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Die Neandertaler und ihre Zeit
ОглавлениеKomplexe Umwelt im Eiszeitalter
Populationen des späten Homo erectus hatten vor etwa 300.000 Jahren weite Teile Afrikas, Europas und Asiens besiedelt. Aus den tropischen und subtropischen Klimazonen heraus waren sie erstmals vor 1,8 Millionen Jahren nach Norden bis in winterkalte Klimaräume vorgestoßen. Unklar ist, wie viele Wanderungsbewegungen auf den ersten Auszug aus Afrika erfolgten. Je höher die Anzahl dieser Auswanderungen war, desto höher war der Genfluss zwischen den verschiedenen Populationen. Diese Frage ist entscheidend für die Modellbildung, da die klassifikatorische Bedeutung der verschiedenen morphologischen Formen des Homo erectus auf den drei Kontinenten kontrovers diskutiert wird. Bei einem Anstieg des Genflusses zwischen den Kontinenten sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass die verschiedenen Formen des Homo erectus auf den drei Kontinenten als Arten im biologischen Sinne interpretiert werden können. Das komplexe Umweltgeschehen im Eiszeitalter mit seinen sehr grossen Klimaschwankungen hatte sicher den größten Einfluss auf die demographischen Prozesse der frühen menschlichen Populationen. Die große Dramatik des pleistozänen Klimageschehens, die in nördlichen Breiten durch Kälte und in südlichen Breiten durch Trockenheit gekennzeichnet war, spricht für regelmäßig wiederkehrende Wanderbewegungen sowohl innerhalb Afrikas als auch von Afrika aus nach Europa und Asien.
Die sehr unterschiedliche Forschungsgeschichte und Forschungsintensität auf den drei Kontinenten führt zu einer starken Verzerrung unserer Perspektive. Afrika ist heute auf Grund eines sehr überzeugenden Datenbestandes aus der ältesten Phase der Humanevolution als Wiege der Menschheit anerkannt (s. Beitrag „Afrika – Ein Kontinent im backwater der Geschichte?“). Die Beurteilung der jüngeren Entwicklungsphasen der Menschen im Pleistozän ist aber eurozentrisch geprägt, denn weder in Afrika noch in Asien steht ein Datenbestand zur Verfügung, der mit dem europäischen vergleichbar wäre. Die enormen Größenunterschiede der geographischen Räume sind ein weiteres Problem. Innerhalb Afrikas mit seiner ohnehin schon sehr schmalen Datenbasis müssen noch kulturelle Unterschiede zwischen Nordafrika, das enge Verbindungen zu Europa aufweist, und dem subsaharischen Afrika berücksichtigt werden. Aus Asien liegen nur sehr punktuell Daten vor. Dieser kritische Blick auf die Quellen ist erforderlich, um einer gedanklichen Umkehrung von Zentrum und Peripherie entgegenzuwirken. Afrika war im Pleistozän das Zentrum des menschlichen Geschehens. Europa und Mittelasien waren nur Randbereiche der menschlichen Oikumene.
Technisches Wissen des Homo erectus
Bei ihren Vorstößen nach Europa und Asien konnten die Populationen des Homo erectus auf ein umfangreiches technisches Wissen zurückgreifen. Ein Teil davon wurde sicher erst in der Auseinandersetzung mit den neuen Lebensräumen entwickelt. Die Nutzung des Feuers und eine exzellente Werkzeugtechnologie, mit der alle möglichen organischen Werkstoffe bearbeitet werden konnten, waren von entscheidender Bedeutung. Neben der Herstellung komplexer Steingeräte muss die Bearbeitung weicher organischer Rohmaterialien, insbesondere von Holz, eine zentrale Bedeutung gehabt haben. Ihre Erhaltung ist im archäologischen Kontext allerdings nur unter ganz außergewöhnlichen Sedimentationsbedingungen möglich. Daher fehlen uns an über 99% der überlieferten Fundstellen aus dem späten Altpaläolithikum und dem folgenden Mittelpaläolithikum Hölzer. Von weichen organischen Materialien wie Fell oder Leder ist bisher überhaupt keine Erhaltung belegt. Allerdings müssen wir auf Grund der klimatischen Bedingungen in den winterkalten Zonen Europas und Asiens davon ausgehen, dass Kleidung und Behausungen aus organischem Material als artifizielle Membranen das Individuum und die Gruppe schützend umgaben. Diese kulturellen Membranen waren zwar noch sehr durchlässig, konnten aber den direkten Einfluss der natürlichen Umwelt deutlich abschwächen und die wärmende Kraft des Feuers in den von ihnen umschlossenen Räumen potenzieren.
Sprache
Ohne eine entwickelte Sprache ist das Überleben früher Menschen in den nördlichen Breiten nicht denkbar (s. Beitrag „Herausbildung und Konsolidierung der Sprachen“). Da Sprache keine direkten Spuren am Skelett oder in der Sachkultur hinterlässt, kann nur indirekt auf den Zeitpunkt des Spracherwerbs geschlossen werden. Wichtige Hinweise liefert hierbei die Komplexität der Werkzeuge. Die Herstellung eines fein gearbeiteten Faustkeils aus dem späten Altpaläolithikum oder dem Mittelpaläolithikum erfordert fünfzig bis zweihundert kontrollierte Schläge. Schlagpunkt, Winkel und Kraft müssen jeweils genau stimmen. Auch die Fertigung einer Holzlanze ist auf Grund der verschiedenen Arbeitsprozesse und dem technischen Vorwissen über die Materialqualität und die Materialeigenschaften ein hoch komplexer Vorgang, dessen Erlernen durch bloße Imitation nicht möglich ist. Nur eine sprachliche Unterweisung konnte die Tradierung dieses Wissens sicherstellen. Die Jagd mit Holzlanzen auf Großwild wie Elefanten oder Wisente war für den Menschen lebensgefährlich, denn in seiner biologischen Grundausstattung war die Jagd nicht vorgesehen. Das Jagen haben Menschen im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte kulturell erlernt und ihre biologischen Grenzen damit überschritten. Um diese neue Kulturtechnik erfolgreich einsetzen zu können, mussten Jäger des Homo erectus sich zu Gruppen zusammenschließen und ihr Vorgehen koordinieren. Systematische Großwildjagd war ohne Sprache nicht möglich.
Herstellung von Steinwerkzeugen
Die Herstellung von Steinwerkzeugen erforderte eine besondere Beweglichkeit und Steuerung der Hand, die in enger Wechselwirkung zum Gehirn steht – gilt die Hand doch als „äußeres Gehirn“ des Menschen. Das Gehirn macht heute etwa 2 % unseres Körpergewichtes aus, verbraucht aber 20 % unserer Körperenergie. Dieses überaus kostspielige Organ ist für den Erfolg des Menschen vor allem verantwortlich. Denn nach biologischen Maßstäben verlief das Gehirnwachstum rasant. Von den Australopithecinen bis zum Homo erectus hatte sich das Gehirnvolumen in 2 Millionen Jahren mehr als verdoppelt. Bereits bei Homo erectus erreichte es eine beträchtliche Schnittmenge zum Gehirnvolumen heutiger Menschen. Alle genannten indirekten Hinweise sprechen für die Sprachfähigkeit des Homo erectus. In dieselbe Richtung deuten paläogenetische Daten, die eine frühe Entwicklung der Sprache im Laufe der Humanevolution nahe legen.
Während in Europa Fundplätze von Populationen des Homo erectus nördlich der großen Gebirgsketten bis zum 51. Breitengrad nachgewiesen sind, reicht ihre Verbreitung in China bis maximal zum 40. Breitengrad. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kann davon ausgegangen werden, dass es sich zunächst nicht um eine dauerhafte menschliche Besiedlung in diesen Breiten handelte. Denn Europa und Nordchina waren nördliche Grenzbereiche der menschlichen Besiedlung – Risikolebensräume, die nur in günstigen Klimaphasen besiedelt werden konnten. Starke klimatische Schwankungen haben in Europa regelmäßig die Grenze der menschlichen Besiedlung in den mediterranen Bereich zurückgedrängt und wahrscheinlich zum Aussterben menschlicher Populationen geführt. Dieser klimagesteuerte Mechanismus kann für die Großsäugerfaunen in Europa sehr gut belegt werden.
Homo neanderthalensis
In dem Risikolebensraum Europa entwickelte sich aus späten Formen des Homo erectus vor etwa 300.000 Jahren der Homo neanderthalensis. Der Neandertalerfund war forschungs- und ideengeschichtlich ein Wendepunkt. Er hat unsere Sicht auf die gesamte Frühzeit des Menschen bis zum heutigen Tag in entscheidender Weise geprägt. Seine Entdeckung im Jahr 1856 markiert den Beginn der paläoanthropologischen Forschung und den endgültigen Aufbruch Europas in das wissenschaftliche Zeitalter. Die sechzehn Knochenreste aus der Feldhofer Grotte im Neandertal waren der Anlass, dass Menschen zu Anthropologen wurden und begannen, sich auf ihren eigenen Spuren zurückzutasten, um ihre Ursprünge zu erkunden. Nachdem Charles Darwin drei Jahre nach der Entdeckung des Neandertalers seine Evolutionstheorie der Öffentlichkeit präsentierte, war schlagartig klar, dass die Geschichte des Menschen weit über die Vorstellungen des biblischen Schöpfungsmythos zurückreicht. Die Zeit wurde aus dem Kreislauf des göttlichen Systems befreit und zu einem Geschoss, das immer tiefer in die Vergangenheit eindrang und alle bekannten chronologischen Vorstellungen sprengte.
Paläoanthropologische Forschung
Der Neandertaler war der erste fossile Beleg für die Abgründe der Zeit und für die Wandelbarkeit des Menschseins. Seine weltweite Berühmtheit verwandelte ihn zu einer Urzeitikone. Deren Rezeptionsgeschichte ist von Irrtümern und weltanschaulichen Vorurteilen geprägt, vor allem von den kolonialen Erfahrungen der Europäer im 18. und 19. Jahrhundert auf anderen Kontinenten mit anderen Völkern. Diese Begegnungen waren für den durchschnittlichen Abendländer schockierend und gaben der Variabilität des Menschseins eine ganz neue Dimension, die nur zögernd angenommen wurde. Die ethnographischen Erfahrungen vermischten sich mit dem uralten abendländischen Mythos vom „Wilden Mann“, der erheblich älter ist als das wissenschaftliche Denken. Beide Erfahrungen zusammen erlaubten am Beginn der paläoanthropologischen Forschung nur einen verzerrten Blick auf das Phänomen „Neandertaler“, der erst allmählich klarer wurde. Die Diskussionen über den Status des Neandertalers sind in den Humanwissenschaften weiterhin kontrovers. Geht es doch um weit mehr als nur den Abgleich wissenschaftlicher Daten. Es geht darum, unseren Ursprung zu erklären und unser Selbstbildnis zu definieren.
Hauptunterschiede im Schädelbereich
Die Anatomie der Neandertaler unterscheidet sich von der unsrigen und kann heute an mehr als dreihundert fossilen Individuen untersucht werden. Diese scheinbar große Zahl darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten Individuen nur durch wenige Skelettfragmente repräsentiert sind – im ungünstigsten Fall nur durch einen Zahn. Die relativ hohe Funddichte macht Neandertaler bei aller Lückenhaftigkeit zu der am besten beschriebenen fossilen Menschenform. Die Hauptunterschiede zwischen Neandertalern und anatomisch modernen Menschen finden sich im Schädelbereich. Dazu kommt ein sehr robuster Körperbau der Neandertaler. Die Langknochen der Arme und Beine sind kürzer als beim anatomisch modernen Menschen, die Knochendicke ist höher, und die Muskelansätze sind kräftiger. Innerhalb der vorhandenen Funde, die von Westeuropa bis nach Westasien reichen, zeigen sich allerdings deutliche Unterschiede. Die Neandertalerfunde aus Israel und dem Irak weisen eine größere Körperhöhe von 1,60 bis 1,80 m auf, und die typischen Neandertalermerkmale im Schädelbereich sind weniger stark ausgeprägt als bei ihren westeuropäischen Verwandten, die nur eine Körperhöhe von 1,55 bis 1,65 m erreichen. Diese Körperhöhe entspricht aber im langfristigen Vergleich der letzen 10.000 Jahre durchaus dem statistischen Mittel beim modernen Menschen.
Neandertalerschädel sind spitzgesichtig, da keine Wangengruben vorhanden sind. Die Nasenöffnung ist sehr groß und lässt auf große und lange Nasen schließen. Die größte Breite des Schädels liegt etwa auf Höhe der Ohren und nicht in der Höhe der Scheitelbeine wie beim anatomisch modernen Menschen. Der Schädel ist etwas flacher mit einer relativ flachen Stirn und einem ausgestellten Hinterhauptbein, so dass in der Seitenansicht eine lang gestreckte Schädelform entsteht. Typisch sind auch eine Lücke hinter den letzten Backenzähnen im Unterkiefer sowie ein fliehendes oder gerades Kinn. Ein nach vorne ragendes positives Kinn wie beim anatomisch modernen Menschen ist bisher nicht belegt. Ein Markenzeichen des Neandertalers sind seine starken Überaugenwülste, die über der Nasenwurzel durchlaufen und sich auch dem Laien sofort einprägen. Auf Grund der etwas anderen Proportionen ist der Schädel der Neandertaler größer und weist ein um ca. 150 cm3 höheres Gehirnvolumen im Vergleich zum anatomisch modernen Menschen auf.
Homo neanderthalensis. Vor etwa 40.000 bis 70.000 Jahren
Proto-Neandertaler
Die Ursachen für diese Morphologie sind auch nach mehr als 150 Jahren paläoanthropologischer Forschung ungeklärt. Lange Zeit wurde vermutet, der Körperbau sei eine Anpassung an das kalte Klima. Sicher ist die morphologische Entwicklung der Neandertaler ein länger andauernder Prozess, allerdings ergeben die überlieferten Humanfossilien kein klares Bild. Die späten Homoerectus-Formen in Europa um 300.000 Jahre vor heute werden als Ante-Neandertaler bezeichnet. Humanfossilien aus dem Zeitraum zwischen 200.000 und 100.000 Jahren vor heute werden als Proto-Neandertaler bezeichnet. Klassische Neandertaler sind erst ab der letzen Warmzeit, dem Eem, belegt. Humanfossilien sowohl von Ante-Neandertalern als auch von Proto-Neandertalern sind selten. Erst mit dem klassischen Neandertaler verfügen wir über eine größere Datenbasis von Westeuropa bis nach Westasien. Die morphologische Entwicklung der Neandertaler kann auch das Ergebnis einer Zufallsentwicklung ohne selektiven Vorteil gewesen sein, die sich auf Grund von Gendrift und einem immer wiederkehrenden Aussterben von Teilen der europäischen Populationen ergab.
Expansion der Neandertaler
Zweifellos ist der Neandertaler ein eigenständiger europäischer Beitrag zur Humanevolution. Sein Kerngebiet umfasste weite Teile Europas, wobei sein Verbreitungsgebiet im Norden nur bis zum 52. Breitengrad reichte. Im Süden lief die Verbreitungsgrenze entlang der Mittelmeerküste. Aus diesem Entstehungsgebiet erfolgte eine Expansion der Neandertalerpopulation nach West- und Südwestasien. Ihr östlichster Verbreitungspunkt liegt heute im Altai-Gebirge in Südsibirien, ebenfalls etwa in Höhe des 52. Breitengrades. Diese Expansion der Neandertaler in ihrer Spätphase ist ein klares Zeichen für ihre erfolgreiche Anpassung an die Lebensbedingungen am nördlichen Rand des menschlichen Verbreitungsgebietes.
Lebensformen
Neandertaler lebten wie ihre Vorgänger vom Typ des Homo erectus als Jäger und Sammler in unterschiedlichen Habitaten. In kleinen Gruppen bewegten sie sich in ihren Schweifgebieten. Sie wechselten mehrmals im Jahr den Lagerplatz, um die natürlichen Ressourcen, entsprechend der jeweiligen Jahreszeit, optimal nutzen zu können. Diese Lebensform hatte sich über 2 Millionen Jahre hinweg als überaus erfolgreich erwiesen und war der Schlüssel für die erfolgreiche Etablierung des Menschen im Ökosystem der Erde. Das Jagen und Sammeln wurde im Laufe der Humanevolution durch vermehrten Werkzeugeinsatz und die Zunahme des Wissens über die ökologischen Zusammenhänge des jeweiligen Lebensraumes weiterentwickelt. Durch diese Kombination gelang es dem Neandertaler, als erste Menschenform in winterkalten Klimaräumen am Rande der Oikumene dauerhaft zu siedeln.
Archäologische Quellen
Wir kennen inzwischen Hunderte von Lagerplätzen der Neandertaler, die Einblick in ihre Lebensweise ermöglichen. Dabei ist zu beachten, dass die Höhle nur einer von vielen potentiellen Lagerplätzen der Neandertaler war. Das gängige Bild des Höhlenmenschen ist ein forschungsgeschichtliches Konstrukt. Höhlen waren natürliche Refugien, die von Menschen und Tieren immer wieder aufgesucht wurden und heute noch werden. Sie sind vor allem Sedimentfallen, in denen sich die Spuren vergangener Epochen viel besser erhalten haben als im Freiland, wo Lagerplatzreste schutzlos der Zerstörung durch Erosion ausgesetzt waren oder durch Sedimentationsereignisse begraben wurden. Höhlen haben einen weiteren Vorteil: Sie können von Archäologen zielgerichtet prospektiert werden und weisen häufig lange Stratigraphien auf. Auf Grund dieser Besonderheiten wurden sie zu den zentralen Archiven der archäologischen Forschung. Diese methodische Vorgabe hat entscheidend zu der landläufigen Vorstellung vom Urmenschen als Höhlenbewohner beigetragen. Wir kennen inzwischen so viele Fundplätze aus dem Freiland, dass Lagerplätze in der offenen Landschaft als der Normalfall angesehen werden können. Neben Behausungsgrundrissen und Feuerstellen sind es die Reste der Jagdbeute und vor allem Steinwerkzeuge, die als archäologische Quellen genutzt werden können. Auf der Basis der Steingeräteinventare wird die chronologische Unterteilung des Paläolithikums vorgenommen. Die Welt der Neandertaler wird dem Mittelpaläolithikum zugeordnet.
Die Grenze zwischen dem Alt- und Mittelpaläolithikum ist innerhalb der Paläolithforschung nicht eindeutig definiert, wird in der Regel aber bei etwa 300.000 Jahren vor heute gezogen. Mittelpaläolithische Geräteinventare sind aus Europa, Westasien und Nordafrika belegt. Typisch ist, dass mit dem Beginn des Mittelpaläolithikums erstmals standardisierte Grundformen auftreten. Die Präparationstechnik der Kerne, von denen die Grundformen durch Schlag abgetrennt wurden, war so weit entwickelt, dass über klar definierte und regelmäßig auftretende Abbaukonzepte die Form der Abschlagprodukte vorherbestimmt werden konnte. So entstand ein Set von definierten Grundformen, die durch weitere Überarbeitung in ihre endgültige Form gebracht werden konnten. Verschiedene Schabertypen, Spitzen und Messer gehörten zum Geräteset des Mittelpaläolithikums. Mehrere regelmäßig anzutreffende Abbautechniken wurden entwickelt, deren bekannteste die Levallois-Methode ist. Sie hatten bis zum Ende des Mittelpaläolithikums Bestand und treten in wechselnder Konstellation in den Steingeräteinventaren der Fundplätze auf. Im späten Mittelpaläolithikum lassen sich erstmals im Paläolithikum anhand der Steingeräteinventare regionale technologische Traditionen erkennen, die dem Moustérien und dem Micoquien zugewiesen werden.
Material der Steinwerkzeuge
Ausgangsmaterial der Steinwerkzeuge waren verschiedene Silex-Varietäten, die im Verbreitungsgebiet natürlicherweise vorkamen. Unter dem Sammelbegriff Silex werden spaltbare, kryptokristalline Gesteine unterschiedlichen geologischen Ursprungs zusammengefasst. Das Silex-Rohmaterial stammte im Mittelpaläolithikum in der Regel aus Aufschlüssen, die weniger als 50 km vom jeweiligen Lagerplatz entfernt liegen. Allerdings sind auch deutlich weitere Distanzen belegt, die in seltenen Fällen über 100 km betragen können und eine erhebliche Ausweitung der Schweifgebiete gegenüber dem Altpaläolithikum erkennen lassen. An den Aufschlüssen mussten Knollen gesammelt und auf ihre Brauchbarkeit getestet werden. Die für gut Befundenen wurden in den Lagerplatz gebracht und dort nach einem ausgeklügelten Präparationsschema weiterverarbeitet. Die Grundformen konnten entweder ohne weitere Bearbeitung oder nach Zurichtung der Kanten in Holzschäfte eingesetzt werden. Sie konnten aber auch mit der bloßen Hand geführt werden.
Mehrteilige Geräte
Neben Silex wurde sicher Holz als Werkstoff verwendet. Dessen Nutzung wird durch den Fund von Lehringen, Niedersachsen, aus der letzten Warmzeit belegt. Unter dem Skelett eines Waldelefanten konnte im Uferbereich eines ehemaligen Sees eine Eibenholzlanze geborgen werden, die zur Jagd auf den Elefanten eingesetzt worden war. An der Lanze lässt sich die ausgezeichnete Materialkenntnis und Bearbeitungstechnik der Neandertaler ablesen. Die Lanze ist einteilig und ohne Steinspitze. Dass Neandertaler auch mehrteilige Werkzeuge hergestellt haben, ist durch den Nachweis von Speeren mit Steinspitzen an dem Fundort Umm-el Tlel, Syrien, belegt. Hier steckten, eingeschlossen in den Halswirbel eines bei der Jagd getöteten Wildesels, Reste einer Levallois-Spitze. Klebematerial, mit deren Hilfe Steineinsätze in Holzschäften befestigt wurden, sind aus Königsaue, Thüringen, und Gröbern, Sachsen-Anhalt, sowie aus Hummal, Syrien, belegt. Die Birkenpechreste aus Königsaue sind ein deutlicher Hinweis darauf, dass Neandertaler in der Lage waren, technisch sehr aufwendige Verfahren wie die Herstellung von Birkenpech, das eine genaue Temperaturkontrolle erfordert, zu beherrschen.
Das Fehlen der Holzteile ist ein grundsätzliches Problem bei der Beurteilung der mittelpaläolithischen Werkzeugtechnologie. Die zu Millionen erhaltenen Steingeräte sind nur der harte Kern des größtenteils vergangenen, viel umfangreicheren Werkzeugensembles. Den gesamten Bestand von Geräten aus organischem Material können wir nur erahnen. Neben dem Rohmaterial Holz gehörten hierzu wahrscheinlich Rinde, Bast, Gräser, Rohrkolben, Sehnen, Leder, Fell und Federn, aus denen Behälter, Körbe, Beutel, Netze, Schnüre, Bekleidung, Zeltabdeckungen und andere Gegenstände des täglichen Lebens hergestellt werden konnten. Werkzeuge aus harten organischen Werkstoffen wie Knochen oder Geweih, die bessere Erhaltungschancen haben, wurden im Mittelpaläolithikum nur in geringem Umfang genutzt. Aus Salzgitter-Lebenstedt liegen Beispiele von Knochenwerkzeugen vor. Vor allem Rippen und Wadenbeine des Mammuts dienten hier als Ausgangsmaterial. Diese langen, kompakten Knochen wurden durch Schliff und Spaltung so zugerichtet, dass Arbeitsenden entstanden. Auch aus zahlreichen spanischen Fundplätzen liegen einfach bearbeitete Knochen- und Geweihgeräte vor. Die genaue Funktion dieser Knochenwerkzeuge ist unbekannt.
Kleine Schmuckobjekte
Zu den seltenen Funden in den Lagerplätzen gehören kleine Schmuckobjekte wie durchbohrte Zähne vom Wolf oder dem Rentier oder auch Knochen mit Ritzungen und Durchbohrungen. Objekte, die möglicherweise aus leicht vergänglichem, organischem Material gefertigt wurden, hatten keine Erhaltungsmöglichkeit. Stücke schwarzer und roter Farbmineralien belegen aber den Umgang mit Farbe. Funde aus Pech-de-l’Azé, Frankreich, lassen auf Grund ihrer Gebrauchsspuren auf die Herstellung von Linienmustern schließen, welche mit diesen Farbstiften auf weiche Untergründe gezeichnet wurden. Ob es sich dabei um tierische oder um menschliche Haut gehandelt hat, bleibt offen.
Älteste Bestattungen
Bestattungen aus dem gesamten Verbreitungsgebiet zeigen, dass sich Neandertaler mit der fundamentalen Grenzerfahrung des Todes auseinandergesetzt haben. Kinder, Frauen und Männer finden wir in den Gräbern. Das Erscheinungsbild der Bestattungen ist sehr unterschiedlich. Sowohl die Lage der bestatteten Person, als auch die Orientierung oder Ausstattung mit Grabbeigaben ist uneinheitlich. Meist kommen die Bestattungen isoliert vor. In La Ferrassie, Frankreich, und in Shanidar, Irak, sind allerdings kleine Gräbergruppen von acht beziehungsweise neun Bestattungen nachweisbar, die auf eine regelmäßige Nutzung dieser Plätze hinweist. Aus mehreren Fundplätzen, darunter auch der Feldhofer Grotte, sind Schnittspuren auf den Skelettresten nachweisbar. Unter dem Mikroskop zeigt sich, dass an manchen Skeletten offensichtlich mit scharfen Steingeräten Sehnen und Fleisch durchtrennt wurden. Der V-förmige Querschnitt der Spuren belegt, dass es sich um echte Schnittspuren handelt. Es wäre voreilig, diese Spuren sogleich als Hinweis auf kannibalistische Praktiken zu deuten. Aus ethnographischen Berichten kennen wir das weltweit verbreitete Phänomen der Sekundärbestattung. Der Bestattungsvorgang ist in diesem Fall zweiphasig. Nach dem Tode wird die verstorbene Person zunächst temporär zwischengelagert und einem Verwesungsprozess ausgesetzt, um später entfleischt zu werden. Im Anschluss an diese Behandlung werden die Knochen bestattet. Bei der Sekundärbestattung handelt sich um ein hochkomplexes Bestattungsritual, das aus der europäischen Perspektive fremd erscheinen mag, das in außereuropäischen Kulturen aber häufig praktiziert wurde und inzwischen auch für die Neandertaler angenommen werden kann. Bei den Bestattungen handelt es sich meistens um Ganzkörperbestattungen in Grabgruben. Sichere Beigaben liegen aus diesen Gräbern bisher nicht vor. Frühere Annahmen eines Schädelkultes bei Neandertalern entbehren einer gesicherten Grundlage. Dies gilt auch für die sogenannte Blumenbestattung aus Shanidar. Auf Grund von Nachuntersuchungen des Fundmaterials kann davon ausgegangen werden, dass die persische Wüstenmaus, deren Knochen in großer Zahl im Sediment der Grabfüllung gefunden wurden, die Blütenpollen zu einem späteren Zeitpunkt ins das Grab eingeschleppt hat.
Spezialisierte Jagd auf Großwild
Die Lagerplätze des Mittelpaläolithikums belegen eine intensive Jagd auf Großwild. Sowohl Waldelefanten, die größten Landtiere in den Warmzeiten, als auch Mammute, ihre kaltzeitlichen Pendants, gehörten zur Jagdbeute der Neandertaler. Viele Fundplätze belegen die gezielte Jagd auf nur eine Tierart wie etwa Wisent, Auerochse oder Rentier. Diese Zusammensetzung der Tierknochen ist Beleg für eine spezialisierte Jagd. Wandernde Tierherden wurden an topographisch günstig gelegenen Orten abgefangen – ein Vorgehen, das strategisches Planen von erheblicher zeitlicher Tiefe und Regelmäßigkeit erforderte. Jagdplätze auf Auerochsen wie in La Borde, Frankreich, auf Wisente wie in Mauran, Frankreich, Wallertheim, Deutschland, und Illskaya, Russland, oder auf Rentiere wie in Salzgitter-Lebenstedt, Deutschland, belegen unterschiedliche Schwerpunkte. In Mauran wählten die Neandertaler eine topographisch günstige Stelle aus, an der das Flusstal durch eine Hügelkette und einen Felssporn verengt wird. Diese Engstelle konnte noch zusätzlich durch Stein- oder Holzzäune weiter verkleinert werden, so dass bei Treibjagden die Tiere durch wartende Jäger oder Jägerinnen gefahrlos erlegt werden konnten. Die Untersuchungen der Knochenreste zeigen, dass die Tiere vor Ort zerteilt wurden. Die Langknochen wurden aufgeschlagen, um an das energiereiche Knochenmark zu gelangen. Etwas abseits vom Jagdplatz war der eigentliche Lagerplatz, an dem man blieb, bis die Fleischvorräte aufgebraucht waren. Dieser günstige Jagd- und Lagerplatz wurde über ein Jahrtausend hinweg wiederholt aufgesucht, um Wisente am Ende des Sommers zu bejagen. Neben dem Großwild stand zusätzlich noch Kleinwild zur Verfügung. In Küstenbereichen, wie in Südspanien, wurden auch marine Nahrungsquellen bis hin zu Robben, die man am Strand jagen konnte, genutzt.
Sammeltätigkeit
In Ergänzung zu den tierischen Nahrungsquellen standen auch vegetabile Nahrungsquellen zur Verfügung. Vor allem in den warmen Klimaphasen konnte auf eine Fülle von Pflanzen- und Tiernahrung zurückgegriffen werden. Wildobst, Beeren, Nüsse, Bucheckern, Eicheln, Pilze, Knollen und Grünpflanzen waren eine verlässliche Nahrungsquelle. Isotopenuntersuchungen an Neandertalerskeletten vom Ende des Mittelpaläolithikums belegen allerdings, dass die Ernährung überwiegend aus tierischen Proteinen bestand und Fleisch eine zentrale Rolle in der Nahrung gespielt hat. Diese Fokussierung auf tierische Nahrung wurde sicher durch die deutliche Klimaverschlechterung in Europa während der letzen Eiszeit ab 100.000 Jahren vor heute maßgeblich gesteuert. Für die nachfolgenden Populationen des anatomisch modernen Menschen lässt sich dieselbe Spezialisierung belegen.
Sowohl Tiefseebohrkerne als auch Eisbohrkerne aus dem grönländischen Eis und der Antarktis lassen für die Zeit zwischen 100.000 Jahren und 10.000 Jahren vor heute einen dramatischen Klimaverlauf erkennen, der von immer stärker werdenden kalten Klimaschwankungen und immer engeren Intervallen zwischen den einzelnen Klimaschwankungen geprägt war. Laubwälder wurden durch Nadelwälder abgelöst, und Grasländer nahmen immer größeren Raum ein. Die alpinen und skandinavischen Gletscher rückten weiter vor und bedeckten große Teile Nord- und Mitteleuropas. Es entstand eine weitgehend baumfreie Vegetation aus Tundra- und Steppenelementen.
Ende der Neandertaler
Die Ära der Neandertaler ging in Europa um 40.000 Jahren vor heute zu Ende. Zu diesem Zeitpunkt wird im archäologischen Material eine außergewöhnliche kulturelle Dynamik sichtbar. Erstmals deutet sich eine Unterteilung des mittelpaläolithischen Technokomplexes in verschiedene regionale Einheiten an, die alle nur von kurzer Dauer waren. Dazu gehören das Châtelperronien in Südfrankreich und Nordspanien, das Uluzziano in Norditalien und das Bohunicien, Szeletien und Bachokirien in Mittel- und Osteuropa. Die Mehrzahl dieser Technokomplexe zeigt deutlich jungpaläolithische Merkmale unter Beibehaltung mittelpaläolithischer Traditionen. Daher werden sie auch als Übergangsinventare bezeichnet. Ein Merkmal der Inventare ist die Herstellung von Klingen oder Lamellen, langschmalen Grundformen, die im Jungpaläolithikum zum dominierenden Produkt der lithischen Technologie wurden. Klingen sind bereits früh im Mittelpaläolithikum an einigen Fundstellen nachweisbar. Aber erst gegen Ende des Mittelpaläolithikums, während der Übergangsindustrien, traten sie regelmäßiger auf und nahmen ab dem Jungpaläolithikum ständig zu. Die Nutzung von Knochen als Rohmaterial in der Werkzeugtechnologie war ebenfalls Teil dieser Dynamik am Ende des Mittelpaläolithikums. Beide Merkmale belegen einen Wandel in der Gerätetechnologie, der im späten Mittelpaläolithikum begann und sich in den Übergangsindustrien beschleunigte. Die wenigen bekannten Humanfossilien aus den Übergangsinventaren sprechen dafür, dass Neandertaler ihre Hersteller waren.
Kontroverse Diskussion der biologischen Grenze
Auf die Neandertaler folgte in Europa der anatomisch moderne Mensch. Der Übergang zwischen beiden Menschenformen wird sehr kontrovers diskutiert, da mit diesem Wechsel biologische, kulturelle und umweltgeschichtliche Änderungen verbunden sind, die in ihrer Bedeutung für den entwicklungsgeschichtlichen Prozess unterschiedlich gewichtet werden. Die vorliegenden Daten stammen aus einer Vielzahl von Disziplinen, die über den klassischen Kanon der Archäologie und Anthropologie weit hinausgehen. Das Format dieser Daten ist heute unübersichtlicher denn je, denn die beteiligten Disziplinen arbeiten mit sehr unterschiedlichen Methoden, Reichweiten, Begrifflichkeiten und Weltbildern. Die entscheidende Erkenntnis ist, dass keine klare Grenze mehr zwischen der Technologie des Mittel- und des Jungpaläolithikums gezogen werden kann. Vielmehr müssen wir von einem vergleichbaren technischen Wissensstand in beiden Phasen ausgehen. Darüber hinaus wird deutlich, dass die postulierte biologische Grenze zwischen Neandertalern und anatomisch modernen Menschen mit der postulierten kulturellen Grenze zwischen dem Mittel- und Jungpaläolithikum nicht mehr deckungsgleich übereinander liegen.
Die Diskussion kreist um den Begriff „modernes menschliches Verhalten“. War „modernes Verhalten“ eine neue, vom anatomisch modernen Menschen entwickelte, artspezifische Eigenschaft, die ihm einen kulturellen Vorteil gegenüber Neandertalern in Europa und anderen Nachfolgern des Homo erectus in Asien verschaffte? Oder entwickelte sich „modernes Verhalten“ im Zuge eines lange andauernden Entwicklungsprozesses innerhalb der ganzen Gattung Homo, der mit ihren ersten Vertretern begann? Als zentrales Merkmal „modernen Verhaltens“ wurde die Ausbildung „symbolischen Denkens“ Entwicklungsprozesses innerhalb der ganzen Gattung Homo, der mit ihren ersten Vertretern begann? Als zentrales Merkmal „modernen Verhaltens“ wurde die in der Diskussion angeführt. „Symbolisches Denken“ manifestiert sich archäologisch in Schmuck- und Kunstobjekten. Die Chronologie ihres Vorkommens in Fundstellen in Afrika und in Europa spielt bei ihrer Bewertung für den Prozess der Humanevolution eine entscheidende Rolle.