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ОглавлениеRauf Ceylan
Der gewaltbereite Salafismus als Herausforderung
Einleitung
Die abrahamischen Weltreligionen werden in einer externen Kritik häufig beschuldigt, durch ihren strengen Monotheismus intolerant zu sein, während polytheistischen Religionen aufgrund ihrer Vielgötterei eine immanente Offenheit gegenüber anderen Weltanschauungen attestiert wird. Auf diese Vorurteile trifft man im Kontext des Judentums und Christentums heute eher in der historischen Literatur. In Bezug zum Islam dagegen sind diese Vorwürfe sowohl in (populärwissenschaftlichen) Publikationen als auch in den öffentlichen Diskursen (Politik, Medien) allgegenwärtig. Aktuell wird diese Sichtweise durch die globalen Konflikte wie in Syrien, Afghanistan, Libyen oder Irak forciert. Seitdem die salafistische Terrororganisation „Islamischer Staat“ plötzlich in Erscheinung getreten ist und in einem rasanten Tempo in Syrien und im Irak expandierte, haben sich die negativen Berichtserstattungen verstärkt. Intensiviert wurde die Assoziation „Islam gleich Gewalt“ ebenso durch das salafistische Milieu in westlichen Einwanderungsgesellschaften, das durch medienwirksame Auftritte gezielt dieses negative Bild immer wieder bestätigt.
Insbesondere in Deutschland hat sich diese Szene mit etwa 10.000 Anhängern etabliert, die mit ihren populären deutschsprachigen Predigern eine rückständige Ideologie propagieren. Aufgrund der großen Aufmerksamkeit in den Medien und in der Politik hat der Salafismus es geschafft, im Diskursfeld Islam eine wichtige Rolle zu spielen. Zugleich ist ein Expertenkreis rund um dieses Phänomen entstanden, die Experten werden als „Islamexperten“ tituliert. Darunter sind überwiegend Soziolog/innen, Pädagog/innen und Politikwissenschaftler/innen anzutreffen, die jeweils aus ihrer eigenen Perspektive versuchen, das Phänomen zu erklären und ebenso Präventionskonzepte zu formulieren. Muslimische Theolog/innen setzten sich kaum als Forschungsschwerpunkt mit der Frage nach dem Salafismus auseinander. Im besten Fall sind historische Analysen zu lesen, doch finden kaum gegenwartsbezogene theologische Auseinandersetzungen statt. Zwar nehmen hin und wieder muslimische Theolog/innen in den Medien Stellung zu diesem Phänomen. Allerdings fehlt ein akademisches Forschungsprofil zum Thema Fundamentalismus, obwohl seit 2010 die Islamische Theologie in Deutschland massiv ausgebaut wurde. Daher ist es notwendig, dass hierzulande diese Forschungslücke geschlossen wird. Zugleich müssen diese Studien Bezug nehmen zum übergeordneten Kontext, und zwar auf die Frage der Gewalt und Gewaltfreiheit im Islam und wie man das Friedenspotenzial der Religion in Zukunft stärker zur Entfaltung bringen könnte. Mit diesem Kontext eröffnen sich für die Islamische Theologie Kooperationsmöglichkeiten mit den Christlichen Theologien, die eine längere Wissenschaftstradition zu diesen Fragen aufweisen. Vor diesem Hintergrund sollen in der vorliegenden Abhandlung dieser Gedanke der Kooperation im Kontext von Gewalt bzw. Gewaltfreiheit in den Religionen aufgegriffen und einige Perspektiven entwickelt werden.
Das resistente Stigma: Religionen als Ursache von Konflikten
Wenn man heute über Religion spricht oder liest, wird immer wieder das Thema Gewalt erwähnt. Religionen seien oft Ursache von Gewalt, weil sie aufgrund ihres Wahrheitsanspruchs eine dichotome Weltsicht – „Gläubige und Ungläubige“ – förderten. Damit würden alle anderen Menschen außerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft als untergeordnet betrachtet, sodass Vorurteile und Feindbilder begünstigt werden. Um diese These zu untermauern, wird auf die zahlreichen historischen Religionskriege verwiesen. Im christlichen Kontext werden hierbei oft die Kreuzzüge erwähnt, die nicht nur zur Vertreibung der Muslime aus dem Heiligen Land, sondern ebenso zur Ausgrenzung von als „Häretikern“ abgestempelten Christen geführt haben:
„Innozenz‘ Pontifikat wurde für die Weiterentwicklung (oder auch Depravierung) der Kreuzzugsidee von großer Bedeutung. Der von ihm ausgerufene vierte Kreuzzug ohne Beteiligung eines Königs war der erste, der sich – gegen seine Absicht – gegen Christen richtete. Um den benötigten venezianischen Schiffsraum bezahlen zu können, eroberten die Kreuzfahrer 1202, trotz Kritik in den eigenen Reihen, die an Ungarn abgefallene christliche Stadt Zara in Dalmatien für Venedig zurück. Gegen die Eroberung des unermeßlich reichen christlichen Konstantinopel 1204 durch das Kreuzheer hatte der Papst schließlich weniger Einwände, eröffnete sie doch Möglichkeiten einer Kirchenunion mit der Ostkirche. Die Dämme aber waren gebrochen, und Innozenz zögerte jetzt nicht mehr, die Kreuzzugsidee gegen innere Feinde der Kirche, die häretischen Katharer in der Provence, anzuwenden.“1
Die These der Gewalttätigkeit wird zudem durch die Konfessionskonflikte untermauert, die nach der Reformation zum 30-jährigen Krieg führten. Schließlich wird das Konfliktpotenzial im Christentum historisch in seinem Kampf gegen die Wissenschaft festgemacht, welche sein Weltbild und seine Deutungshoheit herausforderte. Während bis ins vierte Jahrhundert die Anhänger des Christentums – trotz Verfolgungen und drakonischen Strafen im Römischen Reich – friedlich missionierten, sei im Zuge der konstantinischen Wende – die zum Imperium Romanum Christianum führte – das Konfliktpotential sukzessive in Erscheinung getreten. Dieser einseitige Blick auf das Christentum führt dann schließlich dazu, dass man die gesamte Geschichte dieser Weltreligion polemisierend als „Kriminalgeschichte“ liest.2
Im islamischen Kontext wird ebenso eine lange „Blutspur“ nachgezeichnet. Zunächst wird immer darauf verwiesen, dass die 12-jährige Verkündungszeit in Mekka (610–622 n.Chr.) sich durch die friedliche Mission des Islam auszeichnete. Als der Prophet Muhammad mit seiner Verkündung des absoluten Monotheismus im Jahre 610 n.Chr. begann, war er mit der Feindschaft der mekkanischen Oligarchie konfrontiert. Die Mekkaner sahen ihren polytheistischen Kult – der aufgrund der zahlreichen Pilger mit ökonomischen Interessen gekoppelt war – an der Kaba durch die neue Religion als gefährdet an. Da die Anhänger des Propheten Muhammad sich eher aus sozialschwachen Kreisen rekrutierten, fiel es den Machthabern leicht, diese zu unterdrücken. Aufgrund der Intensität der Verfolgungen wanderten die Muslime daher ab 622 n.Chr. in die Stadt Medina aus und konnten dort von nun an ihre Religion öffentlich praktizieren. Nicht nur das, sie waren dann auch in der Lage, sich gegen die Mekkaner kriegerisch zu behaupten. Es kommt daher zu einer Reihe von militärischen Auseinandersetzungen, die mit der Eroberung der heiligen Stadt Mekka endeten.3 Nach dem Tod des Propheten Muhammad 632 n.Chr. entstanden mit der Zeit unterschiedliche Islamische Reiche, wobei den Europäern vor allem das Osmanische im historisch-kollektiven Gedächtnis präsent ist. Das liegt nicht nur darin, dass es sich erst 1922 auflöste, sondern auch an seiner langen Präsenz in Südosteuropa sowie den beiden Belagerungen Wiens im Jahre 1529 und im Jahre 1683. Obwohl die Beziehung zwischen dem Osmanischen Reich und dem Europäischen Kontinent auf den Feldern von Wirtschaft, Politik und Kultur sehr vielschichtig war, wird dieses Verhältnis auf die geführten Kriege reduziert.
Diese Skizzierung zeigt bereits, dass Religion oft reduktionistisch auf ihr Konfliktpotenzial hin diskutiert wird. Zudem wird oft ausgeblendet, dass die Kriege nicht immer religiös, sondern politisch oder ökonomisch motiviert und somit kaum mit der religiösen Lehre kompatibel waren. Ein näherer Blick auf die Geschichte der Religion müsste daher vielmehr ihre Ambivalenz herausarbeiten. Wie Hans Küng zu Recht darauf hinweist, hat Religion immer ein Wesen und Unwesen. Das gilt übrigens für alle Religionen und nicht nur für die monotheistischen. Denn die gängige These lautet: Die Intoleranz sei dem Ein-Gott-Glauben immanent.4 Andere Gottheiten, Götter usw. werden nicht geduldet, wie es explizit vom „eifersüchtigen Gott“ in den zehn Geboten offenbart wird: Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Historische Beispiele wie die Christenverfolgung im Römischen Reiche sowie die Drangsalierung und Verfolgung der Muslime durch die polytheistischen Mekkaner in der frühmekkanischen Epoche (610–623 n.Chr.), als der Islam verkündet wurde, zeigen, dass auch nicht-monotheistische Weltanschauungen intolerant sein können. Ein Vorwurf – neben machtpolitischen Interessen vor allem der mekkanischen Oligarchie – war der Traditionsbruch mit der Religion der Urväter, die man über Jahrhunderte durch den polytheistischen Kult pflegte. Ein aktuelles Beispiel liefert die Massenvertreibung und Verfolgung von Muslimen in Myanmar durch Buddhisten, die nicht zu den monotheistischen Traditionen zählen.
Aktuelle Beispiele belegen aber auch, dass säkulare Ideologien genauso eine Quelle von Gewalt und Konflikten sein können. Die meisten Kriege im 20. Jahrhundert waren nicht religiös bedingt, worauf José Casanova zu Recht hinweist. Sowohl der Erste als auch der Zweite Weltkrieg waren keine Religionskonflikte, sondern basierten auf säkularen Ideologien bzw. Interessen (Nationalismus, geopolitische Interessen usw.).5 Ebenso wurzeln die gegenwärtigen globalen Konflikte wie in Syrien nicht primär in religiösen Fragen. Gefährlich wird es nur dann, wenn diese politischen Krisen mit religiösen Narrativen untermalt werden. Denn: politische Konflikte kann man lösen, religiöse eher nicht. Exemplifizieren kann man dieses Problem anhand des Nahost-Konfliktes, der zunächst rein ethnisch-politische Ursachen hatte. Im Laufe der Jahrzehnte hat die religiöse Deutung des Problems immer mehr zugenommen, sodass eine friedliche Lösung immer mehr in die Ferne gerückt ist. Ebenso war der Ausbruch des Bürgerkrieges in Syrien – der mittlerweile zu einem internationalen Konflikt geworden ist – nicht religiös begründet, sondern es ging um den Sturz eines Diktators. Überhaupt war der Auslöser des „Arabischen Frühlings“ nicht religiös motiviert, sondern demokratisch.
Rückkehr von Religion im Mantel des Fundamentalismus
Das Beispiel Syrien führt auch vor Augen, wie schnell ein Machtvakuum durch extremistisch-religiöse Gruppen gefüllt werden kann. Von Anbeginn des Bürgerkrieges gab es zwar extremistische Splittergruppen, die eine gemeinsame Opposition gegen das diktatorische Regime in Syrien verhinderten, doch der Aufstieg des sogenannten „IS“ (Islamischer Staat) hat dem religiös umgedeuteten Krieg zu einer neuen Dimension verholfen. In einem rasanten Tempo hat der IS geografisch expandieren können und sich zu einem der gefährlichsten internationalen militantterroristischen Netzwerke entwickelt. Besonders auf junge Menschen hat das Netzwerk eine hohe Anziehungskraft ausgeübt, sodass allein aus den westlichen Gesellschaften mehrere Tausend junge Menschen mit und ohne Migrationshintergrund sich dem IS angeschlossen haben. Lange Zeit handelte es sich bei den Salafisten um ein männliches Phänomen, allerdings hat sich das seit den „IS-Bräuten“ geändert. Zahlreiche Frauen aus westlichen Gesellschaften sind nicht nur in die Kriegsgebiete ausgereist, sondern übernehmen mittlerweile auch Führungspositionen.
Die Geschichte islamisch-extremistischer Gruppen lässt sich dabei bis in die frühislamische Gemeinde zurückverfolgen. Die erste Gruppe, genannt „Kharidschiten“, die im 7. Jahrhundert entstanden ist, weist bereits alle typischen Merkmale von religiösem Extremismus auf:
– Sie beansprucht für sich das religiöse Interpretationsmonopol,
– sie versteht sich selbst als Richter und Henker zugleich,
– sie zeichnet sich durch Null-Toleranz gegen Andersdenkende
– und Legitimierung von Gewalt auf dem Hintergrund religiöser Textstellen aus.
Im Laufe der Historie sind dann immer wieder – vor allem in Zeiten von politischen Umbrüchen – Gelehrte und Strömungen aufgekommen, die ähnliche Merkmale aufwiesen und die bis heute als geistige Väter von extremistischen Gruppen der Gegenwart fungieren. Allerdings handelt es sich bei diesen Erscheinungen eher um quantitative Randphänomene. Erst mit der Moderne treten muslimische Chefideologen des Extremismus auf, die religiöse Texte und Symboliken politisch interpretieren und versuchen, einen muslimischen Staat zu legitimieren. Nicht nur das, auch werden Mittel wie Gewaltanwendung, Selbstmordanschlag usw. geheiligt, die zur Erreichung der Ziele als erforderlich gesehen werden. Was die fundamentalistischen Autoren nicht kritisch reflektieren, ist die Tatsache, dass ihre Ideen, Terminologien wie Staat, Regierungssystem usw. Produkte der Moderne sind und keinesfalls aus den religiösen Texten oder aus der islamischen Geschichte heraus abgeleitet werden können.6
Insgesamt ist der Fundamentalismus wirkungsgeschichtlich ein Produkt der Moderne. Das kann man nicht nur an den abrahamischen Religionen exemplifizieren, sondern auch am Buddhismus oder Hinduismus. Sie sind als Reaktion auf die zunehmende Säkularisierung der Gesellschaften entstanden. Aus Angst, dass die Religion völlig aus der individuellen und gesellschaftlichen Sphäre verschwindet, sollte die Formel „Back to the Roots“ eine Wiederbesinnung auf die Fundamente der Religion bewirken. Denn der Rationalisierungsprozess, so wie ihn Max Weber für die christlich-abendländischen Gesellschaften identifizierte und analysierte, hat nicht nur die politischen, ökonomischen oder wissenschaftlichen Systeme erfasst, sondern ebenso die Religion. Die Folge dieser Entwicklung ist nicht nur die Auflösung von Traditionen, sondern auch die Rationalisierung der Theologien. Am Beispiel des christlichen Fundamentalismus, der in den USA seinen Ursprung hat, werden durch die Rückbesinnung auf die „Five Fundamentals“ diese Umkehrungsversuche deutlich.7
Im islamischen Kontext hat der Fundamentalismus allerdings zwei Formen hervorgebracht: Einen traditionellen Fundamentalismus, der ähnlich wie die christlichen Fundamentalisten sich einem rationalen Diskurs völlig verschließt und auf die wortwörtliche Auslegung der heiligen Schriften pocht. Im Rahmen des „cultural lag“ in islamisch geprägten Ländern ist zu erwarten, dass diese Bewegung mit zunehmender Modernisierung noch erstarken wird. Daneben existiert ein rationaler Fundamentalismus, der historische, symbolische bzw. metaphorische Zugänge zum heiligen Text erlaubt, wenn sie dem Ziel einer „islamischen“ Staatsform dienlich sind. Beide Formen sind seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts bis heute aktiv.
Salafisten in Deutschland – eine neue fundamentalistische Jugendbewegung
Im Rahmen der Arbeitsmigration nach Deutschland wurde auch fundamentalistisches Gedankengut importiert. Die Rahmenbedingungen in Deutschland wie neue potenzielle Mitglieder, Finanzquellen, demokratische Rechtsordnung usw. haben dazu beigetragen, dass sich im Laufe der 1970er, 1980er und 1990er Jahre zahlreiche fundamentalistische Gruppierungen hierzulande niedergelassen haben. Oft sind zudem wichtige Führungspersonen als politische Flüchtlinge eingereist und haben sich als solche im religiösen Feld eine Position verschafft. Trotz der Heterogenität war diesen Gruppierungen gemeinsam, dass sie
– eher ethnisch-homogen zusammengesetzt waren,
– eine Gewaltanwendung völlig oder zumindest auf deutschem Boden abgelehnt haben,
– ihre Politik eher auf die Herkunftsländer bezogen war
– und die Altersstruktur eher ab 30 Jahre begann.
Ab den 2000er Jahren taucht eine weitere Bewegung auf, die nicht nur Deutschland als Missionierungs- und Aktionsgebiet betrachtet, sondern sich überwiegend aus jungen Menschen rekrutiert: die Salafisten. Anders als die vorherigen fundamentalistischen Bewegungen handelt es sich auch nicht um ein reines Migrantenphänomen, da sich zahlreiche Konvertiten unter den Salafisten befinden. Es handelt sich hierbei einerseits um Deutschstämmige, die zum Islam konvertiert sind und sich diese extreme Form ausgewählt haben. Zum anderen um Jugendliche, die aus muslimisch-säkularen Familien stammen und wieder zu ihren religiösen Wurzeln zurückkehren möchten. Gemeinsam ist den Anhängern des Salafismus, dass Brüche in ihren Individualbiographien typisch sind. Attraktiv ist diese Bewegung für Jugendliche auch deshalb, weil sie sich als universelle Oppositionsbewegung versteht und ihre Anhänger eine Selbstaufwertung erleben. Vor allem für gescheiterte Biographien fällt dieses Identifikationsangebot auf fruchtbaren Boden. Das Zusammengehörigkeitsgefühl wird durch ein enges Gemeinschaftsleben und durch Dress-Codes zum Ausdruck gebracht.
Aus einer Außenperspektive wird diese Bewegung oft als eine homogene Gruppe wahrgenommen, obwohl es sich um eine heterogene Strömung handelt. Diese kann man grob in folgende drei Hauptgruppen aufgliedern:
– puristische Salafisten: Diese Strömung verfolgt das Ziel, ein frommes Leben zu führen und durch Missionierung langfristig eine islamkonforme Gesellschaft nach fundamentalistischen Prinzipien zu schaffen. Das zentrale Motto hierbei ist: Gott verändert eine Gesellschaft nur, wenn jeder Einzelne sich ändert. Daher werden politische wie auch gewalttätige Mittel abgelehnt. Stattdessen konzentriert sich diese Strömung auf das eigene soziale Umfeld, um das eigene Gedankengut zu verbreiten und Frömmigkeit als Basis für eine religiöse Staatsform zu schaffen.
– politische Salafisten: Anders dagegen sind die politisch-orientierten Salafisten, die durch öffentliche Auftritte und gezielte medienwirksame Inszenierungen für ihr Gedankengut werben wollen. Aktionen wie Koranverteilungen sind nur ein Beispiel dafür, wie sehr diese Strömung die Öffentlichkeit sucht. Ebenso sind politische Demonstrationen usw. ein Mittel, um die eigene Botschaft zu transportieren. Allerdings darf man nicht glauben, dass sie auch an einer politischen Partizipation wie aktive oder passive Wahlen im System interessiert seien. Im Gegenteil: das demokratische System wird als ein polytheistisches System betrachtet, da es nicht auf dem Gotteswillen, sondern auf dem Volkswillen basiere. Daher sei jede Art von Teilnahme an diesem System ein polytheistisches Ritual und Befürworter des Systems seien „Ungläubige“. Ebenso werden Muslime als Häretiker betrachtet, wenn sie sich demokratisch verstehen.
– gewaltbereite Salafisten: Die gewaltbereite Strömung sieht weder im puristischen Missionieren noch in politischen Aktionen ein legitimes Mittel, um ihre fundamentalistische Weltanschauung zu verbreiten. Vielmehr wird Gewalt sowohl als Mittel zum Zweck als auch als Ziel an sich gesehen. Als Mittel deshalb, um langfristig einen „Islamischen Staat“ zu schaffen. Als Ziel deshalb, weil allein der Kampf gegen „Ungläubige“ einen Gottesdienst darstelle. Seit Kain und Abel sei die Weltgeschichte durch diesen Kampf geprägt, daher müsse man den Unglauben bekämpfen – unabhängig vom Ergebnis. Unter „Ungläubig“ werden jedoch nicht nur Nicht-Muslime wie Juden oder Christen subsumiert, sondern auch der Großteil der Muslime, die nicht der Ideologie der gewaltbereiten Salafisten Folge leisten.8
Während diese dritte Kategorie die anderen Strömungen zwar immer eher als Ausnahmeerscheinung begleitete, hat sich das durch die sogenannte militante Gruppe „Islamischer Staat“ in Syrien und Irak dramatisch geändert. Ihr brutales Vorgehen gegen Menschen und historischkulturelle Stätten wird dabei mit der religiösen Argumentation untermauert, sie seien gottlos. In einem rasanten Tempo hat diese Bewegung weltweit Anhänger gefunden. Schockierend ist insbesondere die Tatsache, dass in westlichen Gesellschaften sozialisierte junge Menschen aus ihren Heimatländern ausgereist sind, um sich dieser Terrorgruppe anzuschließen. Mittlerweile sind auch mehrere kampferprobte Anhänger wieder in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt und stellen eine akute Terrorgefahr dar; so sind sie eine große Herausforderung für pädagogische und religiöse Institutionen.
Theologische Herausforderungen und interreligiöse Akzentsetzung
Zwar stellen die Salafisten mit etwa 10.000 Anhängern eine absolute Minderheit innerhalb der mittlerweile 5 Millionen Muslime in Deutschland dar, doch nehmen sie im Islamdiskurs eine gewichtige Rolle ein. Sie tragen wesentlich dazu bei, dass der Islam mit Gewalt assoziiert wird. Während die Mainstream-Muslime seit Jahren versuchen, gerade nicht diesem Image zu entsprechen, versuchen vor allem gewaltbereite Salafisten, genau diese Assoziation zu zementieren. Die Mainstream-Gemeinden wie die muslimischen Dachverbände, die als Ansprechpartner für die Politik fungieren, versuchen zudem dem Salafismus entgegenzuwirken. Sie verfügen aber weder über das pädagogische noch das deutschsprachige theologische Personal, um in dieser Sache effektiv zu handeln. Daher nehmen sie in Präventionsprogrammen als Kooperationspartner und „Wegweiser“ eine begleitende und beratende Rolle ein. Es sind die Pädagog/innen, die versuchen auf sozialräumlicher Ebene Jugendliche von extremistischen Milieus fernzuhalten. Ebenso werden Aussteigerprogramme angeboten, um eine Wiedereingliederung der Jugendlichen in unsere Gesellschaft zu gewährleisten. Weitere Akteure im Feld sind die Akademiker, überwiegend aus den Sozialwissenschaften, die sich mit diesem Phänomen beschäftigen. Mit Analysen und Ursachenforschung wird versucht, diese Bewegung zu verstehen und Handlungsempfehlungen zu formulieren. Allerdings ist anzumerken, dass trotzdem kaum empirische Untersuchungen zum Salafismus im deutschen Kontext existieren. Die wenigen Studien wie die Analyse der Chatprotokolle des Forschungsnetzwerkes Radikalisierung und Prävention (FNRP) versprechen aber wichtige Hinweise, wie die gruppeninterne Dynamik funktioniert und welche Faktoren zur Radikalisierung beitragen.9 Ebenso existieren mittlerweile auch Handbücher für die Praxis, um auf der Ebene von Schule, Gemeinde und Jugendeinrichtung dieses Phänomen zu verstehen und entsprechend zu handeln. Darüber hinaus existieren bereits zahlreiche populärwissenschaftliche Bücher, die sich mit dem Thema Salafismus auseinandersetzen.
Während also in den (Populär-)Wissenschaften Publikationen zu diesem Thema entstanden sind, sind bisher kaum genuin theologische Untersuchungen zum Thema Salafismus initiiert worden. Obwohl bereits mehrere Institute für Islamische Theologie in den letzten Jahren gegründet worden sind, wird die Forschung zum Salafismus von den Sozialwissenschaften dominiert. Gerade historische und gegenwartsbezogene Analysen zum theologischen Hintergrund sowie Ansätze einer gewaltfreien Theologie sind akuter denn je. Nur wenige deutsch-muslimische Autoren haben zu Gewaltfreiheit gearbeitet. Einer der Pioniere, die die Friedenstradition des Islam besonders akzentuiert haben, war Abdoldjavad Falaturi mit seinen Schriften in den 1990er Jahren.10 Gegenwärtig arbeitet besonders Muhammad Sameer Murtaza – der zugleich in der Stiftung Weltethos tätig ist und sich diesen universellen Werten verantwortlich fühlt – zu diesem Thema.11 Im christlichen Kontext kann dieser Ansatz auf eine lange Tradition zurückblicken. Insofern stehen zahlreiche christliche Theologen als potenzielle Kooperationspartner für interreligiöse Studien zur Verfügung. Denn wie oben gesagt, haben alle Weltreligionen in ihrer Geschichte und Gegenwart fundamentalistische Strömungen hervorgebracht. Im Kontext der abrahamischen Religionen ist zu konstatieren, dass aufgrund der geistigen Affinität von Judentum, Christentum und Islam sich eine interdisziplinäre Zusammenarbeit besonders empfiehlt.
Fazit
Die monotheistischen Religionen haben bis heute mit dem Vorurteil zu kämpfen, dass sie aufgrund ihrer Gottesvorstellung intolerant sind und die Wurzel von Konflikten bilden. Gegenwärtig wird vor allem auf die abrahamische Religion des Islam dieses Vorurteil projiziert. Verstärkt wird dieses durch die zeitgenössischen fundamentalistischen Bewegungen, die global agieren und Gewalt als legitimes Mittel propagieren. Wichtiger denn je werden deshalb Gegenkonzepte zu diesen inhumanen Auslegungen des Islam. Ein Ansatz war die islamische Mystik, die die Liebe zum Menschen als Ausgangspunkt ihrer Lehre nahm. Diese positiven Grundlagen können wie im Christentum für Konzepte für eine Friedenspädagogik bzw. Friedenstheologie fruchtbar gemacht werden. Die neu gegründeten Institute bzw. Zentren bzw. Departments für Islamische Theologie an den Standorten Erlangen-Nürnberg, Frankfurt, Münster, Osnabrück und Tübingen verfügen über personelle Ressourcen, um sich dieser wichtigen Frage zu widmen. Bisher wurde das wissenschaftliche Feld den Sozialwissenschaftlern überlassen, die entsprechend ihrer Wissenschaftstradition das Phänomen analysierten. Mittelfristig müssen jedoch muslimische Theolog/innen einen innermuslimischen Diskurs zur Frage „Gewaltfreiheit“ initiieren und durch interreligiöse Projekte an der Entwicklung einer Friedenstheologie arbeiten.
1 Hilsch, Peter, Die Kreuzzüge gegen die Hussiten. Geistliche und weltliche Macht in Konkurrenz, in: Bahlcke, Joachim / Lambrecht, Karen / Maner, Hans-Christian (Hg.), Konfessionelle Pluralität als Herausforderung. Koexistenz und Konflikt in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Leipzig 2006, 201–215, 204.
2 Vgl. Deschner, Karl-Heinz, Kriminalgeschichte des Christentums, Bd. 1–10, Reinbek 1996–2014.
3 Vgl. Ceylan, Rauf / Kiefer, Michael, Salafismus. Fundamentalistische Strömungen und Radikalisierungsprävention, Wiesbaden 2013, 26ff.
4 Vgl. Assmann, Jan, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München – Wien 1998; Assmann, Jan, Die Mosaische Unterscheidung. Oder der Preis des Monotheismus, München 2003.
5 Vgl. Casanova, José, Europas Angst vor der Religion, Berlin 2009.
6 Vgl. Ceylan / Kiefer, Salafismus, 41ff.
7 Vgl. Armstrong, Karen, Im Kampf für Gott. Fundamentalismus in Christentum, Judentum und Islam, München 2007, 199ff.
8 Vgl. Ceylan / Kiefer, Salafismus, 82ff.
9 Vgl. Kiefer, Michael u.a., „Lasset uns in sha’a Allah ein Plan machen“ Fallgestützte Analyse der Radikalisierung einer WhatsApp-Gruppe, Wiesbaden 2017.
10 Vgl. Falaturi, Abdoldjavad, Toleranz und Friedenstraditionen im Islam, in: Pflüger, Peter Michael (Hg.), Gewalt – warum? Der Mensch: Zerstörer und Gestalter, Olten 1992, 62–81.
11 Vgl. z.B. Klußmann, Jürgen / Murtaza, Muhammad Sameer / Rohne, Holger-C. / Wardak, Yahya (Hg.), Gewaltfreiheit, Politik und Toleranz im Islam, Wiesbaden 2015.