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Die hinduistische Tradition Indiens

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„Hinduismus“ – Götterkult

Im 7. Jahrhundert wurde das religiöse Leben in Indien durch Traditionen, die unter den Begriff „Hinduismus“ zusammengefasst werden, dominiert. Allerdings bildete der Hinduismus weder dogmatisch noch institutionell eine klar umgrenzte Religion. Es gab weder eine zentrale Lehrinstanz oder verbindliche Dogmen, noch eine einheitliche oder gar zentral kontrollierte religiöse Organisation, die mit der christlichen Kirche Westeuropas vergleichbar wäre. Der „klassische Hinduismus“, der sich seit den letzten vorchristlichen Jahrhunderten herausgebildet hatte und seine Blüte unter dem Großreich der Gupta (320–500) und dem König Harsha (606–647) erlebte, war das Ergebnis religiöser Transformationen, durch welche die ältere, durch den brahmanischen Opferkult geprägte vedische Religion ihre Bedeutung eingebüßt hatte. Wenngleich auch weiterhin Opfer und andere religiöse Zeremonien durchgeführt wurden, um materielles Wohlergehen in dieser Welt zu sichern, rückte im Hinduismus als letztes und eigentliches Ziel des religiösen Lebens die Erlösung „Hinduismus“ vom Kreislauf der Wiedergeburten in den Vordergrund. Die Wege zur Erlösung der individuellen „Seele“ (atman) aus den Bindungen an die illusionäre, das heißt letztlich unwirkliche, Welt unterschieden sich je nach religiöser und philosophischer Richtung, aber fast immer war das Ziel die Vereinigung des individuellen Selbst mit dem Absoluten, dem „höchsten Selbst“. In den meisten Richtungen des Hinduismus wurde dieses höchste Selbst als personale Gottheit verstanden, so dass das Erlösungsstreben sich in der Beziehung zu Gott verwirklichte. Diese Theologien waren monotheistisch in dem Sinne, dass nur ein Gott das Ziel und der Garant der Erlösung war, auch wenn die verschiedenen Formen des Hinduismus jeweils unterschiedliche Götter zum Gegenstand der Verehrung machten. Es war jedoch kein Monotheismus nach dem Muster von Judentum oder Islam, weil die Existenz anderer Götter nicht bestritten wurde. Die alten vedischen Götter oder lokalen Gottheiten wurden entweder mit dem einen Gott identifiziert oder als Funktionsgottheiten mit beschränkter Macht verstanden, von denen man zwar Hilfe in konkreten weltlichen Dingen wie Wohlstand oder Familienglück erwarten konnte, nicht jedoch Erlösung. Am häufigsten als der eine Gott verehrt wurden Vishnu und Shiva, aber die höchste Gottheit konnte auch in weiblicher Gestalt als Durga oder Kali repräsentiert sein. Der Götterkult manifestierte sich eindrucksvoll im Bau prachtvoll ausgestatteter, teilweise monumentaler Tempel, die durch die Patronage von Herrschern und Stiftungen vermögender Privatpersonen oft über große Ländereien verfügten. Brahmanen fungierten als Tempelpriester, die für die täglichen Rituale zuständig waren. Die großen Staatstempel repräsentierten zugleich die Macht der Könige, deren Legitimation nicht mehr allein durch die noch weiterhin von ihnen finanzierten vedischen Opfer begründet wurde, sondern nun auch durch ihre besondere Beziehung zur höchsten Gottheit, als deren Repräsentanten sie galten. In diesem Sinne kann von einer Sakralisierung des Königtums gesprochen werden, wobei die religiösen Präferenzen der Herrscher die Popularität eines Gottes und seines Kultes wesentlich beeinflussten.

Die »Bhagavad Gita« – Weitere literarische Quellen

Zu den wichtigsten literarischen Quellen, in denen sich die neue Gotteskonzeption manifestierte, zählt die »Bhagavad Gita«, die als Teil des Heldenepos »Mahabharata« zu einem der populärsten Texte des Hinduismus wurde. Die Entstehungszeit der »Bhagavad Gita« reicht vermutlich in die letzten Jahrhunderte vor Christus zurück, aber ihre Breitenwirkung entfaltete sie erst in nachchristlicher Zeit. Ihr zentrales Thema ist die Praxis der Gottesliebe (bhakti-yoga), das heißt die liebevolle Zuneigung zwischen dem Gott Krishna und seinen Verehrern als Weg zur Erlösung. Die persönliche Gottesbeziehung der Bhakti–Frömmigkeit wurde für den Hinduismus prägend. Obwohl Bhakti in vielen Fällen eine emotionale Beziehung zu Gott bedeutet, die literarisch zuweilen in erotisch getönten Bildern beschrieben wird, kann sie sich auf verschiedene Art äußern, so auch in der Erfüllung ritueller und sozialer Pflichten (karma-yoga). Bis zum 7. Jahrhundert waren die wesentlichen Elemente des klassischen Hinduismus entwickelt, wozu auch das Kastensystem und die Kodifizierung der sozialen Ordnung in umfangreichen Rechtstexten gehören. Die Brahmanen, die als Opferpriester Hüter der vedischen Tradition waren, behielten auch im Hinduismus eine herausgehobene Stellung. Aus ihrer Schicht rekrutierten sich nicht nur die Tempelpriester, sondern auch die Gelehrten, die im Gebrauch des Sanskrit bewandert waren und einen Großteil der klassischen Literatur des Hinduismus verfassten. Obwohl die Veden von Brahmanen weitertradiert wurden und hohe Autorität genossen, wurde der Hinduismus vor allem durch neue, nachvedische Literaturgattungen geprägt, die ebenfalls die Gelehrtensprache Sanskrit verwendeten. Dazu gehört neben den großen Epen (»Mahabharata« und »Ramayana«) und Rechtstexten (»Dharmashastras«) die umfangreiche Literatur der Puranas, in denen sich die einzelnen Richtungen der hinduistischen Tradition literarisch entfalteten. Im Zentrum der Puranas stehen in der Regel eine bestimmte Gottheit und deren mythische Geschichte. Auf Grund ihrer großen thematischen Breite sind sie eine der wichtigsten literarischen Quellen für das Weltbild des Hinduismus in seinen regionalen Ausformungen. In größerem Umfang entstanden sie wohl seit dem 4. Jahrhundert, jedoch wurden auch in den folgenden Jahrhunderten bis in die Gegenwart hinein Puranas verfasst.

Königliche Patronage

Mit dem Tod von König Harsha im Jahre 647 begann eine Phase der politischen und religiösen Regionalisierung. Es entstanden regional mächtige Dynastien, die miteinander rivalisierten. Die verschiedenen Königreiche schufen jeweils eigene religiöse Zentren mit oft monumentalen Tempelanlagen, in denen die Staatsgottheit verehrt wurde. Durch die enge Verbindung mit dem Staatsgott versuchten die Herrscher ihre politische Macht religiös zu legitimieren und durch die Förderung des religiösen Kultes die Einheit und den Zusammenhalt des Staates zu sichern. Die Gottheiten unterworfener oder verbündeter Stämme und Gebiete wurden in vielen Fällen durch Identifikation mit der Staatsgottheit in das religiöse System integriert und ebenfalls in den staatlichen Tempeln verehrt. Sie zogen Gläubige und Pilger aus entfernten Gebieten an und trugen auf diese Weise zur Integration der Bevölkerung und Festigung der Herrschaft bei. Die kunstvoll ausgestalteten Tempelbauten, der aufwendige Kult, in dem die Götter mit Speisen und Kleidung versorgt und durch Feste unterhalten wurden, sowie der Unterhalt des umfangreichen Tempelpersonals erforderten erhebliche Finanzmittel. Dazu wurden die Tempel mit Stiftungen ausgestattet, so dass sie häufig über großen Landbesitz verfügten.

Der Advaita-Vedanta des Shankara

Durch königliche Patronage wurden nicht nur Tempel, sondern auch einzelne religiöse Gemeinschaften gefördert. Priester und Asketen verfügten oft über Einfluss am Hof der Herrscher. Die anhaltende Regionalisierung führte zu einer weiteren Diversifizierung der religiösen Traditionen, es entstanden neue theologische und philosophische Traditionen und Formen der Gottesverehrung. Zu den bedeutendsten philosophischen Lehrern dieser Zeit gehört der Wanderasket Shankara (8. Jh.?), der die einflussreiche Lehre des Advaita-Vedanta begründete. Im Unterschied zu den meisten anderen Richtungen des Hinduismus, in denen die Beziehung des Gläubigen zu einem personal verstandenen Gott Voraussetzung der Erlösung ist, vertrat Shankara einen Monismus, in dem die Unterscheidung zwischen dem als Brahman bezeichneten Absoluten und dem individuellen Selbst (atman) des Menschen als illusionär angesehen wird. Brahman ist die einzige Realität, und die Erlösung besteht in dem Wissen, dass atman mit dem Absoluten identisch ist. Der Advaita-Vedanta des Shankara wurde zum klassischen Ausdruck der vedisch-brahmanischen Orthodoxie. Auf Shankara als Stifter beziehen sich auch verschiedene religiöse Asketenorden und Überlieferungsketten, die bis in die Gegenwart bestehen.

Der Tantrismus

Während Shankaras Lehre des Advaita-Vedanta sich auf die vedische Tradition der Upanishaden berief, entstanden seit etwa dem 7. Jahrhundert auch zahlreiche religiöse Gemeinschaften, die die alleinige Autorität der Veden ablehnten und sich auf neuere Schriften stützten. Manche dieser Texte wurden auf göttliche Offenbarungen zurückgeführt und innerhalb religiöser Gruppen tradiert, in die man durch spezielle Weihen initiiert werden musste. Da die Lehren und Praktiken somit nicht allgemein zugänglich waren, sondern einen individuellen Beitritt zu den jeweiligen Gemeinschaften verlangten, kann man von sektarischen Bewegungen sprechen. Diese Bewegungen waren äußerst vielgestaltig; es gab nicht nur regional unterschiedliche Entwicklungen, sondern sie differenzierten auch hinsichtlich der verehrten Gottheit, wie Vishnu, Shiva oder eine der Göttinnen. Die Texte, auf die sich diese Gruppen stützten, werden häufig unter dem Namen Tantras zusammengefasst und die Bewegungen insgesamt als „Tantrismus“ bezeichnet. Der Tantrismus bildete kein geschlossenes System, sondern bestand aus einer Vielzahl von Kulten und Schulen, die Teil der hinduistischen Tradition sind. Eine große Bedeutung besitzen in den verschiedenen tantrischen Gemeinschaften Rituale und Meditationspraktiken, durch die eine Identifikation des Adepten mit der Gottheit angestrebt wird und übernatürliche Kräfte erlangt werden können. In manchen tantrischen Traditionen schließen die Rituale auch Praktiken ein, die im Widerspruch zu den vedischen und brahmanischen Geboten standen, darunter Fleisch- und Alkoholkonsum oder ritueller Geschlechtsverkehr. Solche bewussten Überschreitungen gesellschaftlicher Normen, die in geheimen Kultgruppen vorkamen, sind als „linkshändiger“ Tantrismus jedoch die Ausnahme. Der mehrheitliche „rechtshändige“ Tantrismus verstieß dagegen nicht gegen die üblichen Normen der Gesellschaft und konnte sich auch in vielen öffentlichen Tempeln institutionalisieren.

Ramanuja und die Bhakti-Bewegung

Besonders eng war die Verbindung zwischen Tantrismus und verschiedenen shivaitischen Traditionen in Kaschmir und in Südindien sowie Richtungen, in deren Zentrum der Kult der Göttin Kali stand. Vishnuitische Gruppen besaßen zwar gleichfalls ihre eigenen, von den Veden unabhängigen Texttraditionen und Rituale und wurden deshalb von den Vertretern der vedischen Tradition abgelehnt; andererseits kam es jedoch im Vishnuismus zum Versuch, die eigenen Schriften und Lehren unter Berufung auf die Veden zu verteidigen. Herausragender Vertreter dieser Richtung ist Ramanuja (1056–1137), ein Brahmane aus Südindien, der einen modifizierten Monismus lehrte. Obwohl auch für ihn das mit dem Gott gleichgesetzte Brahman die einzige und höchste Realität ist, sind auch die empirische Welt und das individuelle atman real als Produkte der schöpferischen Kraft des Brahman. Ramanuja rechtfertige seine Lehre auch im Rückgriff auf die »Bhagavad Gita« und die dort vertretene Verbindung von karma-yoga und bhakti-yoga. Damit schuf er die Grundlage für eine Vereinbarkeit der devotionalen Gottesverehrung (bhakti) mit der vedischen Tradition des Vedanta und dem brahmanischen Ritualismus. Er wurde so zum bedeutendsten Theoretiker der Bhakti–Bewegungen, die sich ab dem 12. Jahrhundert auch in Nordindien verbreiteten und das religiöse Leben im Hinduismus nachhaltig prägten. Es entstanden zahlreiche sektarische Richtungen des Vishnuismus. Die Gemeinschaften, die sich auf Ramanuja beziehen, bilden die Tradition der Sri-Vaishnavas, die bis heute einflussreich ist. Die Ausbreitung der Bhakti-Bewegung fällt zeitlich mit dem zunehmenden Einfluss des Islam in Indien zusammen. Seit dem 11. Jahrhundert intensivierten sich die Eroberungszüge muslimischer Herrscher und fanden 1206 mit der Gründung des Sultanats von Delhi ihren vorläufigen Höhepunkt. Diese politischen und militärischen Entwicklungen hatten auch Folgen für das religiöse Leben in der Region. Muslimische Heere zerstörten die letzten verbliebenen Zentren des Buddhismus, dessen Geschichte in Indien damit zu Ende ging.

Auseinandersetzung mit dem Islam

Für den Hinduismus in Indien bedeutete die muslimische Herrschaft eine Zeit der oft konflikthaften, aber auch kreativen Auseinandersetzung mit dem Islam. Die Muslime betrachteten die Hindus als Polytheisten und damit als Feinde des streng monotheistischen Islam. Unter einigen islamischen Herrschern kam es zur Zerstörung hinduistischer Tempel und zu Versuchen der Zwangsbekehrung durch gewaltsame Unterdrückung des Hinduismus. Vor allem aber wurden die Hindus mit hohen Steuern belastet, wodurch auch ein ökonomischer Druck entstand, der Konversionen zum Islam beförderte. Trotzdem hielt die Masse der Hindus an ihren religiösen Traditionen fest, und es entwickelte sich ein Nebeneinander der beiden Religionen, das sich historisch wechselhaft gestaltete, aber gegenseitige Beeinflussung nicht ausschloss.

Dichter-Heilige

Die Zeit der muslimischen Herrschaft brachte deshalb keinen radikalen Bruch in der Geschichte des Hinduismus. Vielmehr setzten sich Traditionen fort, deren Anfänge historisch weit zurückreichten. Es wurde schon erwähnt, dass die Bhakti-Bewegung sich von Südindien aus über den gesamten Subkontinent verbreitete. Ihr Erfolg ist nicht in erster Linie theologischen Gelehrten wie Ramanuja geschuldet, sondern vor allem einer umfangreichen Dichtung und bildlichen Darstellungen, durch die die leibliche Gestalt des Gottes und sein Wirken für die Masse der Gläubigen erfahrbar wurden. Schon seit dem 7. Jahrhundert waren in Südindien Dichter-Heilige aufgetreten, die dem Gefühl der emotionalen Gottesliebe poetisch Ausdruck verliehen. Diese Bewegung setzte sich fort, wobei ab etwa dem 13. Jahrhundert verstärkt regionalsprachige Bhakti-Traditionen aufkamen. Um die Dichter-Heiligen der Bhakti-Bewegung bildeten sich religiöse Gemeinschaften, in denen oft Frauen eine wichtige Rolle spielten und Kastenunterschiede ignoriert wurden. Es entwickelten sich zahlreiche Überlieferungstraditionen, die jeweils unterschiedliche poetische und theologische Texte ins Zentrum rückten, sich jedoch vor allem darin unterschieden, unter welchem Namen sie den höchsten Gott verehrten. Am populärsten waren die Götter Vishnu, Krishna, Rama und Shiva sowie Krishnas Gefährtin Radha. Nicht immer aber wurde Gott in personaler Form vorgestellt. Einige Dichter-Heilige vertraten auch die Lehre, dass Gott eigenschaftslos und namenlos sei und deshalb nicht durch Tempeldienst und Rituale verehrt werden könne. Zu ihnen gehörten Kabir (um 1500) und Nanak (1469–1539), auf den sich die Religionsgemeinschaft der Sikhs zurückführt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Richtung der Bhakti-Bewegung, in der eine bildliche Darstellung Gottes abgelehnt wurde, durch den Islam beeinflusst wurde, insbesondere durch die islamische Mystik des Sufismus.

Weiterbestehen der Veden-Autorität

Die Entstehung und Verbreitung nichtvedischer und sektarischer Formen des Hinduismus in der Zeit zwischen 600 und 1500 und die Entwicklung regionaler Kulte bedeuten nicht, dass die von Brahmanen gepflegte vedische Überlieferung völlig verdrängt wurde. Die Autorität der Veden und der nachvedischen brahmanischen Rechtstexte bestand weiterhin und das tägliche Leben der meisten Hindus orientierte sich an den rituellen Vorschriften und Reinheitsgeboten der brahmanischen Tradition, auch wenn daneben oft andere Formen der Gottesbeziehung gesucht wurden. Zwar besaß der alte vedische Opferkult im Alltag keine Bedeutung mehr, aber Brahmanen genossen weiterhin hohe Autorität und trugen als Theologen und Philosophen wesentlich zur Systematisierung der sich entfaltenden neuen religiösen Bewegungen bei.

Bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts entwickelte sich der Hinduismus somit zu einer äußerst vielgestaltigen religiösen Tradition, die ein ständig wachsendes Corpus von Texten, elaborierte philosophische Systeme, normative Überlieferungen und staatlich unterhaltene Tempelkulte ebenso umfasste wie regionale und lokale Kulte, devotionale Gottesliebe, geheime Rituale und asketische Gemeinschaften. Diese vielfältige Tradition des Hinduismus strahlte über die Grenzen des Indischen Subkontinents aus und wirkte als Teil der indischen Kultur vor allem nach Südostasien. Sie prägt das religiöse Leben in Indien bis heute.

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