Читать книгу wbg Weltgeschichte Bd. III - Группа авторов - Страница 22
Neue Visualisierungen des Raumes – Regional- und Portulankarten
ОглавлениеVerschiedene Gebrauchsfunktionen von Karten zogen je eigene Raumkonzepte nach sich und führten zu einer Differenzierung der Kartentypen. Insbesondere im Übergang vom Hoch- zum Spätmittelalter treten zu den TO- und Zonenkarten wie deren Varianten neue Darstellungsformen, die veränderten Anforderungen geschuldet waren, auf weiterentwickelten Techniken basierten oder die Übernahme kartographischer Elemente aus anderen Kulturen voraussetzten. Dabei lösten sie ältere Kartentraditionen nicht ab, sondern existierten parallel dazu und im Austausch mit diesen.
Regionalkarten
Der Begriff „Regionalkarten“ ist eine moderne Schöpfung zur Erfassung der lokalen und regionalen Kartierungen des Mittelalters. Die vielfältigen Zeichnungen, deren Spektrum von einfachen Grundrissskizzen bis hin zu komplexen Stadtansichten, von schematischen Wegstreckenplänen bis hin zu aufwendig gestalteten Landkarten reicht, lassen sich weder als homogene Gattung begreifen noch unterliegen sie einer einheitlichen Überlieferungssituation. Der große Anstieg von Regionalkarten vom Spätmittelalter an deutet zudem auf einen Nutzungs- und Mentalitätswandel. Um ein Gesamtbild zu erstellen, sind zuerst weitere Forschungen zu alten und neuen Funden in Archiven und Bibliotheken notwendig.
Itinerarien
Ein häufig genutztes Medium zur Orientierung waren Itinerarien, meist einfache Listen von Ortsnamen mit Entfernungsangaben in Längeneinheiten oder Tagesreisen. Die Römer setzten die praktischen Reisehandbücher vornehmlich im militärischen Kontext ein, im Mittelalter verzeichneten sie Wege zu überregionalen Pilgerzielen wie Rom und Jerusalem. Der englische Benediktiner Matthäus Parisiensis (um 1200–1259) stattete seine Weltchronik eingangs mit einem in vier Ausfertigungen überlieferten Itinerar aus, das Jerusalem als Ziel irdischer Pilgerschaft und Ideal spiritueller Kontemplation inszenierte. Der Nürnberger Erhard Etzlaub (1462–1532) produzierte anlässlich des Heiligen Jahres von 1500 eine Romwegkarte als Holzschnitt. Als berühmteste Itinerarkarte gilt jedoch die Tabula Peutingeriana, die der humanistische Dichter Conrad Celtis in seinem Testament dem Augsburger Stadtschreiber Konrad Peutinger (1465–1547) vermachte. Diese wohl auf einer spätantiken Vorlage basierende Pergamentrolle aus dem 13. Jahrhundert bildet auf einer Länge von 6,75 Metern bei einer Breite von lediglich 34 Zentimetern das römische Straßennetz ab. Beginnend im westlichen Europa mit den Britischen Inseln und Frankreich ist der gesamte Mittelmeerraum bis zu den Grenzen Chinas erfasst. Nur das ursprünglich erste Segment mit der Iberischen Halbinsel ist verloren. Namen und Siedlungssymbole bezeichnen Handelsknotenpunkte, Rast- und Zollstationen. Vignetten und Herrscherfiguren, die mit Speer, Schild oder Krone auf einem Thron sitzen, personifizieren Städte wie Rom, Konstantinopel und Antiochia.
Länder- und Regionenkarten
Im Gegensatz zu diesen Itineraren, die Wegstrecken bemessen und den Reisenden die Distanzen zwischen Orten vermitteln, zielen die Länder- und Regionenkarten auf eine Abbildung der Fläche unter Berücksichtigung naturräumlicher Details. Solche Regionalkarten bezeugen zumeist das Bemühen um historische Aktualität, in Teilen auch um eine maßstabsgerechte Wiedergabe. Während lokale Kartierungen etwa zu Gardasee und Lombardei in der spätmittelalterlichen Praxis zunahmen, sind bis 1400 in Europa vergleichsweise wenige Landkarten überliefert. Bekannt sind derzeit 20 Kartierungen Palästinas aus dem 6. bis. 14. Jahrhundert, ferner zwei Darstellungen Großbritanniens (außer der Gough-Karte noch der in vier Länder und Regionenkarten Redaktionen überlieferte Entwurf des Matthäus Parisiensis) und eine einzige, in zwei Fassungen erhaltene Italienkarte. Die frühen Heilig-Land-Kartierungen präsentieren überwiegend biblische Inhalte, die späten nutzen die Landesbeschreibungen von Wall- und Kreuzfahrern, die aktuelle Sachverhalte und eigenständige Beobachtungen übermitteln. So legte Matthäus Parisiensis gegen Mitte des 13. Jahrhunderts den Fokus nicht mehr auf das mittlerweile verlorene Jerusalem, sondern auf die Stadt Akkon, den seinerzeit einzigen Hafen des Nahen Ostens in christlicher Hand.
Der Kartograph al-Idrisi
Arabisch-islamische Regionalkarten waren von Anfang an weit verbreitet. In Manuskripten folgen sie zumeist einer Weltkarte, aus der sie einzelne Landstriche vergrößern. Die Balchi-Schule konzentrierte sich auf die zur islamischen Welt gehörenden Regionen Nordafrikas und Arabiens, des Mittleren Ostens und Zentralasiens sowie den Indischen Ozean und das Mittelmeer. Eine mathematische Projektion und maßstabsgerechte Abbildung war nicht intendiert. Ein Rückgriff auf ästhetisierende geometrische Figuren und Distanzangaben in Tagesreisen sollte helfen, die Ausdehnung der jeweiligen Region und deren Zentren zu visualisieren. Erst der arabische Kartograph al-Idrisi (um 1100–1165) versuchte, die gesamte bekannte Welt in einem einzigen Kartenwerk zu erfassen. Im Auftrag des normannischen Königs Roger II. von Sizilien erarbeitete er in 15-jähriger Tätigkeit das »Nuzhat al-mushtāq fi’khtirāq al-āfāq« (»Das Vergnügen dessen, der sich nach der Durchquerung der Länder sehnt«). Insgesamt 70 Sektionskarten samt Begleittexten stellen alle Länder der Oikumene mit teilweise akkuratem Verlauf der Küstenlinien dar, während eine runde Weltkarte die Gesamtschau ermöglicht. Die regionale Unterteilung folgte nicht politischen oder kulturellen Kriterien, sondern dem Konzept der sieben Klimazonen, von denen al-Idrisi jede einzelne in zehn Abteilungen untergliederte und in systematischer Weise abhandelte. Das Vorwort betont, dass König Roger II. eine empirische Überprüfung des geographischen Wissens anstrebte, indem er alle verfügbaren Schriften auswerten sowie Reisende und Gesandte befragen ließ. Das Ergebnis dieser interkulturellen Zusammenarbeit zwischen einem christlichen Auftraggeber und einem muslimischen Gelehrten war beeindruckend. Trotz mancher Irrtümer vermittelte der Atlas dem zeitgenössischen Betrachter einen umfassenden Einblick in die Topographie, die Ökonomie und Kultur der Völker vom Indischen Ozean im Südwesten bis zu den skandinavischen Ländern im Nordosten.
Portulankarten
Vermutlich gegen Ende des 12. Jahrhunderts kam im Mittelmeerraum ein neuer Kartentyp auf. Die sogenannten Portulankarten konzentrierten sich auf die Küsten- und Hafenstädte des Mittelmeerraums, zu dem das südliche Europa, einschließlich der Handelslinien nach England und Flandern, sowie Nordafrika, der Nahe Osten und das Schwarze Meer gehörten. Das älteste von etwa 180 überlieferten Exemplaren verzeichnet insgesamt 927 Ortsnamen, die stets im rechten Winkel zur Küstenlinie geschrieben sind, so dass die 50 mal 104 Zentimeter große Tierhaut bei der Lektüre immer gedreht werden musste. Die meisten Namen sind auf dieser um 1270 gefertigten, nach ihrem langjährigen Aufbewahrungsort benannten Pisa-Karte im Mittelmeer eingetragen, nur einige wenige an den spanischen, französischen und südenglischen Atlantikküsten. Die scheinbar erreichte Genauigkeit stellt ein hervorstechendes Merkmal dieses Kartentyps dar. Selbst wenn der italienische Stiefel zu breit, die Mittelmeerinseln zu groß oder die Iberische Halbinsel zu klein geraten sind, entsprechen Ausrichtung, Größe und Form des Mittelmeeres modernen Vorstellungen. Verstärkt wird diese Wahrnehmung noch durch das Rumbenliniensystem, ein sich über die gesamte Kartenfläche erstreckendes Gitternetzwerk. Zusammen mit dem Maßstab erweckt es den Eindruck einer auf mathematischen Berechnungen basierenden Zeichnung. Die Linien strahlen von 16 Punkten aus, die in regelmäßigen Abständen als Haupt- und Nebenwinde auf einem Kreis eingezeichnet sind.
Entstehung und Gebrauch
Die Forschung betrachtete die Portulankarten lange Zeit als Beginn einer modernen, auf geodätischer Präzision beruhenden Kartographie. Die Schwerpunktverlagerung von der Landmasse auf die Seeflächen sowie die eingetragenen Küstenorte und Windrichtungen legen nahe, sie als graphische Umsetzung einer mündlich und schriftlich tradierten Nautik zu begreifen. In welcher Beziehung die Rumbenlinien zu dem seit dem späten 12. Jahrhundert bekannten Kompass stehen, ist nicht letztgültig geklärt. Möglicherweise dienten Verzeichnisse zu den Entfernungen zwischen den Hafenstädten, die schon für die Antike belegt und seit dem 12. Jahrhundert überliefert sind, sowie Teilkarten einzelner Küstenabschnitte als Grundlage. Die maßgeblichen Fertigungsstätten in Genua, Venedig und dem Königreich Mallorca waren Drehscheiben des Mittelmeerhandels und Knotenpunkte geographischen und nautischen Wissens. So scheint die Entstehung aus der islamisch-arabischen Kartographie wenig wahrscheinlich, selbst wenn sich Exemplare mit arabischer Nomenklatur erhalten haben. Eher hat die europäische Portulankartographie die Techniken anderer Kulturen beeinflusst. Ob solche Karten tatsächlich den praktischen Erfordernissen der Navigation gerecht werden konnten, ist nicht eindeutig zu beantworten. Die spätmittelalterlichen Bezeichnungen carta de Navigar oder carta pro Navigando legen einen Gebrauch auf See nahe, und mittelalterliche Reisende erwähnen vereinzelt die Orientierung mittels Seekarten. Jedoch fehlen Gebrauchsspuren auf den tradierten Zeichnungen, die zudem zu ungenau bleiben, als dass ein Kapitän sein Schiff damit hätte navigieren können. Mit Hilfe der in den Rumbenlinien versinnbildlichten Windrichtungen war lediglich ein ungefährer Kurs zu bestimmen. Die Schiffe segelten in Sichtweite zur Küste gemäß den Instruktionen ortskundiger Lotsen.
Ausschnitt aus dem Katalanischen Weltatlas (um 1375).
Katalanischer Weltatlas
Ungeachtet dieser offenen Fragen zum Alltagsgebrauch hat sich mit dem Katalanischen Weltatlas ein Prunkstück erhalten, dessen sechs um 1375 dem französischen König als Geschenk überreichten Doppelblätter auch Elemente der mappae mundi aufgreifen. Vermessener Raum und (Heils-)Geschichte, See- und Landkarte, Mittelmeerkenntnisse und Asienvorstellungen, Häfen und Inlandssymbole, Mythos und Gegenwart sind miteinander verschränkt: Die Heiligen Drei Könige reiten durch Arabien, eine Handelskarawane marschiert quer durch die asiatische Steppe und Kublai Khan residiert als Herrscher der Mongolen, während feine Rumbenlinien die Flächen überziehen und das Abgebildete scheinbar objektivieren. Der Katalanische Weltatlas ist freilich eine Ausnahme, denn Portulankarten kommen in der Regel ohne religiöse Symbolik aus.