?
Beide Abschnitte werden traditionell zu den „Antithesen/Gegensatzsprüchen“ der Bergpredigt gerechnet. Die auf das verloren gegangene Werk Markions († 160 n.Chr.) zurückgehende Überschrift des Teilabschnitts der Bergpredigt bot immer wieder bequeme Ansatzpunkte für simplifizierende Auffassungen des Verhältnisses von Altem und Neuem Testament oder der Stellung Jesu zur Weisung vom Sinai. In der weitestreichenden Interpretation galt die „Antithesenreihe“ Mt 5,21-48 als jesuanische Zurückweisung der Tora vom Sinai. In dem unerhörten „ich aber“ aus dem Munde Jesu drücke sich das neue Ethos des souverän lehrenden Jesus aus. Erhellend ist ein Vergleich der Ausgaben des verbreiteten Kommentars „Das Neue Testament Deutsch“ von 1973 und der aktuellen Fassung von 2015. Eduard Schweizer schreibt 1973: „Unerhört ist hingegen die Formulierung ‚ich aber‘ mit stark betontem ‚ich‘, die Jesu Ich neben den durch die Formulierung ‚es ist gesagt worden‘ verhüllten Namen Gottes selbst setzt. Sie übertrifft alle sonst denkbaren messianischen Ansprüche, wobei auch der Zeitunterschied zwischen dem ‚es ist gesagt worden‘ und dem ‚ich sage‘, das jetzt und heute gilt, zu beachten ist. Sie wird auf Jesus zurückgehen; im Judentum ist sie unerhört und in der Gemeinde ist Jesu Gegensatz zum Gesetz entweder gemildert oder, bei Paulus, vom Kreuzestod her anders begründet worden, bis er schließlich überhaupt aus dem Gesichtsfeld verschwand.“1 Die Vorstellung eines „seine“ Lehre an die Stelle des Gottesgesetzes vom Sinai stellenden Jesus hält sich immer noch in vielen Köpfen und wird gerne bemüht, um die Botschaft Jesu vor einer schnell aufgebauten dunklen Folie zu profilieren; in der Forschung ist sie jedoch längst aufgegeben worden.
Eine differenzierende Sicht, die in den letzten Jahrzehnten in der Bibelwissenschaft erarbeitet worden ist, bietet jetzt zusammenfassend Matthias Konradt in „Das Neue Testament Deutsch“ von 2015. Der Vergleich der im matthäischen Text zitierten Thesen mit den alttestamentlichen Bezugsstellen ergibt, „dass die Thesen ein Toraverständnis repräsentieren sollen, das die Gebote entweder nur buchstäblich auffasst oder ihre Bedeutung bzw. ihren Geltungsbereich durch Interpretation einschränkt“2. Es werden also in Thesen und Gegenthesen Interpretationen der Tora entgegenstellt, es geht nicht um die Zurückweisung der Sinaitora durch die vollmächtige Lehre Jesu.
Konradt hebt aber eine weitere Nuancierung des Textes hervor, die in diesem Zusammenhang Beachtung verdient und zu einer sorgfältigen Lektüre insgesamt mahnt: „Merkwürdig wenig beachtet wird in der Diskussion, dass die antithetische Formel nicht ‚es ist (zu den Alten) gesagt worden, ich aber sage euch‘ lautet, sondern (…) ‚ihr habt gehört, dass…‘. ‚Es ist gesagt worden‘ steht parallel zur Einleitung der Erfüllungszitate (…), verweist also auf die hinter der Tora stehende Autorität Gottes; die Dekaloggebote sind in Ex 20 direkte Gottesrede. Die ‚Alten‘ sind entsprechend die Sinaigeneration. In dem einleitenden ‚ihr habt gehört‘ steckt aber eine Relativierung bzw. ein Verweis auf den (synagogalen) Prozess der Vermittlung der Toragebote: Euch hat man das so gesagt; ihr habt das in der Synagoge bei der sabbatlichen Toraauslegung so vernommen, dass zu den Alten gesagt wurde.“3
Das ändert vor aller Einzelinterpretation den Blick auf die Thesenreihe grundsätzlich. „Die Antithesen stellen also nicht Jesu Wort über oder gegen das Wort der Tora, sondern Jesu Auslegung des in der Tora offenbarten Willens Gottes gegen die Auslegung von Schriftgelehrten und Pharisäern. Anzufügen ist, dass die Thesen keine historisch ohne Weiteres verwertbaren Quellen für das tatsächliche Gesetzesverständnis der Pharisäer sind. V. 20-48 ist vielmehr im Rahmen der (polemischen) Auseinandersetzung mit ihnen zu lesen, die das gesamte Evangelium wie ein roter Faden durchzieht.“4 Folglich sind „die Antithesen nicht torakritisch, sondern auslegungskritisch zu lesen“5. Diese Feststellung kann gar nicht überbewertet werden.
„Auch die geläufige Rede von Gebotsverschärfungen trifft das mt [matthäische, G.St.] Verständnis insofern nicht präzise, als es für Matthäus nicht um Überbietungen der Gebote geht, sondern um Explikation ihres vollen und tieferen Bedeutungsgehalts.“6 Diesen von antijüdischen Klischees befreiten Ansatz hatte 2006 schon die „Bibel in gerechter Sprache“ in einer paraphrasierenden Übersetzung von Mt 5,21-48 aufgenommen und war damit vielfach auf Unverständnis gestoßen. Anstelle des immer missverstandenen „ich aber sage euch“ hatte diese Bibelausgabe die Wiedergabe „ich lege euch das heute so aus“7 gewählt und auf diese Weise die „Thesenreihe“ als fingierte Disputation verstanden.8
Schwierigkeiten der Deutung
Dass die Deutung der fünften These weitaus schwieriger ist als die Interpretation der sechsten, signalisieren schon die wechselnden Überschriften in Bibelausgaben, Kommentaren und Arbeitshilfen. Geht es um (das Verbot der) Vergeltung erfahrenen Unrechts, geht es – dramatischer formuliert – also um einen „Racheverzicht“? Oder geht es um etwas anderes, nämlich um den Verzicht auf Wiedergutmachung eines Schadens, also um das großzügige Aufgeben von legitimen und juristisch gemeinhin unproblematischen Schadensersatzansprüchen? Oder wird noch etwas ganz anderes gefordert, nämlich ein genereller Gewaltverzicht als christliche Grundhaltung im zwischenmenschlichen Bereich? Haben die Jünger/innen Jesu das Böse also einfach hinzunehmen? Wird Passivität gefordert, ein Zurückweichen vor dem Bösen, als Signatur christlicher Lebenspraxis?
Im Blick auf die Textstruktur der fünften These gefragt: Wie fügen sich die offenkundige Anspielung auf die Talionsformel „Aug‘ um Auge“ und die in sich sehr unterschiedlichen folgenden drei Beispiele und schließlich noch die Aufforderung zum Umgang mit Bittstellern zu einer kohärenten Deutung zusammen?
Gemeinhin setzt die Interpretation der fünften These bei den Überlegungen zum „ius talionis“ an, auf das im Eingang des Abschnitts unstrittig Bezug genommen wird. Rechtsgeschichtlich lässt sich die Funktion der Formel gut beschreiben; sie steht für eine Begrenzung der Rache, schließlich auch für die Regelung von Wiedergutmachung bei angerichtetem Schaden (vgl. Ex 21,22-25). Aber wie stark dieser Hintergrund auf die matthäische Perikope einwirkt, lässt sich traditionsgeschichtlich nicht ableiten. Es spricht viel dafür, dass die Talionsformel eher eklektisch verwendet wird, losgelöst von den pentateuchischen Kontexten (vgl. noch Lev 24,19f; Dtn 19,21) und den zeitgenössischen jüdischen Rechtsdiskussionen, und dass sie zugleich pointiert eingesetzt wird, um als bekannter Aufhänger einen Akzent zu setzen: Das Kurzzitat der Formel und das anschließende Jesus-Wort sind verbunden durch die dreimal gesetzte Präposition „anti“; darauf also liegt der Akzent. Die Talionsregelungen der Tora werden nicht umfassend aufgenommen, es wird nur auf ein Element angespielt, erst recht kommen nicht die komplexen rechtlichen Regelungen ihres praktischen Gebrauchs in den Blick. Bleiben wir eng am Wortlaut, dann geht es Jesus um die Vermeidung einer Anti-Haltung, um den Wechsel von einer „Logik“, einem Verhaltensmuster zu einem anderen, einem besseren. Die Verwendung eines Zitats aus einem Gesetzeskorpus verleitet Ausleger leicht dazu, als Hintergrund von Mt 5,38-42 einen Gerichts- oder Prozesskontext anzunehmen; diese Vermutung passt allerdings nur für das zweite Beispiel, in dem direkt vom Prozessieren die Rede ist.
Das führt zu einem weiteren Auslegungsproblem: Worum geht es in den längst sprichwörtlich gewordenen Beispielen von der anderen Wange, dem Gewand und der zweiten Meile? Was ist gemeint, worauf zielen sie ab und wie erklärt sich ihre Zusammenstellung? In welcher Weise lassen sie sich mit dem Aufruf zur Überwindung einer Anti-Haltung verbinden? Hier ist auch besonders auf die Abschlussmahnung in V. 42 zu achten, die vordergründig ganz anders gelagert ist und wie ein mitgeschlepptes Traditionsstück wirken mag, das nur ungefähr in den Zusammenhang zu passen scheint.
Es ergeben sich zahlreiche Fragen zur Deutung der fünften These. Leichter scheint es zu fallen, den Zusammenhang der fünften und sechsten These zu erfassen. Aber ist mit der Zuordnung – „Verzicht auf ‚Widerstand‘ als negativer Seite und Feindesliebe als positiver Entsprechung“ – die Pointe in vollem Umfang erfasst? Welche Bedeutung hat die geforderte „Liebe“ in Bezug auf den Feind? Und welche Rolle hat die volltönende Abschlussformulierung, die Forderung einer gottgleichen „Vollkommenheit“ (so die durchgängige Übersetzung) in Bezug auf die Feindesliebe und möglicherweise die gesamte Thesenreihe?
Ich schlage angesichts dieser Interpretationsprobleme besonders der fünften These vor, nicht mit der enigmatischen Einleitung in Mt 5,38f zu beginnen, sondern den Nahkontext der Bergpredigt als Interpretationshilfe zu nutzen, und zwar in zweifacher Weise: zum einen stärker auf den Zusammenhang der beiden Thesen zu achten und zum anderen die auffälligen Signale einer kontextuellen Einbindung gerade dieser beiden Absätze aufzugreifen.
Die fünfte und die sechste These weisen im Aufbau große Gemeinsamkeiten auf, die den intuitiv erfassten inneren Zusammenhang, die Diskussion von Alternativen im Umgang mit dem Bösen und speziell dem Feind, unterstreichen und die zahlreichen Einzelüberlegungen in ein größeres Bild integrieren. Beide Abschnitte sind dreiteilig aufgebaut. Auf die zugespitzte Disputation (Zitat der überlieferten Position – dazu die Lehre Jesu) als Aufmerksamkeitserreger in 5,38.39a//43-45a folgt jeweils eine Beispielreihe in 5,39b.40f und 46.47; am Schluss steht in beiden Fällen eine markante Forderung in 5,42 und 48.
Nachahmung Gottes, kein „Passivismus”
Anders als die vier vorangehenden Thesen in Mt 5,21-37 sind die fünfte und sechste These über den jeweiligen Abschlussgedanken stark in den Fortgang der Bergpredigt eingebunden. Bei der Vollkommenheitsforderung in 5,48 fällt das sofort auf; die Wendung „himmlischer Vater“ bzw. „Vater in den Himmeln“ und „dein Vater, der im Verborgenen ist“ wird mit einem Dutzend Vorkommen vor allem in Mt 6 zu einem Leitwort im Mittelteil der Bergpredigt, findet sich aber auch noch in Mt 7,11 und 21.
Auf andere, aber ebenso nachdrückliche Weise, wird die fünfte These in den Zusammenhang eingebunden und theologisch fokussiert. Der Verhaltensratschlag aus Mt 5,42 („Dem dich Bittenden gib, und von dem von dir borgen Wollenden wende dich nicht ab“) findet ein theologisches Pendant in 7,7-11:
7 Bittet, und euch wird gegeben werden!
Sucht, und ihr werdet finden!
Klopft an, und euch wird geöffnet werden!
8 Denn jeder Bittende bekommt,
und der Suchende findet,
und dem Anklopfenden wird geöffnet werden.
9 Oder welcher Mensch ist unter euch,
den sein Sohn um Brot bitten wird,
wird er ihm etwa einen Stein geben?
10 Oder auch um einen Fisch wird er bitten,
wird er ihm etwa eine Schlange geben?
11 Wenn also ihr – böse Seiende – gute Gaben zu geben wisst,
wieviel mehr wird euer Vater in den Himmeln
gute geben den ihn Bittenden?
Das Thema Bitten und Geben dominiert den Mittelteil der Bergpredigt; im Vaterunser Mt 6,9-13 weist Jesus die Jünger/innen an, sich in allen wesentlichen Belangen bittend vor den „Vater im Himmel“ zu stellen; der weiß, was sie brauchen, schon lange bevor sie ihn bitten (vgl. 6,8). Die Reihe der Bitten im Vaterunser kulminiert in der Bitte um Rettung vor dem Bösen (6,13). Jede menschliche Auseinandersetzung mit dem Bösen steht folglich in diesem theologischen Bezugsfeld: Gott soll vor dem Bösen retten; alle Arbeit an der Überwindung des Bösen ist getragen vom Vertrauen auf Gottes Rettungswillen und Befreiungsmacht.
Der geforderte Umgang mit dem Bösen und mit dem Feind folgt in der Bergpredigt nicht allein Klugheitsregeln, die aus der Erfahrung gewonnen wurden und sich bewährt haben, sondern wird in einen direkten Zusammenhang mit dem Gottesbild gebracht: Es geht um die Nachahmung des Verhaltens Gottes. Jesus zeichnet in der Bergpredigt einen Gott, der allen Menschen vorbehaltlos entgegenkommt. Aus beiden Aspekten speist sich diese „Logik“: Gottes Sorge gilt allen, und sie liegt dem Verhalten der Menschen voraus. Der Maßstab ist allein Gottes Vatergüte. Die einzige Festlegung, die damit zugelassen ist, besteht in der Kindschaft gegenüber dem himmlischen Vater; nur sie ist Vorgabe, Leitbild und Ziel allen menschlichen Tuns: „damit ihr Söhne eures Vaters in den Himmeln werdet“ (5,45a).
In diesen Horizont muss sich das Verhalten der Menschen zueinander einfügen. Das scheint in den gewöhnlichen Alltagsverhältnissen keine besonderen Schwierigkeiten zu bereiten, erst recht, wenn ich in einer Position der Stärke bin und ein anderer mir als Bittsteller begegnet. Nur der Gestus des Entgegenkommens entspricht der allem vorausliegenden Vatergüte. Die fünfte These nimmt nun aber Situationen in den Blick, die nicht zu diesem einfachen Muster passen. Was ist zu tun, wenn der andere stärker ist und ich unterlegen bin? Was ist zu tun im Fall der Konfrontation mit Gewalt? Wie stellt sich die beschriebene Logik im Fall von Unrechtserfahrungen dar? Formal gesprochen ist in der Bergpredigt eine binäre oder dualistische Handlungslogik ausgeschlossen. Zur aufgezeigten Gesamtlinie passen nur Verhaltensweisen, die an Gottes Überwindung des Bösen festhalten und alle Beteiligten als Kinder des himmlischen Vaters anerkennen. Alles muss von der Güte des einen Vaters bestimmt sein. Eine Anpassung an die Handlungsweisen des Übeltäters ist damit ausgeschlossen. Aber auch ein quietistisches Nachgeben passt nicht zu dieser Linie, denn dies wäre nicht vereinbar mit der Klage und Bitte an Gott, das Böse zu überwinden, und der Überzeugung von Gottes liebevollem Einsatz für das Leben aller seiner Kinder.
Unter der Voraussetzung, dass die fünfte und ebenso die sechste These keine lockere Fügung weisheitlicher Sentenzen sind, sondern einen theologisch-ethischen Gedanken (in zwei Ansätzen) stringent entfalten, ist damit ein Verständnis von 5,39a („Leiste dem, der euch etwas Böses tut, keinen Widerstand“) als quietistischer oder passiver Hinnahme des Bösen ausgeschlossen. Die Absage an „Widerstand“ angesichts des Bösen kann nicht bedeuten, sich nicht mit dem Bösen auseinanderzusetzen. Wenn etwa die Neue Genfer Übersetzung von 2009 Mt 5,39a wiedergibt mit „Setzt euch nicht zur Wehr gegen den, der euch etwas Böses antut“, so mag sie sich formal eng am griechischen Text bewegen, ist aber inhaltlich in hohem Maße missverständlich und fügt sich nicht konsistent in den matthäischen Kontext ein. Die neue französische katholische „Traduction officielle liturgique“ der Bibel von 2013 nuanciert die Übersetzung, so dass sich ein kohärenter Sinn ergibt: „Eh bien! Moi, je vous dis de ne pas riposter au méchant“. Die Fußnote klärt auf, dass hier gezielt dem Verb „riposter“ der Vorzug gegenüber dem wörtlichen „résister“ gegeben wurde, weil „zurückschlagen“ den Sinn besser trifft als „widerstehen“.9 Alles kommt darauf an, die Logik des himmlischen Vaters beizubehalten und das Handeln an ihr zu orientieren; so wenig, wie Gott das Böse will, können die Jünger/innen es wollen. Warum sollten sie sonst um Rettung bitten? Und zugleich geht es darum, nicht die Verhaltensmuster des Bösen zu übernehmen, im eigenen Verhalten das Böse zu spiegeln.10
Das Verb „antísthemi“ in Mt 5,39a bezieht sich nicht auf jede Form von Widerstand gegenüber dem Bösen. Kontextuell und textsemantisch scheint es gewählt zu sein, um die Anti-Logik zu charakterisieren, die Jesus überwinden will. Wer in der Anti-Logik verharrt, hat sich den entscheidenden Schritt des entgegenkommenden Gottes gerade nicht zu eigen gemacht. „antísthemi“ ist nicht das übliche Wort für „vergelten“; vielfach wird es als „militärischer Ausdruck“ benutzt. „Resistance implies ‚counteractive aggression‘, a response to hostilities initiated by someone else. Liddell-Scott defines anthistēmi as to ‚set against esp. in battle, withstand‘. Ephesians 6:13 is exemplary of this military usage: ‚Therefore take up the whole armor of God, so that you may be able to withstand [antistēnai, lit., to draw up battle ranks against the enemy] on that evil day, and having done everything, to stand firm [stēnai, lit., to close ranks and continue to fight].‘ The term is used in the LXX primarily for armed resistance in military encounters (44 out of 71 times). Josephus uses antisthēmi for violent struggle 15 out of 17 times, Philo 4 out of 10. As James W. Douglass notes, Jesus’ answer is set against the backdrop of the burning question of forcible resistance to Rome. In that context, ‚resistance‘ could have only one meaning: lethal violence.“11 Als deutsche Übersetzung für Mt 5,39a böte sich also etwa an: „Verhaltet euch nicht gewaltsam gegenüber dem Bösen.“
Der bereits zitierte Kommentar von 1973 verstärkt das verbreitete quietistische Missverständnis noch durch die Übersetzung: „Ich aber sage euch, dem Bösen überhaupt nicht zu widerstehen.“12 Das scheint sich durch die Beispielreihe zu bestätigen; besonders das Hinhalten der anderen Wange ist sprichwörtlich geworden für eine passive Haltung, die das Böse einfachhin geschehen lässt. Gewaltverzicht bedeutet jedoch nicht Widerstandsverzicht. Der christliche Pazifismus erfordert eine klare Haltung zum und eine entschiedene Abgrenzung gegenüber dem Gebrauch von Gewalt, als genereller Verzicht auf Widerstand wäre er jedoch eher als „Passivismus“ („passivism“) zu bezeichnen, ein „tatenloser Pazifismus“ („nonresistant pacifism“), der in Gefahren und erniedrigenden Umständen nur schwer mit der Nächstenliebe und der immer gebotenen Selbstachtung zu vereinbaren ist. Die Bergpredigt zeichnet einen anderen, einen dritten Weg zwischen Gewalt und Passivismus vor, den der Bibelwissenschaftler und Denker der Gewaltfreiheit Walter Wink mit einem Oxymoron als „kämpferische Gewaltfreiheit“ („militant nonviolence“)13 bezeichnet.
Während der Eingang der fünften These negativ zunächst einmal verbietet, die Anti-Haltung der Übeltäter zu übernehmen, können die Beispiele als positive Entfaltungen der geforderten Haltung einer „militanten“ Gewaltfreiheit gelesen werden. Sie sind weit von jedem „frommen Dulden“ des Unrechts entfernt, das dem Bösen in die Hände spielt, statt es zurückzudrängen. In allen drei Beispielen der fünften These geht es darum, sich der Gewalt und dem Unrecht entgegenzustellen, ohne sich das Muster der Gewalt zu eigen zu machen. Vielmehr zielen die Beispiele auf Befreiung von der destruktiven Logik ab; die negative Handlungslogik soll nicht nur vorgeführt und entlarvt, sondern durchbrochen und kreativ überwunden werden.
Die blitzschnelle Gegenaktion „pariert“ nicht auf der Ebene der Aktion des Gewalttäters – das wäre im Sinne der von Jesus problematisierten „Anti“-Haltung –, sondern „dreht“ die Situation. Der normalerweise mit der rechten Hand ausgeführte Schlag auf die Wange des Gegenübers kann nur mit dem Handrücken ausgeführt werden; das ist nicht nur eine Form der Gewalt, sondern Ausdruck der Herabsetzung, der Entwürdigung des Gegenübers. Dreht dieser dem Schläger die andere Wange zu, verschiebt sich die Situation; aus der Herabwürdigung wird nackte Gewalt. „Durch die Gegenprovokation, auch die andere Wange hinzuhalten, verändert er [d.i. der Unterlegene, G.St.] die Situation. Das Objekt des Unrechts wird zum Handlungssubjekt und gewinnt so ein Stück weit Handlungssouveränität und Würde zurück. Selbst wenn nun das Gegenüber durch dieses ‚Entgegenkommen‘ nicht dazu stimuliert wird, innezuhalten und sein Verhalten zu überdenken, sondern die Skrupellosigkeit besitzt, die ‚Einladung‘ anzunehmen, hat sich die Konstellation gegenüber dem ersten Schlag fundamental verändert.“14
An diesem „Paradebeispiel“ des jesuanischen Pazifismus scheint die Logik der Gewaltfreiheit überdeutlich auf. Der Gewaltverzicht bedeutet den Austritt aus dem ewigen Hin und Her von Gewalt und Gegengewalt, er unterbricht den Kreislauf der Destruktivität und ermöglicht einen Ausweg. Eines bietet er nicht: eine Garantie, dass die Gewalt ein Ende findet. Und er bietet auch keine billige Lösung; der Preis kann sogar sehr hoch sein. Man darf die Assoziationen nicht zu weit treiben, aber gleich das erste Beispiel der Dreierreihe in Mt 5,39b ruft die Passionsgeschichte des Evangeliums in Erinnerung (vgl. Mt 26,67f) und lässt erahnen, was Nachahmung Gottes als Weg aus der Gewalt bedeuten kann. Aber auch wenn dieser Ernst immer im Blick zu behalten ist, wenn es um den Widerstand gegen zerstörerische Gewalt geht, sind die weiteren Beispiele nicht ohne Humor, der auch zum Aufbrechen einer verfahrenen Situation gehört und dem Unterdrückten wie dem Unterdrücker den Weg in eine andere Zukunft öffnen kann.
Wer vor Gericht unter Zwang zusätzlich zum Untergewand auch noch den als lebenswichtiges Kleidungsstück nicht pfändbaren Mantel (vgl. Ex 22,25f; Dtn 24,12f) hergibt, steht nackt vor dem Publikum; die Vorstellung überbietet die eigentlich ernste Situation, in der es um das letzte Hab und Gut des Armen geht, in Richtung eines Straßentheaters – mit dem Appell an den Gläubiger, „sein Verhalten gegenüber den Armen überhaupt zu überdenken und zu verändern“15. Das Mitgehen der „zweiten Meile“ führt nicht zum Zusammenbruch des römischen Besatzungsregimes, zeigt aber einen Weg zur Wahrung der Würde in einer bedrückenden Situation. „But why carry his pack a second mile? Is this not to rebound to the opposite extreme of aiding and abetting the enemy? Not at all. The question here, as in the two previous instances, is how the oppressed can recover the initiative and assert their human dignity in a situation that cannot for the time being be changed. The rules are Caesar’s, but how one responds to the rules is God’s, and Caesar has no power over that. Image then the soldiers’s surprise when, at the next mile marker, he reluctantly reaches to assume his pack (…) From a situation of servile impressment, the oppressed have suddenly seized the initiative. They have taken back the power of choice. (…) Imagine the situation of a Roman infantryman pleading with a Jew to give back his pack. The humor of this scene may have escaped us, but it could scarcely have been lost on Jesus’ hearers, who must have been regaled at the prospect of this discomfiting their oppressors.“16
Praktizierte Schöpfungstheologie
Die sechste These führt das Programm einer schöpferischen Überwindung zerstörerischer Gewaltverhältnisse fort. Mehr noch als das Hinhalten der Wange gilt die Feindesliebe als Charakteristikum der Botschaft Jesu und als extreme, ja ungeheuerliche Forderung christlicher Ethik, deren Praktikabilität und Verbindlichkeit fraglich erscheint. Die Argumentation der Bergpredigt unterläuft mit einigen ebenso schlichten wie zwingenden Überlegungen alle Relativierungsversuche. Feindesliebe gleicht nicht einer ethischen Gipfeltour, sondern ist das Pendant des biblischen Gottesglaubens, plausibilisiert durch eine einfache schöpfungstheologische Argumentation. Vorgängig zu allen Differenzen zwischen „Bösen und Guten“ – die Bösen werden sogar zuerst genannt! – gibt es eine tiefe Solidarität aller, die in ihrer Kreatürlichkeit gründet.17 Die moralischen Unterschiede werden nicht verwischt, aber die Welt allein mit diesem Maßstab zu beurteilen, hieße, Grundlegendes zu übersehen. Wie in These fünf ist diese Erkenntnis unmittelbar für das Handeln bedeutsam. Ein die direkte Erfahrung nur spiegelndes Verhalten übersieht den größeren Horizont, die tiefere Verbundenheit, die allen Unterschieden vorausliegt.
„Alles zusammenfassend begründet Jesus seinen Ruf mit dem Rückweis auf Gott, der vollkommen ist. Mit diesem Wort wird im griechischen Alten Testament ein hebräischer Begriff übersetzt, der das Ganzheitliche, das Unversehrt- und Ungeteiltsein meint. So kann das Alte Testament davon berichten, daß einer in seinem Herzen vollkommen (d.h. ganz, ungeteilt) mit dem Herrn lebt (1 Kön 8,61; 11,4; 15,3.14). (…) So ist auch bei Matthäus die ganze Ausrichtung auf Gott gemeint, nicht die Fehlerlosigkeit einer in sich abgerundeten, zur höchstmöglichen Perfektion entwickelten Persönlichkeit. Das wäre gerade das Abweichen von jener ganzheitlichen Ausrichtung auf Gott.“18 Dem entspricht Gottes ungeteilte Treue, seine ganzheitliche Hinwendung zu seinem Bundespartner. Auch wenn Feindesliebe als extreme ethische Forderung gilt, so ist festzuhalten, dass der matthäische Jesus vor dem Hintergrund der biblischen Überlieferung damit „nichts Unerhörtes“19 sagt. Feindesliebe wird verstanden „als Entsprechung zur unbedingten liebenden Zuwendung Gottes zu den Menschen, der diesen mit seiner Suche nach dem Verlorenen eine neue Zukunft eröffnet“20. Die Bibel erinnert immer wieder daran, dass nicht „die Anderen“ die Bösen sind, die der Erlösung bedürfen, und dass alle Überheblichkeit fehl am Platze ist. In einer Meditation über den von Gott selbst geschenkten „Frieden“ (Röm 5,1) hält Paulus fest, dass Gott zuerst alle als Feinde geliebt und mit sich versöhnt hat (Röm 5,8.10):
8 Es erweist aber seine Liebe zu uns Gott dadurch,
dass – als wir noch Sünder waren – Christus für uns gestorben ist:
…
10 Wenn nämlich Feinde seiend
wir versöhnt worden sind mit Gott
durch den Tod seines Sohnes,
wie viel mehr werden wir als Versöhnte
gerettet werden durch sein Leben.
Gott ist darin vollkommen zu nennen, „daß er sich niemandem versagt“, dass „er niemanden ausschließt und auch niemanden abschreibt“, dass er „gerade darin vollkommen ist, daß er auch der Gott der Gottlosen ist“21. „Denn Gott selbst gönnt sich seinen Feinden (…). Er liebt die, die ihn nicht lieben, aber nicht, weil sie ihn nicht lieben, sondern damit sie ihn lieben können. In dieser Liebe, die einfach anfängt und nicht aufhört und so Liebe ermöglicht, ist er schöpferisch, ist er vollkommen.“22 Die Feindesliebe ist kein Spezialthema einer christlichen Ethik, sondern das Zentrum des biblischen (nicht nur des neutestamentlichen) Gottesverständnisses. „Die Feindesliebe hat daher ein doppeltes Ziel: sie ist auf die Überwindung des Racheimpulses im eigenen Herzen und auf die Verwandlung des Gegenübers, auf seine ‚Entfeindung‘ gerichtet. Weil sie mich selbst und den Feind von den Wunden des Hasses heilt, ist sie der einzige erfolgversprechende Weg zur dauerhaften Überwindung der Feindschaft.“23
Nichts kann sich zum Guten wandeln, wenn Gottes schöpferische Liebe von der Angst des Menschen um sich selbst verschlungen wird; deshalb werden die fünfte und sechste These der Bergpredigt flankiert und gestützt durch den Refrain vom himmlischen Vater, der weiß, was Menschen nötig haben. Das Vaterunser ist das Gebet derer, die den Feind lieben sollen und wollen, aber nicht können, weil und solange sie zuerst auf sich schauen. „Sucht aber zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit (…)“ (Mt 6,33). Das ist die Vorzugsregel, die kreativer Gewaltfreiheit den Weg öffnet.
Die verwandelnde Kraft der Schwachen
An der Figur des „Gottesknechtes“ entfaltet das Alte Testament einen Weg, der von Anfang an die Anti-Logik, die Spiegelung der Gewalt im eigenen Verhalten überwindet und deshalb aus der Gewalt herausführt. Im ersten „Lied“ (Jes 42,1-9) präsentiert Gott selbst seinen Knecht vor einem imaginären Publikum. Dieser Knecht steht in einer besonders dichten Beziehung zu Gott; er ist erfüllt vom Geist Gottes, so dass in seinem Handeln Gott wirkt und seinen Willen durchsetzt. Damit ist die wichtigste Voraussetzung für alles versöhnende Handeln angesprochen: In der Annahme durch Gott werden dem Selbsthass und der Verachtung der anderen der Boden entzogen. So „erwählt“, „gerufen“ und „behütet“ (vgl. 42,6; 49,1.8) ist der Knecht „neu“, durch Gottes Annahme befreit wie am ersten Schöpfungsmorgen. Durch ihn kann Neues beginnen in der Welt des Unrechts (vgl. Jes 42,9).
Der Knecht soll in der Welt der Völker („auf der Erde“, 42,4) den Rechtszustand aufrichten, Gottes guter Schöpfung zum Ziel verhelfen. Alle Welt ist einbezogen, die ganze Weite der Schöpfung. So passt es, dass die Gottesrede an den Knecht in 42,5 nicht nur mit der üblichen Formel „so spricht der Herr“ beginnt, sondern Gott geradezu umständlich als Schöpfer von Himmel und Erde und Geber des Lebensatems beschrieben wird. Das steht nicht nur „räumlich“ in der Mitte des Textes, es erinnert an den Grund und das Ziel des göttlichen Wirkens, in den das Wirken des Gottesknechtes eingeschrieben ist.
Seine größte Sprachkraft entfaltet der Text, wenn er anschaulich wird und die „Methode“ der Durchsetzung des Rechts nennt: Der Knecht tritt nicht dröhnend und herrisch auf und er geht nicht über das Beschädigte und Schwache hinweg. Zurückhaltung und Zärtlichkeit – so könnte man die weltverändernde Methode nennen. In offenen Metaphern wird auch das „Recht bringen“ beschrieben: Licht bringen anstelle von Finsternis (vgl. Gen 1,1-3), Leben schaffen – sich überlagernde Vorstellungen für die schöpferische/göttliche Verwandlung der Welt, eine tief greifende Veränderung zur „Versöhnung“. Entsprechend der Anfangskonstellation der Bibel ist die Adressatenschaft eine doppelte: Es geht um das Volk, also Israel, und um die Nationen, alle andern, die nicht Israel sind (vgl. Gen 12,1-3). Global ist die Perspektive, aber Gottes Weg der Veränderung geht über seine Bindung an das erwählte Volk.
Damit ist die Aufgabe benannt. Was tut der Knecht? Wie reagieren die Adressaten? In Jes 49,1-9 spricht der Gottesknecht selbst. Er erinnert an seinen Auftrag: Gottes Rettung soll bis an das Ende der Erde reichen, alle umfassen. Dieser Einsatz Gottes für die Welt fängt damit an, dass Jakob/Israel zu seinem Gott zurückkehrt, aber das ist eben nur der Anfang einer weltverändernden Bewegung. Vom Ende des Liedes her gewinnt der Anfang der Rettung Kontur: Es geht wieder um Befreiung – aus der Gefangenschaft zum Licht. Die Aussagen bleiben aber bewusst offen; die metaphorische Sprache sichert ihre Bedeutung über die Ursprungssituation (also die Befreiung aus der Gefangenschaft in Babylon) hinaus.
Schärfer als im ersten Lied und mit neuen Tönen wird die Zwischenstellung, das „Mittleramt“, des Gottesknechtes vorgeführt: Er ist von Gott gerufen, geehrt; Gott sichert ihm zu, ihn zu behüten und ihm zu helfen. Das ist wichtig, nicht nur für die Stellung des Knechts, sondern für das Bestehen-Können in seiner Rolle. Denn offenbar stößt der Knecht auf Widerstände. Es deuten sich harte Konflikte an. Der Knecht charakterisiert sein eigenes Mühen als vergeblich, erfolg- und sinnlos. In der Verachtung, die er erfährt, hat er nur noch einen Halt: „Mein Recht ist bei JHWH“ (Jes 49,4).
Auf dieser Linie verbleibt das Lied in Jes 50,4-9. Es beschreibt die Gottesbeziehung des Knechts zunächst wörtlich als „Schülerschaft“: Es geht um das Hören, durch das allein sich Gottes Wille erlernen lässt. Als Schüler dieses Gottes erfährt er Zurückweisung, die sich in brutaler körperlicher Gewalt äußert. Die Dinge spitzen sich immer mehr zu: Einerseits wird das Gottesverhältnis enger, geradezu intimer (das Hören ist biblisch ein viel dichterer Ausdruck der Nähe und des Zusammenwirkens als in unserer gewöhnlichen Vorstellung), andererseits steht der Knecht nun mit seinem Leib für Gottes Auftrag ein. Es geht nicht um eine Botschaft, eine Mitteilung, ein Programm. Der Knecht verkörpert Gottes Rettungseinsatz für Israel und für die Nationen; deshalb schlagen die Widerstände gleichsam auf seinen Körper durch.
Der Knecht erfährt, dass er bestehen kann, „er wird nicht in Schande enden“ (Jes 50,7). Das ist schwer zu übersetzen: Er verliert nicht den Boden unter den Füßen, bleibt im Letzten er selbst. Hier versucht die Bibel eine Erfahrung zu erfassen, die alle Widerständler machen und die ihnen hilft zu bestehen. Es gibt eine Grenze der Gewalt, einen Punkt, an dem fremde zerstörerische Macht zerschellt; gemeint ist die Erfahrung einer Kraft, die allein die Treue zum Auftrag ermöglicht und das Weitergehen in letzter Konsequenz. Das ist kein Gesetz, immer nur eine stammelnd vorgetragene Erfahrung: ein Lichtfunke in einer wahnsinnigen Welt der Gewalt, der Punkt, an dem das Neue schon Wirklichkeit wird. Der zweite Teil des dritten Liedes drückt das in gewohnter Rechtssprache aus: Gott als Anwalt im Rechtsstreit, der nicht zulässt, dass das Recht unterliegt. Mit besonderem Nachdruck hält der Knecht fest, dass Gott ihm beisteht, wie in einem Refrain, der den zweiten Teil des Liedes gliedert: „Gott wird mir helfen“ – „der mich freispricht, ist nahe“ (vgl. Jes 50,7-9). Das ist die Weise, in der der Knecht dem Unrecht und der Gewalt begegnet. Er passt sich nicht den Mitteln seiner Gegner an. In einer Welt der Gewalt setzt er auf Gott als den Anwalt des Rechts.
Alle Fäden laufen zusammen in jenem berühmten Lied im 53. Kapitel des Jesjabuches – und zusätzlich bietet das vierte Lied noch entscheidende neue Aspekte über den Knecht und seinen Weg, die Welt bis zu den „fernen Inseln“ nach Gottes Willen zu verändern. Dieses Lied setzt offenkundig den Tod des Gottesknechtes voraus, deshalb spricht hier nicht der Knecht. Gott verheißt dem Knecht eine große Zukunft. Der Tod ist nicht das letzte Wort. Davon sprechen die Rahmenteile des Textes. Die Hoffnung des Knechtes geht nicht ins Leere, Gott ist treu.
Im Mittelteil des Textes (Jes 53,1-11) spricht eine nicht näher identifizierte Wir-Gruppe; sie ist zu einer revolutionären Erkenntnis gelangt. Im zweiten Teil des Mittelteils wird erzählt, was dieser Knecht erlitten und getan hat, wie die Menschen zu ihm standen und was Gott mit ihm vorhatte. Durch das Schicksal des Knechtes kommt die Wir-Gruppe zu einer neuen Erkenntnis, und zwar zu einer doppelten neuen Einsicht. Zum ersten geht ihr auf, wer der Knecht war und warum er gelitten hat, und zum zweiten sieht sie ein, wer sie war und was ihr Tun bewirkt hat – und wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. Der getötete Knecht war Gottes Knecht, er vertrat die Sache Gottes und Gott stand auf seiner Seite. Die Wir-Gruppe hatte gemeint, Gott habe sich von ihm losgesagt und ihn mit Leiden bestraft. Die Verblendung der Wir-Gruppe wird noch weiter entlarvt: Die Gewalt, die den Knecht getroffen hat, war die Gewalt der Wir-Gruppe. Nicht Gott hat sich das Leiden „ausgedacht“, sondern das Leiden hat einen konkreten Verursacher. Hier wurde also die eigene Gewaltausübung auf Gott projiziert. Die Falschheit und Verlogenheit hat nun ein Ende. Es ist klar, woher die Gewalt kommt; und die Gewalttäter erkennen das an. Es ist diese Einsicht, die aus der Täuschung, vor allem auch der Selbsttäuschung herausführt. Darin liegt schon ein Gewinn, denn zur Gewalt gehört die Täuschung über die Ursachen und die Folgen, die Propaganda der Lüge.
Aber die Veränderung der Wirklichkeit greift weiter aus. Deshalb folgt auf den Abschnitt über die Erkenntnis noch eine die ersten drei Lieder aufnehmende und deutende Erzählung über den Knecht. Er hat nämlich die Dynamik der Gewalt gebrochen. Oder vielleicht besser gesagt: An ihm ist diese Macht zerbrochen. Der Text sagt: „Er hat die Sünden getragen oder aufgehoben.“ (53,4) Die Gewalttäter werden nicht bestraft (das ist hier nicht das Thema), sondern herausgeführt aus dem „falschen Leben“.
Der Schlüssel zum Gelingen dieser mehrfachen Rollenwechsel (der Geächtete ist und bleibt der Gerechte; die Wir-Gruppe durchschaut ihre Verblendung und ihr verbrecherisches Tun) verbirgt sich in einem Bild in Jes 53,7: das Lamm, das seinen Mund nicht auftut. In einem Text, der sich so weit vorwagt und sich einer der schwierigsten Fragen stellt, sind auch die Bilder gewagt. Das stumme Lamm ist nicht in gefährlich-naiver Weise „lammfromm“. Es ist das Gegenbild zu den anderen Tieren der Kleinviehherde, die „ihren je eigenen Weg“ (vgl. 53,6) gehen. Das stumme Lamm ist hier kein dummes Lamm; das Lamm steht als Doppelbild für die Treue zu Gott und für die Absage an die Gewalt. Der Gottesknecht bleibt bei Gott und übernimmt nicht das Verhalten der Gewalttäter. Er steht für das, was Gott will, und er hält aus, was Gott nicht will. In allem Versöhnungshandeln ist das die größte Herausforderung: sich der destruktiven Macht nicht anzugleichen, weil in dem Moment das schöpferisch Neue verspielt wäre. „Fügt euch nicht in das Schema dieser Welt“ (Röm 12,2), wird später Paulus fordern, nicht als Grundsatz eines fragwürdigen Entweltlichungsprogramms, sondern im Wissen darum, dass Gott das Neue will, kein Immer-wieder-und-immer-weiter-so in einer gottfernen Welt.
Im Verfolgen der Spuren des Gottesknechts durch das Jesajabuch wird der biblische Weg der Versöhnung in einigen Grundzügen klarer. Gewaltlosigkeit ist kein ethisches Programm, das Menschen aus eigener Macht umsetzen können; sie ist nur theologisch möglich in einer Bindung an jenen Gott, der für den shalom „steht“, bei dem dies schon Wirklichkeit ist und der darin auch die Gewalttäter eingeschlossen hat, weil er sie nicht abschreibt: Deshalb kann die Wir-Gruppe nur erschüttert ausrufen: „Die Züchtigung war auf ihm, für unseren shalom!“ (Jes 53,5). Wie sollte ohne die Bindung an Gott im Handeln des Knechtes der Bruch mit dem Alten möglich sein? Für Jes 53 jedenfalls bricht sich an der Stelle, an der die Gewalt den Gottesknecht tödlich trifft, Gottes neue Schöpfung Bahn. Das kann man dann Stellvertretung nennen, obwohl diese Vorstellung möglicherweise viel zu statisch ist, um das Ringen, das Jes 53 abbilden will – in Reflexion und Erzählung –, auch nur annähernd einzufangen. Für die Wir-Gruppe (und schließlich die Vielen und die fernen Könige) ist die Welt neu geworden und der Knecht bleibt von Gott „behütet“.
Die Welt ist besetzt vom „Mythos der erlösenden Gewalt“ („myth of redemptive violence“)24. Es ist der tief verwurzelte Glaube, dass nur über die tödliche Gewalt Sicherheit, Frieden und Heil zu gewinnen sind. Das Evangelium, die biblische Botschaft von Gottes Engagement für die Welt, erzählt dazu die große Gegengeschichte.25 Die Bibel erzählt von dem einen Gott, der über allem und allen steht, und vom Gutsein der ganzen Schöpfung. Es geht um Überwindung der Gewalt in der Schöpfung, aber nicht um Vernichtung eines Teils von Gottes guter Schöpfung. Paulus findet dafür in 2 Kor 12,9 eine einfache Formel von großer Eindringlichkeit: Gottes Macht kommt zu ihrem Ziel durch Schwachheit.
1 Schweizer, Eduard, Das Evangelium nach Matthäus (NTD 2), Göttingen 1973 u.ö., 7.
2 Konradt, Matthias, Das Evangelium nach Matthäus (NTD 1), Göttingen 2015, 78.
3 Konradt, Matthäus, 78f.
4 Konradt, Matthäus, 79. – Die revidierte Einheitsübersetzung 2016 erinnert mit der Überschrift „Die neuen Thesen“ noch von ferne an die ältere unhaltbar gewordene Titulatur, versucht aber offenkundig die neuen Einsichten zu integrieren. Dass die Betonung des Neuen zu unbestimmt ist und der Vorschlag der Einheitsübersetzung doch wieder vor der Kontrastfolie „Altes gegen Neues Testament“ gehört werden kann, ist die Problematik und Grenze dieser Überschrift.
5 Konradt, Matthäus, 80.
6 Konradt, Matthäus, 80. – Fragwürdig konventionell bleibt demgegenüber die gerade auch für ein jüngeres Publikum konzipierte Neuübersetzung der BasisBibel der Deutschen Bibelgesellschaft von 2010, 25–28 pass., die in den Randglossen das überholte Verständnis fortschreibt. In dieser modern anmutenden Bibelübersetzung zeigt sich überhaupt ein Trend zu problematischen Klischees, wenn das „Auge um Auge“ als „Vergeltungsgrundsatz aus dem Alten Testament“ bezeichnet wird. Die Grenze zur Karikatur ist überschritten, wenn die beiden Abschnitte aus Mt 5,38-42 und 43-48 mit den unzutreffenden Überschriften „Das Gebot, nur maßvoll zu vergelten“ und „Das Gebot, den Mitmenschen zu lieben“ versehen werden.
7 Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 2006, 1842f.
8 Vgl. die Diskussion mit ausführlichem Belegmaterial bei Schöttler, Heinz-Günther, Christliche Predigt und Altes Testament. Versuch einer homiletischen Kriteriologie, Ostfildern 2001, 522–571.
9 Vgl. Betz, Hans Dieter, The Sermon on the Mount, Minneapolis 1995, 280: „Do not retaliate.“
10 Vgl. Wink, Walter, Engaging the Powers. Discernment and Resistance in a World of Domination, Minneapolis 1992, 184, der die Untersuchung von Mt 5,39 überschreibt mit: „The Thesis Statement. Do not mirror evil“.
11 Wink, Engaging, 185.
12 Schweizer, Matthäus, 78.
13 Wink, Walter, The Powers That Be. Theology for a New Millenium, New York 1998, 145; dt. Ausgabe: Verwandlung der Mächte. Eine Theologie der Gewaltfreiheit, hg. von Thomas Nauerth und Georg Steins, Regensburg 2014, 124.
14 Konradt, Matthäus, 95.
15 Konradt, Matthäus, 95.
16 Wink, Engaging, 182.
17 Vgl. Schockenhoff, Eberhard, Die Bergpredigt. Aufruf zum Christsein, Freiburg 2014, 230f.
18 Schweizer, Matthäus, 82f.
19 Schweizer, Matthäus, 83.
20 Konradt, Matthäus, 99.
21 Pröpper, Thomas, Gottes Freundschaft suchen. Predigten, Geistliche Gedanken und Gebete, Regensburg 2016, 108.
22 Pröpper, Gottes Freundschaft, 109.
23 Schockenhoff, Bergpredigt, 233.
24 Wink, Enganging, 13–31; vgl. Wink, Verwandlung, 48–63.
25 Vgl. Wink, Powers, 62; Wink, Verwandlung, 63; vgl. Johanna Tschautscher, Vom Mythos der erlösenden Gewalt, Essayfilm mit Th. Nauerth, G. Steins u.a., Österreich 2017, 95 min (www.johanna-tschautscher.eu).