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KATHOLISCHE KIRCHE IN DEUTSCHLAND – WIE GEHT ES WEITER? VERSUCH EINER FRIEDLICHEN VERSTÄNDIGUNG ÜBER NOTWENDIGE GEMEINSAME SCHRITTE

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Bischof Joachim Wanke

Gegenwärtig werden uns Bischöfen mancherlei Ratschläge gegeben, wie unsere Kirche ihre angeschlagene Glaubwürdigkeit wieder aufbessern könnte. Wir kennen die geäußerten Vorwürfe und leiden selbst unter dem, was sich als Schuld in den Reihen des Klerus und darüber hinaus gezeigt hat. Wir nehmen ein kaum zu entwirrendes Gemenge von Problemanzeigen wahr, meist untersetzt mit starker Emotionalität und Empörungsrhetorik, auf die schwer zu reagieren ist.

Wie soll ich mich als Bischof dazu verhalten? Einsichtige Analytiker wissen um den begrenzten Handlungsspielraum, den ein Bischof, eine Bischofskonferenz insgesamt hat.

Wie also vertieft neue Glaubwürdigkeit gewinnen? Wir wissen aus Erfahrung: Glaubwürdigkeit ist nur indirekt zu erlangen. Das gilt auch für unsere Kirche. Glaubwürdigkeit wird „geschenkt“, nicht gemacht. Sie ist nicht ein Produkt von gutem Management oder professioneller Medienarbeit (allein). Sie ergibt sich, wenn vieles zusammenkommt, vor allem Wille zur Wahrhaftigkeit, persönliche Integrität, Bereitschaft zum Gespräch, Entschiedenheit, die sich mit Menschenfreundlichkeit verbindet.

In der Tat: Profiliertheit muss nicht abstoßend wirken, im Gegenteil: Sie weckt Interesse, wenn denn die Intention dieser Profiliertheit, deren Bedeutung für unser Menschsein (und Christsein) verständlich wird. Der österliche „Mehrwert“, den der Gottesglaube schenkt, muss in den Blick kommen. Dazu ist Kirche da, dem dient ihre Verkündigung und alles, was sie darüber hinaus tut.

Dass es mit der Kirche weitergeht, ist keine Frage für den, der ernsthaft an die göttliche Stiftung der Kirche Jesu Christi glaubt. Die Frage ist freilich: Wie sollte sich ihr Leben in Zukunft entfalten? Welche Gestalt muss sie hierzulande, in dieser konkreten gesellschaftlichen Luft der Bundesrepublik Deutschland ausprägen? Das sind offene Fragen, über die es gemeinsam nachzudenken gilt.

Meine Überlegungen möchten einen Beitrag dazu leisten: Es gilt nüchtern auf die Situation zu schauen, in der wir leben, aber ebenso neu die biblischen und theologischen Baupläne der Kirche anzuschauen und zu fragen, wie diese zur Grundlage von kirchlichem Umbau, Ausbau und geistlicher Erneuerung werden können.

Ich gehe mein Thema in drei Schritten an (nach dem alten bewährten Dreischritt: sehen, urteilen, handeln). Dabei lehne ich mich an das bemerkenswerte Referat des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, an, das er bei der Herbstvollversammlung im September 2010 in Fulda gehalten hat. Er hatte dort das Bild einer hörenden, pilgernden und den Menschen dienenden Kirche entfaltet und zum Gespräch über diese „Kirchenvision“ eingeladen.

Veränderungen in Kirche und Gesellschaft wahrnehmen („sehen“)

Seit dem 2. Vatikanum und der nachfolgenden Würzburger Synode haben sich die Rahmenbedingungen kirchlich-katholischen Lebens in unseren Diözesen beträchtlich verändert. Manches an innerkirchlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen hat sich verschärft, anderes ist in den Hintergrund getreten. Neue Horizonte haben sich aufgetan. Seit der friedlichen Revolution 1989/90 und der nachfolgenden Wiedervereinigung ist der Anteil der nichtchristlichen Bevölkerung in der Bundesrepublik stark gewachsen. Der Prozess der europäischen Einigung ist weiter gegangen. Weltweit haben sich neue Herausforderungen in den Vordergrund geschoben: das Phänomen des Terrorismus etwa, die Klimabedrohung, die Energiefrage, aber auch ein erwachendes neues Selbstbewusstsein der großen Religionen, etwa des Islam mit den daraus erwachsenden Spannungen und Konflikten.

Für die Kirche in Deutschland ist die Erfahrung eines sich verschärfenden Säkularismus, ja eines zum Teil aggressiven Atheismus eine geistliche Herausforderung, auf die es zu antworten gilt. Der Prozess der gesellschaftlichen Freisetzung des Einzelnen von Vorgaben und Traditionen jedweder Art geht weiter – bei gleichzeitiger Zunahme neuer, besonders ökonomischer Zwänge, die vielen zu schaffen machen. Es wächst „das Unbehagen an der Moderne“ (Charles Taylor). Es wachsen – auch über die Grenzen der Kirche hinaus – die Sorgen, wie denn der innere Zusammenhalt der Gesellschaft auf Dauer gesichert bleiben kann.

Innerkirchlich haben sich in den letzten Jahren zunehmende Spannungen ergeben, die sich bis in den Kern unserer Gemeinden, aber auch unter Priestern und kirchlichen Mitarbeitern bemerkbar machen. Meist machen sich diese an der Frage fest, wie die Kirche auf den anhaltenden Rückgang der Priester- und Ordensberufe reagieren soll. Die Forderung nach der Ausweitung der Weihezulassung für Verheiratete und Frauen wird nachdrücklicher gestellt. Die Kirchenaustrittszahlen nehmen weiterhin zu, wobei die Gründe hierfür unterschiedlich sind. Es gelingt oft nicht, die nachfolgende Generation in das Mitleben mit der Kirche und ihren überkommenen Selbstverständlichkeiten einzubinden. Sparzwänge und deren Folgen machen sich bemerkbar. Die herkömmliche Struktur der Gemeinden wird weitmaschiger, was mancherorts viel Unmut bereitet. Mancherorts ist in den Diözesen eine resignative, ja verbitterte Grundstimmung zu beobachten. Dazu kommen Spannungen, die sich aus weltkirchlichen Vorgaben, etwa für die Zulassung zu den Sakramenten, ergeben. Viele leiden an dem öffentlichen Ansehensverlust der Kirche wegen der jetzt bekannt gewordenen Missbrauchsfälle durch Kleriker und Ordensleute. Die sexualethischen Weisungen der Kirche sind in manchen Bereichen, etwa der Empfängnisregelung, schwer vermittelbar. Manche meinen, die hierarchische Verfasstheit der Kirche selbst, die Art, wie in ihr Macht ausgeübt wird, sei eine der Ursachen ihrer Reformschwäche. Sie bemängeln das Fehlen eines offenen Dialogs auch über strittige Themen bzw. ein vorschnelles Abwiegeln solcher Fragen. Es gibt Anfragen an das überkommene Verhältnis von Staat und verfasster Kirche. Der so genannte „Dritte Weg“ im Arbeitsrecht und die Rolle der Kirche als Arbeitgeberin sind nicht unumstritten.

Wir sehen: Das ist eine Fülle von Themen und Problemanzeigen. Das alles muss besprochen, nüchtern analysiert bzw. in seiner theologischen und kirchlichen Bedeutsamkeit gewichtet und bedacht werden. Man kann sich in vielen Fragen nicht einfach auf frühere Regelungen und Selbstverständlichkeiten verlassen. Das Leben sowohl der Gesellschaft als auch das Leben der Kirche ist ständig im Fluss. So ist es auch nicht verwunderlich, dass es für manche Fragen derzeit keine konsensfähigen Antworten gibt, zumindest keine, die wir in Deutschland allein geben können.

Was bedeutet das Verblassen bzw. das Zerbröseln einer nicht mehr „christentümlichen“ Gesellschaft für unsere Kirche, für ihre Stellung in der Öffentlichkeit und den „Stil“ ihres Wirkens? Was sagt uns die Tatsache, dass sich die Bindungsfähigkeit der Menschen schwächt, besonders bei Bindungen auf Dauer, etwa bei der Übernahme einer Weiheverpflichtung oder eines Ordensgelübdes? Welche Gründe gibt es dafür? Wie gehen wir um mit dem Phänomen, dass das Durchhalten einer Ehe heute schwieriger ist als früher, trotz des guten Willens der Einzelnen? Ist die Ausweitung von Handlungsmöglichkeiten im Blick auf die Natur und das menschliche Leben in seinen Anfängen und an seinem Ende für unseren Glauben und die sittliche Bewertung mancher Entscheidungen von Bedeutung? Was zeigt sich an neuer Suche nach „Lebensfülle“ in der Gesellschaft, auch wenn dieses Suchen derzeit oft an den Kirchen vorbeigeht? Was macht die Dominanz des Ökonomischen mit uns? Was erhoffen und wie leben junge Menschen heute? Die hier nur kurz angedeuteten Fragebereiche könnten helfen, vertiefter die Wirklichkeit um uns (und unter uns) wahrzunehmen, auch wenn uns das mit manchen Ratlosigkeiten konfrontiert.

Es geht also vornehmlich um ein vertieftes „Hören“, von dem Erzbischof Zollitsch in dem genannten Referat bei der Herbstkonferenz der DBK 2010 in Fulda sprach. Wir sollten versuchen wahrzunehmen, ob in den „Zeichen der Zeit“, und zwar der gegenwärtigen Zeit, möglicherweise Hinweise des Geistes enthalten sind, die uns besser die Absichten Gottes für seine Kirche und auch für uns Gläubige erkennen lassen.

Es geht also um ein nüchternes Bedenken der Rahmenbedingungen unseres kirchlichen Lebens hier und heute. Für mich als Bischof etwa war es in den Jahren nach der friedlichen Revolution, nach Maueröffnung und gesellschaftlicher Liberalisierung wichtig, diesen Wandel als eine geistliche Herausforderung zu erkennen. Ist die Freiheit, die Gott uns zumutet, nicht auch religiös gesehen ein Geschenk, eine Herausforderung, die uns hilft, in mancher Hinsicht auch kirchlich ehrlicher zu leben? Hier gelten die programmatischen Anfangssätze der Pastoralkonstitution des 2. Vatikanischen Konzils „Gaudium et spes“, dass der Kirche die Freude und Hoffnung, die Trauer und Angst der Menschen von heute nicht fremd bleiben darf. „Es gibt nichts wahrhaft Menschliches, was nicht in den Herzen der Jünger Christi Widerhall fände.“

Das Evangelium neu in den Blick nehmen und in seinem Anspruch und seinem Zuspruch tiefer verstehen („urteilen“)

Wenn sich das Gespräch innerhalb unserer Kirche nicht in den heute meist sofort diskutierten „heißen Eisen“ (Zölibat, Priesterweihe für Frauen, Umgang mit geschieden Wiederverheirateten u. ä.) verlieren soll, bedarf es eines neuen Blicks auf die Mitte unseres Glaubens: die Verheißungen Gottes und die sich daraus ergebende Antwort der persönlichen und kirchlichen Umkehr und Erneuerungsbereitschaft. Allein vor diesem, aus dem Evangelium gewonnenen Horizont heraus, ist das Gespräch auch über strittige Einzelthemen (und manches andere mehr) zielführend. Das sollte in aller Offenheit geschehen, gegebenenfalls auch kontrovers, doch in einer Haltung des gemeinsamen Fragens nach dem Willen Gottes für uns heute, in einer Gesinnung, die Einmütigkeit anstrebt und von der Liebe zur Kirche gespeist ist.

Darum rege ich an: Es sollte alles auf den Prüfstand, was im Leben unserer Ortskirchen eine säkulare Eigendynamik entwickelt und sich von der Mitte des Evangeliums entfernt hat. „Suchet zuerst Gottes Reich [...]“ dieses Wort muss wieder einen überzeugenden Ort in der Prioritätensetzung unseres kirchlichen Handelns gewinnen. Damit meine ich durchaus keine spirituelle Lyrik. Wir brauchen in der sich verändernden Welt eine neue Verständigung über das, wozu Kirche eigentlich da ist.

Der Auftrag der Kirche ist es, Gott zum Vorschein zu bringen, nicht sich selbst. Es ist einfach falsch zu meinen, wir müssten als Kirche eine Gegengesellschaft zur Welt bilden, vielleicht noch perfekter als diese werden. Gerade diese Mentalität hat in der Vergangenheit manche strukturelle Heuchelei verursacht. Der Schein war dann wichtiger als das Sein. Die Kirche muss sich als Ferment im Ganzen verstehen, nicht als Rückzugsort für die Vollkommenen und Reinen.

Zudem gilt es den „eschatologischen Vorbehalt“ zu beherzigen, dem auch unser kirchliches Tun unterworfen ist. Wir brauchen den Mut, das auch Unvollkommene, aber in der konkreten Situation Evangeliumsgerechtere zu wagen. Hier greift das zweite Stichwort aus der genannten Rede von Erzbischof Zollitsch: Wir sind eine „pilgernde“ Kirche, eine Kirche, die unterwegs ist.

Es gilt Verkrampfungen zu lösen, die daraus entstehen, immer genau zu wissen, was „das Katholische“ ist. Dieser Drang zum „Rechthaben“ lässt uns in Parteiungen zerfallen, weil wir dann dem Geist Gottes, der uns in der Wahrheit hält, nichts mehr an Führung und Wegbegleitung in unübersichtlichem Gelände zutrauen. Die latenten und z. T. offenen Schismen in unserer Kirche (Bischöfe vs. Priester; Amtsträger vs. Gottesvolk, Konservative vs. Fortschrittler, Hauptamtliche vs. Ehrenamtliche, etc.) sind „Früchte“ des Unglaubens. Ist es wirklich unsere Aufgabe, Gott gleichsam „unter die Arme“ zu greifen, als ob er ohne uns hilflos wäre? Was soll der falsche Eifer, der so manche Gruppen im rechten oder linken Kirchenspektrum umtreibt und aufeinander einprügeln lässt? Solche Polarisierungen atmen den Geist der Welt, der alles auf die Spitze treiben will und nichts von jener anderen Vollendung weiß, um die wir im Glauben wissen.

Darüber freilich sollten wir nachdenken: Hat unsere kirchliche Durchorganisiertheit, genauer: die Erwartungen, die wir daraus ableiten, noch mit dem Evangelium zu tun? Ist ein phantasieloses Festhalten an Gewohntem und Vertrautem (Stichwort: Pastoralstrukturen) mit christlicher Hoffnung vereinbar? Ist glaubhaft, dass wir auch kirchlich in „Zelten“ leben sollten, weil die Gestalt dieser Welt (und doch wohl auch der Kirche) vergeht? Und ein ganz heißes Thema: Ist eine Diakonie, die sich gänzlich (!) von öffentlichen Geldern abhängig macht, noch Caritas Christi? Lügen wir uns nicht mit manchen kirchlichen Einrichtungen in die Tasche? Oder: Ist Kirchenzugehörigkeit auch für jene praktisch und existentiell lebbar, die nicht allen kirchlichen Erwartungen entsprechen? Oder: Warum ist hierzulande das Zeugnis für das Evangelium Nichtglaubenden gegenüber so merkwürdig verhalten und ängstlich?

Dieser Gesprächsgang wird – so vermute ich einmal – schmerzlich sein. Aber er ist bitter notwendig.

Verabredung konkreter, aber verbindlicher Schritte („handeln“)

Das Gespräch über den künftigen Weg unserer Kirche in Deutschland sollte Handlungsbereiche in den Blick nehmen, bei denen wirklich etwas gemeinsam zu bewegen ist, beispielsweise etwa folgende:

Lebensdienliche Kirche bleiben und noch mehr werden

Es ist meine Erfahrung: Dort leuchtet das Evangelium am überzeugendsten auf, wo Christen Barmherzigkeit in die Strukturen dieser Welt einbringen. Diese Aussage meint nicht, dass die Welt keine Gerechtigkeit nötig hätte. Doch braucht der Mensch mehr als Gerechtigkeit. Dort wird das Licht des Evangeliums verbreitet, wo auch die Versager, die Zu-Kurz-Gekommenen, die Fortschrittsverlierer Beachtung und Zuwendung erfahren; wo diese von anderen hören: „Du bist keine Fehlkonstruktion, sondern du bist eine Sonderanfertigung Gottes!“ (für mich, für unsere Kirche). Hier lagen und liegen übrigens die überzeugenden Stärken unserer Caritas, der verfassten und der ehrenamtlichen. Hier bewährt sich auch die Ausstrahlungskraft unserer katholischen Verbände und Gemeinschaften.

Diese „Einfärbung“ der Lebensdienlichkeit muss freilich auch die Kirche selbst durchdringen, ihre Strukturen, ihre Pastoral. Ohne Erbarmen keine Umkehr zu Gott – das ist eine bleibende Erfahrung der Seelsorgegeschichte. Hier sind Bischöfe, Seelsorger und Theologen gefordert, den auch kirchenrechtlich gegebenen Spielraum für Lösungen in besonderen Lebenssituationen auszuloten. Bloßes Verurteilen und Ausgrenzen als einzige Antwort auf heutige Lebensprobleme verdunkeln das Evangelium. Das Scheitern oder das Zurückbleiben hinter dem, wozu uns das Evangelium drängt, muss dabei nicht kaschiert oder gar zur Normalität erklärt werden. Einem Kranken ist nicht geholfen, wenn man seine Not bagatellisiert. Doch sollte gelten: Auch der Gescheiterte kann sich auf Christus hin in Bewegung setzen, wenn auch manchmal nur auf Krücken.

Hier geht es also um das dritte Stichwort in der Rede von Erzbischof Zollitsch: Die Kirche ist am meisten bei sich selbst und ihrem ureigensten Auftrag, wenn sie „dient“. Dienende Kirche sind wir gottlob schon auf vielfältigste Weise, öffentlich und verborgen, als Einzelne und gemeinschaftlich, auch in der Seelsorge, in der Begleitung, im Angebot des Bußsakraments. Wir fangen mit der im kirchlichen Innenraum geübten Barmherzigkeit nicht beim Nullpunkt an. Freilich: Wie sieht heute konkret Barmherzigkeit aus? Wissen wir das wirklich? Gerade nichtprofessionelle „Barmherzigkeitsdienste“ werden künftig noch mehr gefragt sein. Es lohnt sich, darüber zu reden. In einem Beitrag vom 18. Juni 2010 im „Rheinischen Merkur“, der die Vision einer den Menschen dienenden Kirche in den Blick nahm, habe ich diese Frage noch einmal aufgeworfen. Ich hatte dabei auf die Werke der Barmherzigkeit verwiesen, die wir im Elisabethjahr 2007 „auf thüringisch“ neu durchbuchstabiert hatten. Das Echo darauf hat mir gezeigt, wie sehr sich Menschen davon ansprechen lassen.

Als Seelsorger kann ich durchaus die oft komplizierten Lebenssituationen der Menschen würdigen und in meinem Handeln berücksichtigen. Im Umgang mit konkreten Lebenssituationen könnte unsere Kirche vom ostkirchlichen „Ökonomie-Prinzip“1 lernen, auch wenn wir wissen, dass damit nicht alle Probleme gelöst sind. Unsere Seelsorge kann helfen, Menschen auf Christus hin in Bewegung zu bringen. Wir brauchen noch stärker eine Pastoral, die gestuft der Situation der Menschen in ihren Unterschiedlichkeiten Rechnung trägt, auch der Tatsache, dass Menschen scheitern können.

In unserer praktischen Diakonie tun wir das. Deswegen sind wir dort überzeugend und finden Vertrauen. Das sollte für uns eine Herausforderung sein. Warum nur leibliche Diakonie und nicht auch pastorale? Wenn das Erbarmen die Grundsignatur des Evangeliums ist, dann sind Caritas und Pastoral Geschwister im Geist. Es gibt „Sakramente“, die vor den Kirchentüren gespendet werden, wie Hans Urs von Balthasar formuliert hat. Nach Christus hungern mehr Menschen als nur jene, die unseren kirchlichen Normen entsprechen.

Nur eine, mir freilich wichtige, Nebenbemerkung: Wir spüren, dass sich die Sozialgestalt des Kirchlichen in der Gesellschaft langsam wandelt. Die bislang tragende pfarrliche Seelsorgestruktur dünnt sich aus. Sie wird gleichsam weitmaschiger. Sie entspricht zudem oft nicht mehr einer mobil gewordenen Welt, in der Menschen, besonders junge Menschen, sich anders verorten als früher.

Ich möchte einmal folgendes Bild gebrauchen: Wenn sich der Aggregatzustand eines Elementes verändert, also z. B. Wasser verdunstet, verliert sich dieses Element nicht. Es bleibt vorhanden. Und es ist zu erwarten, dass es sich in absehbarer Zeit neu „kondensiert“, in einer neuen Gestalt sich zurückmeldet. Das, was unsere herkömmlichen Gemeinden religiös getragen hat, scheint derzeit zu verdunsten. Aber ist dann wirklich weg, was an Verlangen nach Gemeinschaft, nach Verlässlichkeit, nach Angenommen-Werden, nach der Möglichkeit, wirklich Anbetungswürdiges anbeten zu können, bislang vorhanden war? Ich meine: Nein. Aber diese tragenden Grundkomponenten einer christlich-religiösen Existenz werden sich in einem anderen, veränderten „Aggregatzustand“ bemerkbar machen. Sie werden nach neuen Ausdrucksformen suchen. Hie und da kann man das schon wachsen sehen.

Hier tun sich also neue Türen auf. Ich mache es an dieser Beobachtung fest: Manche kirchlichen Einrichtungen, besonders auch solche sozialer Art, erreichen täglich viele Menschen, darunter auch nichtkirchliche Menschen. Ich denke an unsere Kindergärten, aber auch Schulen, Betreuungs- und Beratungseinrichtungen. Immer hängen an solchen Einrichtungen und Häusern auch Angehörige und Besucher, die solche „Brücken“ zur Kirche hin eher betreten als Kirchen und Pfarrhäuser. Wie können wir das stark machen, worin Kirche heute als „lebensdienlich“ erfahren wird? Die Deutsche Post z. B. scheut sich nicht, postalische Dienstleistungen in Lebensmittel-Discountern anzubieten. Es macht mich nachdenklich, was in der säkularen Gesellschaft an Beweglichkeit dieser Art zu beobachten ist. Sind wir kirchlich noch zu phantasielos? Ist unsere Pastoral noch zu sehr von der Vergangenheit fixiert?

Das Handeln von Laien in der Kirche fördern und profilieren

Ich schlage vor, den Ausbau und die „Ermächtigung“ laikaler Beauftragungen und Dienste weiter voranzubringen. Wenn das Weiheamt bei seinen spezifischen Diensten bleiben soll, wird den Getauften und Gefirmten vermehrt neue, eigenständige, aber nicht unbegleitete Verantwortung in der Verkündigung, der Liturgie, der Leitung und „ekklesialen Vernetzung“ zuwachsen.

Ich weiß um die Unersetzbarkeit des Weiheamtes. Aber diese Unersetzbarkeit darf sich nicht so absolut setzen, als ob ohne das Weiheamt vor Ort Glaube, Hoffnung und Liebe unmöglich würden. Das demütige Selbstbewusstsein aller Getauften und Gefirmten sollte gestärkt werden. Das wird auf Dauer auch positive Auswirkungen haben für ein neu akzentuiertes Dienstprofil der weniger werdenden Kleriker. Wir haben mehr und mehr Gläubige, die in Glaubensdingen wieder neu für andere auskunftswillig und auskunftsfähig sind. Das macht mich zuversichtlich für die Kirche von morgen – übrigens auch für die Weckung geistlicher Berufungen.

Hier gälte es Strategien der Weckung, der Akzeptanz und der Vernetzung solcher Kompetenzen zu entwickeln. Die Kirche morgen wird sich weniger auf Institutionen verlassen können, sondern sich mehr durch Gesichter ausweisen. Es muss sich noch mehr herumsprechen, dass wir die Sakramente nicht allein für uns selbst empfangen. Getauft- und Gefirmt-Sein ist immer auch Beauftragung für die Glaubensstärkung anderer.

Wie sehen heutige Formen an verbindlicher, vielleicht zeitlich begrenzter Laienermächtigung („Beauftragungen“) aus, auch in der Pastoral? Was bewirkt Freude am Mitmachen? Was stärkt in übernommener Eigenverantwortung? Manche Möglichkeiten neuer kirchlicher Communio-Formen sind noch lange nicht ausprobiert. Ich sehe vieles wachsen, was nach Ermunterung, Begleitung (vermutlich auch nach Korrektur) ruft. Auch hier wäre von Formen heutigen bürgerschaftlichen Engagements zu lernen.

Auf kirchliche „Leuchttürme“ setzen

In größeren Räumen sind „Leuchttürme“, die orientieren, unersetzlich. Die Kirche in Deutschland, ein Bistum, eine Region sollte überlegen, was für sie solche „Leuchttürme“ sein können und deswegen gestärkt werden müssen. Anzusetzen wäre dort, wo Menschen etwas als für sich wichtig erfahren: Wallfahrten, bistumsweite Initiativen, herausragende kirchliche „Orte“ mit Ausstrahlung, nicht zuletzt durch eine Präsenz von Menschen, die „Türen“ offen halten. Manche Ordenshäuser sind kostbare Anlaufstellen für den geistig vagabundierenden Zeitgenossen. Nicht die Vielzahl, sondern die Qualität wäre entscheidend. Was sich als wertvoll ausweist, zieht von allein an. Mir ist deutlich: Es gibt mehr „Gottesfürchtige” und am Glauben Interessierte als wir manchmal vermuten. Nicht der sich säuberlich abschließende Kokon ist Grundfigur von Kirche, sondern das Netzwerk, in das man sich einklinken und mit Eigenem einbringen kann.

Was hieße das konkret? Für das Gespräch mit der säkularen Gesellschaft? Für den Stil kirchlicher Präsenz in den Medien? Für die Bündelung von Kräften im Hochschul- und Ausbildungsbereich? Wir schieben oft genug noch anstehende Entscheidungen vor uns her und vergeben so Chancen. Unsere Bistümer, besonders in der Diaspora werden „Missionskirchen neueren Typs“ sein, die nicht flächendeckend, aber mit Anlauf- und Kontaktstellen zur Gesellschaft hin arbeiten müssen. Für neue Formen des Kirche-Seins kommt uns eine neue Beweglichkeit vieler Menschen entgegen. Generell gilt: Nicht unser Kleiner-Werden ist das Problem, sondern eher eine mentale Selbstmarginalisierung, für die es eigentlich keinen Grund gibt. Hier wäre manches von Minderheitskirchen anderswo zu lernen, zumindest was Selbstbewusstsein und spirituelle Ausstrahlung betrifft.

Demütiger werden

Bei diesem Punkt tue ich mich schwer, in Worte zu fassen, was ich derzeit empfinde. Ich sage es einmal so: Wir sollten als Bischöfe, von Amts wegen und auch ganz persönlich, demütiger werden. Wir müssen von allen falschen „Sockeln“ herabsteigen. Unsere Gewissheiten sollten bescheidener daherkommen, im Wissen um Fragwürdigkeiten, die bei manchen Problemfeldern trotz allem bleiben. Bei strittigen Themen sollten wir miteinander die kirchliche Lehre bedenken, deren Begründungen neu in den Blick nehmen und fragen, was das heute für uns bedeutet. Dabei müssen wir vermutlich auch aushalten, untereinander bei nachgeordneten Fragen nicht immer einer Meinung zu sein. Dort, wo wir als Kirche in Deutschland Rom gegenüber Anliegen haben, sollten wir diese klar und öffentlich benennen. Nicht jeder diesbezügliche Dissens muss sofort ein Dissens im gemeinsamen Glauben oder in der Einheit mit dem Papst als Petrusnachfolger sein.

Ich habe immer wieder angeregt, dass wir als Bischöfe mit mancher medialen Präsenz und der Zahl unserer Verlautbarungen zurückhaltender sein sollten. Weniger könnte manchmal mehr sein. Wichtiger wäre, dass wir kirchenoffiziell selbst Themen setzen und uns dort zurücknehmen, wo man uns vorführen will.

Schließlich gilt es für uns als kirchliche Amtsträger immer neu das Verhältnis zu den Laienchristen zu überdenken. Wir sollten Zeichen setzen, dass wir auf den Glaubenssinn und die Kompetenz unserer Laienchristen vertrauen. Nicht nur die Schrift, die Tradition, das Lehramt der Kirche sind Bezeugungsinstanzen des Glaubens. Auch der Glaubenssinn des Volkes Gottes hat etwas mit der Bezeugung des Evangeliums zu tun. Auch bei gelegentlichen Konflikten muss erkennbar bleiben, dass Bischöfe mehr anzuerkennen als zu kritisieren haben. Die „christifideles“ sind es, die in Welt und Kirche (!) das Licht des Evangeliums auf den Leuchter zu stellen haben und es auch stellen. Wir Amtsträger, einschließlich Bischöfe, haben ihnen dabei durch unseren Dienst (mit Wort und Sakrament und der sachgerechten Darlegung der kirchlichen Lehre) beizustehen. Aber an der „Front“ dieser Zeit stehen sie, weniger wir.

Und schließlich liegt mir auch dieser Gesichtspunkt am Herzen, vielleicht ist er sogar der entscheidende:

Den „geistlichen Grundwasserspiegel“ heben

Das Christliche wird sich in Zukunft stärker qualitativ präsentieren und weniger quantitativ. Auch heute gilt das Wort: „Der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts“ (Joh 6,63). Es braucht in einer sich ins Subjektive und Beliebige weiter verlierenden Moderne eine Spiritualität, die dem einzelnen Christen Stehvermögen verleiht und ihm hilft, sich dem anderen gegenüber zu öffnen. Wo kann man diese lernen, vor allem gemeinschaftlich lernen?

Zudem scheint es auch einen Frömmigkeitsstil zu geben, der mit den geistigen und intellektuellen Fragestellungen der Zeit korrespondiert. John Henry Newman etwa war ohne Zweifel bis in seine innerste Existenz hinein ein frommer Mann. Nicht umsonst ist er jüngst selig gesprochen worden. Aber er war zugleich ein fragender, suchender Mensch, der sich mit vorschnellen Antworten und gestanzten Klischees von katholischer Kirchlichkeit nicht zufrieden gab. Was zeichnet heute menschenfreundliches, profiliertes Christ-Sein aus? Wie sieht „Glaubwürdigkeit“ aus, die sich dem Evangelium verpflichtet weiß? Was bedeutet das für unseren Umgang miteinander, in der Ökumene, im Gespräch mit der Gesellschaft?

Christen, die sich mit ihrem Leben im Gottesgeheimnis verwurzeln, bleiben für die Leute immer interessant. Dass dies so ist, darauf gründet meine Hoffnung – auch für unsere Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, die in ein neues Jahrhundert hinein unterwegs ist.

Der Aufsatz geht auf einen Vortrag zurück, den Bischof Dr. Joachim Wanke am 30. November 2010 in der Katholischen Akademie Berlin gehalten hat.

1 Die Orthodoxie unterscheidet ein Handeln kat´akribeian (gemäß „Genauigkeit“, also genaunach Vorschrift) und ein Handeln kat´ oikonomian (gemäß Barmherzigkeit, also der Einzelsituation angemessen). Die lateinische Kirche kennt die Praxis der Dispens in Einzelfällen.

Den österlichen Mehrwert im Blick

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