Читать книгу wbg Weltgeschichte Bd. VI - Группа авторов - Страница 11
Nachkriegskrisen und Unabhängigkeitsbewegungen
ОглавлениеWie rasch die Hoffnungen auf Stabilisierung und dauerhafte Friedenssicherung enttäuscht wurden, zeigen nicht nur die Widersprüche der Friedensordnungen der Pariser Vorortkonferenzen und nicht nur der anschließende heftige Reparationsstreit wie der aufflammende alte und neue radikale Nationalismus. Von der russischen Revolution ging überdies eine revolutionäre Druckwelle aus, die vor dem Hintergrund der schweren ökonomischen und sozialen Krisen am Ende des Weltkrieges weit über Osteuropa hinausreichte und Mittel-, Süd- und Südosteuropa erfasste, aber auch die westeuropäischen Verfassungsstaaten nicht unberührt ließ. Die Sprengkraft der nationalistischen Ideen und Bewegungen zeigte sich auch in vielen außereuropäischen Entwicklungen, bei denen der Widerstand gegen die vom Krieg geschwächten Kolonialmächte hinzukam. Kurzum, die europäischen wie die außereuropäischen Gesellschaften waren durch den Krieg und seine Folgen in Bewegung geraten. Nirgends gelang es, die internationale Politik mit den Mitteln des Völkerbundes entscheidend zu verändern. Überall wuchs zwar der Widerstand gegen Imperialismus und Kolonialismus, aber auch die Autonomiebewegungen, die vielerorts entstanden, ließen sich von einer widersprüchlichen Politik des radikalen Nationalismus leiten.
Sicherung des bolschewistischen Experiments
Mit Stärke, Macht und Gewalt gelang es ähnlich wie Mustafa Kemal Atatürk auch Lenin, sein bolschewistisches Experiment zu sichern und zu behaupten. Selbst der übermäßig harte Friedensvertrag, den die Regierung des kaiserlichen Deutschland im MΠrz 1918 dem revolutionären Russland, das ein Drittel seines europäischen Territoriums und fast die Hälfte seiner wirtschaftlichen Ressourcen abtreten musste, vorgelegt hatte, wurde von Lenin akzeptiert, was er freilich in der Erwartung tat und damit begründete, dass die sozialistische Revolution, wenn sie nur in Russland überlebte, sich bald nach Mittel- und Westeuropa ausbreiten werde und spätestens dann, wenn auch in Berlin ein revolutionäres sozialistisches Regime errichtet sei, ein wirklicher, dauerhafter zwischen den Repräsentanten des Proletariats aller Länder abgeschlossen werden und die vorübergehenden russischen Verluste kompensiert werden könnten. Dass die Bolschewisten dann auch noch den Angriff konterrevolutionärer Armeen, die von England, Frankreich, Japan und den USA unterstützt wurden, auffangen und als Sieger aus dem Bürgerkrieg gegen innere wie äußere Feinde hervorgehen konnten, hatte sicherlich mit Differenzen zwischen den Gegnern zu tun, vor allem aber mit dem uneingeschränkten Willen zur Gewalt, verbunden mit patriotischen und revolutionären Appellen. 1921 hatten die Bolschewiki schließlich den Bürgerkrieg gewonnen und die Erfahrungen daraus sollten weiterhin die Herrschaftspraxis des Sowjetsystems bestimmen. Die Geburt der Sowjetunion war von Gewalt, gnadenlosem Terror und umfassender Kontrolle beziehungsweise Mobilisierung der Gesellschaft begleitet, was das politische Selbstverständnis beziehungsweise die Praxis der Bolschewisten, aber auch den Umgang mit den anderen sozialistischen Bewegungen in Mittel- und Westeuropa nachhaltig geprägt hat.
Ideal von Kommunisten und Faschisten
Aber auch das politischen Denken und Verhalten der radikalen Gegner, die sich ebenfalls aus dem Ersten Weltkrieg formiert und sich auf den Fundamenten des radikalen Nationalismus als antimarxistische Gegengewalt mit plebiszitären Mitteln entfaltet hatten, war von Krieg und Gewalt bestimmt. Das Ideal von Kommunisten wie von Faschisten war eine militarisierte Gesellschaft, pseudo-demokratisch verfasst, umfassend mobilisiert und – überzeugt von der revolutionären Kraft der Gewalt – bereit für einen künftigen Krieg. Im MΠrz 1919, als Lenin seine Variante des sozialistischen Internationalismus in Moskau gründete, hatte der Ex-Sozialist Benito Mussolini in Mailand mit einer kleinen Schar von Mitstreitern den Fascio di Combattimento, die Keimzelle des Faschismus, gegründet und mit der Machtübertragung beziehungsweise -eroberung durch seine faschistische Bewegung mit ihren paramilitärischen Kampfbünden im Oktober 1922 einen ersten, modellbildenden Erfolg erzielt.
Kein Erfolg der Räterepubliken
Die Dritte (Kommunistische) Internationale musste das als schwere Niederlage verstehen, doch vorerst konnten sich Lenin und die Anhänger der bolschewistischen Revolution – auch außerhalb Russlands – in der Erwartung eines revolutionären Durchbruchs wiegen. Freilich täuschte man sich in Moskau, wenn man die massenhafte soziale Unzufriedenheit, die Massenstreiks und die Fabrik- beziehungsweise Landbesetzungen, die 1919/1920 Mittel- und Südeuropa erschütterten, mit einer Situation gleichsetzte, die als reif für die sozialistische „Weltrevolution“ erachtet wurde. Mit der Gründung der Dritten Internationalen im MΠrz 1919, inmitten der chaotischen und gewaltfördenden Bedingungen des Bürgerkriegs, verband sich allerdings die Hoffnung, in kürzester Zeit die industrialisierten und krisengeschüttelten europäischen Gesellschaften zu revolutionieren. Kriegsmüdigkeit und revolutionäre Bewegungen von 1918/1919 wie die Erfahrung des totalen Krieges und des unerwarteten militärischen Zusammenbruchs, vor allem des Habsburgerreiches, führten jedoch nur in zwei Fällen, in Bayern und in Ungarn, zu einer kurzzeitigen Etablierung eines sozialistisch-kommunistischen Räteregimes. Während in Bayern die von der sozialdemokratischen Regierung herbeigerufenen gegenrevolutionären Freikorpstruppen die Räterepublik bereits im April 1919 blutig niederschlugen, gab der sozialistische Journalist Béla Kun in Budapest sein Räteexperiment im August 1919 auf, als seine Rote Armee im nationalrevolutionären Kampf gegen die Slowaken, Rumänen und Jugoslawen keine russische Hilfe erhielt. Auch in einigen Siegerländern des Ersten Weltkriegs, in Frankreich und Italien, kam es 1919 und 1920 zu Streiks und Zusammenstößen mit der Polizei, obwohl hier von einer revolutionären Situation keine Rede sein konnte. Trotz heftiger Agitation durch kommunistische Gruppen konnten die Fabrikbesetzungen und Streiks weder in Frankreich noch in Italien in massenwirksame politische Aktionen umgesetzt werden. Die Spaltung der sozialistischen Parteien hat die Revolutionierung nicht befördert, wohl aber die Arbeiterbewegung geschwächt und die Ängste des Bürgertums vor einer sozialen Revolution verstärkt. Das führte zu einem organisatorischen Zusammenschluss der bislang zersplitterten Industriellen und zu ihrer Bereitschaft, mit radikalnationalistischen und antimarxistischen Bewegungen zu kooperieren, darunter vor allem den faschistischen Kampfbünden Mussolinis.
Das Scheitern der wenigen Räterepubliken hat zunächst nichts daran geändert, dass das Rätemodell als Utopie eines dritten Weges mythische Kraft behielt und dass es realpolitisch im gesamten außerrussischen Europa zu linkssozialistischen Abspaltungen kam. Die alten Konfliktlinien zwischen einer reformistischen und revolutionären politischen Linie der Arbeiterbewegung führten nun unter dem unmittelbaren Eindruck der russischen Revolution zur Spaltung der Arbeiterbewegung. Die Anerkennung beziehungsweise die Übertragung der revolutionstechnischen Organisations- und Politikprinzipien Lenins auf die nichtrussischen linkssozialistischen Parteien bedeuteten den Verzicht auf eine demokratische, nun nur noch von den Sozialdemokraten repräsentierte Komponente marxistischer Politik und die Durchsetzung konspirativer, paramilitärischer Elemente und Strategien der Machteroberung, die sich – gestützt auf eine autoritäre, sich selbst als revolutionär definierende Disziplin – in kommunistische Kaderparteien verwandelten.
Neue kommunistische Organisationsform
Die kommunistische Organisationsform, die Partei „neuen Typs“, bedeutete für die sozialen Bewegungen des 20. Jahrhunderts und deren Gesellschaftskonstruktionen freilich eine fundamentale Neuerung. Nach dieser Praxis und Doktrin konnten auch kleine Organisationen, wenn sie nur fest entschlossen und quasi-militärisch straff organisiert waren, von ihren Mitgliedern ein außerordentliches Maß an Engagement und Opferbereitschaft einfordern und mit einer solchen „Parteiavantgarde“ im Gefolge von Kriegen und Revolutionen den Aufstand und die Machteroberung überall proben, wo immer sich enttäuschte Hoffnungen auf rasche materielle Besserung und die Emotionen der realen „Massen“ mobilisieren ließen, so dass es aus dieser Gemengelage von Frustration und Utopie zu einem wirklichen Volksaufstand käme. Ein solcher Ansatz stand hinter der Ausbreitung des Kommunismus in Brasilien und in dem sozialistisch-anarchistischen Revolutionsversuch in Spanien nach dem Putsch der Generäle vom Juli 1936. Nachdem es auch im Jahre 1921 noch zu vereinzelten (gescheiterten) revolutionären Aufstandsversuchen in einigen Regionen, etwa in Mitteldeutschland, sowie zu heftigen ideologischen Auseinandersetzungen und zu einem Zick-Zack-Kurs der kommunistischen Internationale zwischen den zentralistischen Direktiven aus Moskau und den nationalen Zielen und Loyalitäten gekommen war, sollte Lenins Forderung nach Umsetzung des „neuen Parteityps“ in Europa zu der Organisation und der Praxis einer Kader- oder Massen- und Wählerpartei führen. Das Ergebnis waren immer neue Parteisäuberungen und -spaltungen, die einen verhängnisvollen Irrweg der Kommunistischen Internationale förderte, der vor allem die deutsche KPD im Jahr 1933 in die Isolierung und in den Abgrund führen sollte.
Krise des Kolonialismus
Die Krise des Kolonialismus, die in den 1920er Jahren fast überall erkennbar wurde, hat zwar die Herrschaft der europäischen Kolonialmächte in der Zwischenkriegszeit immer wieder vor schwere Herausforderungen durch nationale Autonomiebewegungen und Aufstände gestellt, aber sie konnte sich trotz allem behaupten, und auch die Revolutionierungsversuche der Kommunistischen Internationale hatten – ganz im Unterscheid zur zweiten Nachkriegszeit – noch keine nennenswerten Auswirkungen. Zum vollen Durchbruch sollte die Krise paradoxerweise erst durch den imperialen Angriff der Revisionsmächte Italien, Japan und Deutschland seit den 1930er Jahren kommen, die sich bei der Neuordnung 1919 als zu kurz gekommen verstanden. Der Erste Weltkrieg mit seinen Belastungen für Menschen und Wirtschaft auch in den Kolonien hatte jedoch schon genügend Spannungen zwischen den Kolonialherren und ihren Untertanen hervorgerufen, die sich im Entstehen nationaler Unabhängigkeitsbewegungen äußerten. Die Muster von Aktion und Reaktion waren fast überall dieselben: Es kam in vielen britischen Kolonien zur Bildung lokaler Interessen, die mehr Autonomie forderten. Der Widerstand gegen die imperiale Herrschaft brach sich in Streiks, Straßenprotesten und Boykottaktionen gegen britische Waren Bahn. Die Kolonialbehörden reagierten mit scharfen Repressionsmaßnahmen, was die Spirale von Widerstand und Polarisierung nur noch weiter bewegte. Schließlich kam es in einigen Fällen zu Verhandlungen und Zugeständnissen im Sinne einer verstärkten Selbstverwaltung oder zu einer entsprechenden mittelfristigen Zusage. Das geschah in Ägypten und Indien, aber auch in Irland.
Unabhängigkeit in Ägypten
Die Forderung nach Unabhängigkeit wurde besonders laut in Kairo artikuliert. Nach heftigen Unruhen konzedierte London 1922 die formelle Anerkennung Ägyptens als einen souveränen Staat. Doch es blieben de facto viele Einschränkungen und britische Vorrechte, so dass die Spannungen dadurch kaum abgebaut wurden. Die britische Politik setzte darauf, den konzessionsbereiten ägyptischen König, der allzu demokratisch-nationalistische Tendenzen fürchtete, gegen die stärkste Partei des Landes, die Wafd-Partei, auszuspielen. Erst der vom faschistischen Italien verursachte Abessinienkrieg, in dem London auf ein Militärbündnis mit Kairo angewiesen war, brachte im August 1936 einen wichtigen Durchbruch zur wirklichen Unabhängigkeit.
Konflikte zwischen England und Irland
Die Konflikte zwischen England und Irland waren nicht allein durch die imperiale Situation zwischen London und Dublin gegeben, sondern zusätzlich durch die Gegensätze innerhalb der irischen Bevölkerung. Der eine Teil lebte in einer katholischen und keltischen Tradition, der andere war vom Protestantismus und den britischen Institutionen geprägt. Während des Ersten Weltkrieges hatten irische Nationalisten zur Gewalt gegriffen, um die britische Herrschaft zu beenden. Die Aufstände vom Ostersonntag 1916 wurden von britischen Truppen jedoch blutig niedergeschlagen. Nach einem überwältigenden Erfolg bei den britischen Parlamentswahlen 1918 erklärte schließlich die irische Sinn-Féin-Partei die irische Unabhängigkeit und bildete eine eigene Regierung, während die Protestanten in Nordirland London um Hilfe beim Niederschlagen der Rebellion baten. Ein Bürgerkrieg mit einer Welle von Bombenattentaten brach aus und lähmte das Land für drei Jahre. London stand überall vor demselben Problem: Die Aufrechterhaltung der eigenen Herrschaft wurde immer kostspieliger und verlangte nach verstärkter Truppenpräsenz in den Unruhegebieten. Andererseits hätte die Kapitulation vor den Unabhängigkeitsbewegungen enorme politische Kosten zur Folge gehabt. London suchte einen Mittelweg aus dem Dilemma, was Verhandlungen mit den regionalen Kräften bedeutete, die eine Sicherung der Ordnung versprachen. In Irland bedeutete das die Teilung des Landes zwischen dem protestantischen Norden und dem katholischen Süden. Die sechs nordirischen Provinzen blieben bei der Übereinkunft von 1921 Teil des Vereinigten Königreiches, die anderen 26 Provinzen im Süden wurden in die Irische Republik mit dem Staus eines Dominions im britischen Empire entlassen. Die Bürger der Republik konnten sich selbst regieren, blieben aber Untertanen der britischen Krone.
Unabhängigkeitsbewegung in Indien?
Von allen Unabhängigkeitsbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts stellte Indien die größte Herausforderung dar: Nicht nur die Aufgaben, die es beim Abschütteln der Kolonialherrschaft und der gleichzeitigen Notwendigkeit, die Ordnung in einem riesigen Land aufrechtzuerhalten, zu lösen galt, waren besonders groß. Die Unabhängigkeitsbewegung selbst wählte völlig neue Taktiken und hatte darum einen sehr viel größeren Einfluss auf andere ähnliche Bewegungen und Problemkonstellationen im Prozess der Entkolonialisierung. Das britische Empire hatte erstens die Herrschaft über den riesigen Subkontinent mit einem schmalen Aufgebot eigener Truppen und Verwaltungen aufrechterhalten. Das war dank der großen sozialen und politischen Fragmentierung der indischen Gesellschaft möglich, so dass die britischen Verwaltungen die einzelnen Gruppen gegeneinander ausspielen konnten. Zweitens besaß die britische Verwaltung durch ihre moderne Waffen- und Kommunikationstechnologie einen großen Vorteil bei der Ausübung ihrer Herrschaft. Drittens, und das war besonders wichtig, konnten sich die Briten trotz des unübersehbaren Rassismus ihrer Herrschaft die Unterstützung und Zustimmung der einheimischen Eliten sichern. Nennenswerter Widerstand gegen die britische Herrschaft entwickelte sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und die arrogante Reaktion der britischen Verwaltung auf Hunger und wirtschaftliche Absatzprobleme, die den ökonomischen Vorteil der britischen Herrschaft dahinschmelzen ließen, verschärften die Situation. Der Erste Weltkrieg machte es möglich, dass die divide-et-impera-Taktik der Briten weiterwirken konnte. Über 800.000 Inder dienten in der britischen Armee und weitere 500.000 arbeiteten in Arbeitsbataillonen. Indische Rohstoffe hielten die britische Wirtschaft aufrecht, was Indien einen Handelsüberschuss gewährte. Umgekehrt hatten viele Inder ihr Leben für britische Interessen geopfert, und das Land selbst erlebte einen Verfall der Infrastruktur.
Mahatma Gandhi
Die Kongresspartei, führende Repräsentantin der Unabhängigkeitsbewegung, sah in den Friedensverhandlungen eine Chance für mehr Autonomie. Auch wenn man in London unter dem Zwang der Kriegsverhältnisse 1917 Zusagen gemacht hatte, gerieten diese bald wieder in Vergessenheit. Mehr noch, man verschärfte nach Kriegsende die Gesetze gegen Aufruhr und drohte mit Gefängnisstrafen für die politischen Aktivisten der Unabhängigkeitsbewegung. Die Folge waren die schon erwähnten Unruhen und Ausbrüche von Gewalt, besonders im April 1919 in Amritsar, die blutig niedergeschlagen wurden. Auch wenn der verantwortliche Truppenkommandeur abgesetzt wurde, hatte die Strafaktion ein großes Vertrauenskapital verspielt und das Protestpotential nur noch verschärft, denn auch die Kongresspartei änderte ihre Strategie von friedlichen Verhandlungen zur Massenmobilisierung und zum Massenprotest gegen die lokalen Kolonialbehörden. Verantwortlich für die neue Haltung war der Anwalt Mohandas Gandhi. Als Erfahrung seines Aufenthalts in Südafrika brachte er eine politische Philosophie mit, die davon ausging, dass moralische Macht mehr erreichen könne als physische. Darum wollte er sein eigentliches Ziel, die Selbstverwaltung, durch gewaltlosen Widerstand erreichen. Gewaltanwendung sei am Ende kontraproduktiv, es sei besser, der Repression durch Gewaltlosigkeit zu begegnen, sei es durch friedliche Demonstrationen oder durch die Verweigerung der Zusammenarbeit. Auch wenn er die britische Position im Krieg unterstützt hatte, wuchs in ihm nach dem Krieg die Überzeugung, dass man den britischen Rückzug nur durch Entschiedenheit der eigenen Position würde erreichen können. Das setzte freilich voraus, dass sich auch die britische Kolonialmacht grundsätzlich an rechtsstaatliche Regeln hielt. Da er gleichermaßen mit den indischen Eliten, der britischen Denkweise und dem Leben auf dem indischen Dorf vertraut war und die nationale Emanzipationsbewegung zu einer allgemeinen Volksbewegung aller Klassen zu erweitern versuchte, wurde er bald zur nationalen Integrationsfigur, in der seine Landsleute den Lehrer der Nation sahen.
Herrschaftskompromiss in Indien
Mehrere Kampagnen, die er zwischen 1920 und 1922 mit der Kongresspartei anstieß, brachten nur bescheidene Erfolge. Immerhin erhielten wohlhabende Inder mehr Mitsprachemöglichkeit in der lokalen Verwaltung und der Armee. Mit einem gewaltigen Protestmarsch, der gegen das Versammlungsverbot verstieß, versuchte er 1930 gegen die Steuern der britischen Regierung und gegen ihre Illegitimität zu protestieren, was mit einer Gefangennahme Gandhis und vieler seiner Anhänger endete. Sein gewaltloser Widerstand machte ihn zwar zum unumstrittenen Führer der Kongresspartei und verschaffte ihm weltweite Sympathien, doch weckte das umgekehrt soziale und religiöse Ängste bei nationalen Minderheiten und den Muslimen Indiens. Eine Formel für einen allgemein akzeptablen Weg zur Unabhängigkeit gab es nicht, und London half sich über Jahre mit einer Politik der kleinen Schritte und Konzessionen, was das Land lähmte und die Wirtschaft stagnieren ließ. Nachdem Repression und Verhandlungen gescheitert waren, versuchten es die Briten 1935 mit einer einseitigen Lösung: Indien wurde zu einer Konföderation weitgehender unabhängiger Provinzen erklärt, aber britische Behörden sicherten sich Vorbehaltsrechte. Ein britischer Vizekönig behielt eine Veto-Macht und das Recht auf Notstandsmaßnahmen. Der Herrschaftskompromiss, der keine Seite recht überzeugte, war gemessen an den fehlenden Unabhängigkeitsrechten anderer Kolonien ein erster Erfolg, aber es blieb die Abhängigkeit von Minderheiten und von der Oberkontrolle der britischen Behörden. Umgekehrt sahen britische Beamte darin einen überflüssigen Akt der Kapitulation.
Besonders schroff war der Kontrast zu den nach wie vor unveränderten kolonialen Herrschaftsformen und Lebensbedingungen in den ruhigen Kolonien Südostasiens und Afrikas. Der Unterschied zwischen Kolonialgebieten, die vom Feuer nationaler Unabhängigkeitsideen und -bewegungen erfasst waren, und denen, die noch ruhig blieben, liegt in internen Faktoren der jeweiligen kolonialen Gesellschaften und der unterschiedlichen Ausbildung anti-imperialistischer Bewegungen begründet.
Kolonialherrschaft in Afrika
Im Unterschied zu den Staaten um das Mittelmeer, die stärker im Einzugsgebiet europäischer Politik lagen und in denen sich traditionelle arabische Herrschafts- und Einheitsgedanken mit Ideen einer arabischen Nation entfalteten, blieb die Kolonialherrschaft im übrigen Afrika noch bis zur zweiten Nachkriegszeit nahezu unangefochten. Zwar war auch in einigen afrikanischen Kolonien gerade die britische Verwaltung darum bemüht, eine schrittweise Übergabe der Herrschaft einzuleiten, doch wurde man am Ende von den beschleunigten Emanzipationsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg überholt. Neue Formen von Verwaltung ergaben sich durch die Versailler Friedensordnung, durch den die ehemaligen deutschen Kolonien den siegreichen Kolonialmächten nur über den Umweg eines Völkerbundmandates unterstellt wurden. Zwar erfuhr die Weltorganisation dadurch kaum eine Stärkung ihrer Kompetenzen, aber es zeichnete sich die Entwicklung neuer indirekter Formen der kolonialen Verwaltung ab, die nicht mehr dem Muster einer unverhüllten Annexion wie im 19. Jahrhundert folgten.
Unabhängigkeitsbestrebung in China
Anders war es in Asien, wo die Krisenerscheinungen des Kolonialzeitalters schon vor dem Ersten Weltkrieg zu Veränderungen führten. Zwar blieb China noch Objekt der Macht- und Einflusspolitik fremder Mächte, aber die Herrschaft wechselte von den Europäern zu den Japanern, die im Schatten des europäischen Krieges in China und dem Pazifik deutsche Besitzungen übernahmen, eigene imperiale Zielsetzungen für den pazifischen Raum entwickelten und sich vor allem in China wirtschaftlichen Einfluss sicherten. Trotz seiner Revolution von 1911 blieb China weiterhin schwach und damit hilflos gegenüber solchen Einflussnahmen. Es kam immer wieder zu Konflikten zwischen Armeeeinheiten und Reformbewegungen, wie etwa der Kuomintang, der Partei des bedeutenden Reformers Sun Yatsen. Unter dessen Nachfolgern stieg im Laufe der Bürgerkriege bald der spätere Marschall Chiang Kai-shek auf und sicherte sich immer größere Machtbereiche vor allem im Süden des Reiches. In den Jahren 1928 bis 1932 konnte er schließlich die Kontrolle über ganz China erzielen, bis er sich seither in einem ununterbrochenen Abwehrkampf gegen japanische Invasionen befand.
Innere Krise in Japan
Auch für Japan blieb der Krieg gegen China nur bedingt von Erfolg gekrönt. Japan verstand sich wie Italien als eine Siegermacht des Ersten Weltkriegs, die sich um die Früchte des Erfolgs betrogen fühlte und keine Lösung ihres Rohstoff- und Bevölkerungsproblems sah. Das verstärkte die inneren Spannungen in Japan und führte zu Konflikten zwischen den traditionellen Positionen der Militärmonarchie und den progressiven Kräften der Industrialisierung und Moderne, die auch Demokratie forderten. Entlastung erhoffte man sich von weiteren militärischen und wirtschaftlichen Expansionen. Im Inneren konnten die alten Mächte die Forderungen nach Demokratisierung und Liberalisierung trotz partieller Zugeständnisse, wie der Einführung des allgemeinen Wahlrechts 1925, abwehren und die soziale Macht von I Militär, Großwirtschaft und Kaisertum bewahren. Die innere Krise mündete – wie später vielfach auch in Europa – in ein zunehmend autoritäres Regime, das sein Heil in einer imperialistischen Außenpolitik suchte. 1931 überfielen japanische Truppen die Mandschurei und eröffneten damit eine Phase zunächst beschränkter kriegerischer Handlungen, bis es dann 1937 zum vollen Ausbruch des Krieges mit China kam. Damit war auch schon im ersten Testfall die Ohnmacht des Völkerbundes demonstriert und der Beginn der Zerstörung von dessen Konfliktregelungspotential eingeleitet. China hatte vergeblich den Völkerbund zur Hilfe gegen den Aggressor angerufen, Japan fühlte sich angesichts der Ohnmacht des Völkerbundes schließlich dazu ermutigt, im Frühjahr 1933 aus dem Völkerbund auszutreten, was wiederum ohne Folgen blieb, aber von Adolf Hitler einige Monate später nachgeahmt wurde. Nun sollte sich ein Gegensatz zu den USA entwickeln, die durch die japanische Offensive ihre Interessen im Pazifik bedroht sahen.
Chiang Kai-shek (stehend), chinesischer General und Militärdiktator, mit dem Gründer der Kuomintang, Sun Yat-sen (1923).
Bedeutung Europas
Das war auch das Szenario, das dazu führte, dass in den 30er Jahren die Entwicklung der Weltpolitik und der inneren Herrschaftsordnungen noch einmal von Europa aus bestimmt oder zumindest eröffnet wurde, obwohl Europa längst die wirtschaftlichen und machtpolitischen Ressourcen für eine solche führende Rolle in der Weltpolitik verloren hatte. Dass diese paradoxe Machtkonstellation eintrat und die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, der vom nationalsozialistischen Deutschland vom Zaune gebrochen werden sollte, überhaupt mit ermöglichen konnte, hatte nicht nur mit der Selbstisolierung der bolschewistischen Sowjetunion zu tun, die sich auf die „Revolution in einem Lande“ konzentrierte, sondern auch nicht mit dem isolationistischen Rückzug der USA und der politischgeographischen Distanz, die damals noch Europa von Japan und China trennte. Auch der irrige Glaube, dass man die Kolonien – von einigen Zugeständnissen abgesehen – noch längere Zeit im imperialen Griff halten konnte, verstärkte sicherlich die Neigung, Europa noch einmal als Zentrum der Welt zu begreifen.
Abhängige Staaten
Neben den jungen Nationalstaaten, die in Ost- und Südosteuropa als Folge des Ersten Weltkrieges gegründet wurden, und neben den noch in unterschiedlich großer Abhängigkeit verharrenden Kolonialstaaten gab es auf der weltpolitischen Landkarte der ersten Nachkriegszeit Staaten, die zwar formal unabhängig und auch Mitglied des Völkerbundes waren, sich aber tatsächlich in ökonomischer Hinsicht auf Grund ihrer Kapital- und Marktsituation in Abhängigkeit von Europa und den USA befanden. Dazu gehörten China, Australien und Neuseeland, vor allem aber die Staaten Lateinamerikas. Ihre Geschichte und ihre Entwicklung verliefen im Vergleich untereinander sehr unterschiedlich, bezogen auf ihre kulturellen Traditionen, ihre geographische Lage und Rohstoffe. Gleichwohl waren alle lateinamerikanischen Staaten seit dem späten 19. Jahrhundert von denselben Strukturen und Bedingungen des Weltmarktes abhängig. Obwohl einige von ihnen reiche Rohstoffvorkommen und landwirtschaftliche Ressourcen besaßen, fehlte ihnen in der Regel das notwendige Kapital, um diese Ressourcen selbst auszunutzen und auf den internationalen Märkten zu konkurrieren. Die meisten dieser Staaten gehörten zu den Schuldnerstaaten. Nur mit geborgtem Kapital ließen sich die Verkehrs- und Kommunikationsnetze aufbauen und erhalten. Diejenigen, die etwas besser gestellt waren, konnten sich – zumindest in den Städten – öffentliche Dienstleistungen und öffentliche Gesundheits- und Wohlfahrtseinrichtungen nach europäischem Vorbild leisten.
Konflikte und Abhängigkeit in Lateinamerika
Alle lateinamerikanischen Staaten waren durch ihre ökonomische Abhängigkeit auch von den wirtschaftlichen Wechsellagen der Industriestaaten abhängig. Das wirkte sich zwischen 1913 und 1928 gewinnbringend aus, änderte sich aber ab der Weltwirtschaftskrise von 1929 dramatisch. Vor allem durch die Monostruktur ihrer Exporte waren die Staaten Lateinamerikas äußerst konjunkturanfällig, und das verschärfte die sozialen Konflikte und die politische Instabilität, die diese Länder schon immer auszeichnete. Die Spannungen waren besonders dort sehr groß, wo der ökonomische Fortschritt im späten 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert relativ bedeutend war. In den wachsenden Städten von Mexiko, Argentinien, Brasilien und Chile zirkulierten Ideen unter Akademikern, Freiberuflern und Geschäftsleuten, die die politischen Verfassungen ihrer Länder stärker an den europäischen und nordamerikanischen Vorbildern ausgerichtet wissen wollten. Sie verlangten nach politischer Mitsprache, einer Steuerreform, besseren Erziehungs- und Bildungseinrichtungen und nach einer Stärkung der eigenen ökonomischen Entwicklung. Das brachte sie in einen unmittelbaren Konflikt mit den alten Mächten der Kirche und den sozialen Eliten. Gleichzeitig hatten sich mit dem Ausbau der Rohstoffgewinnung in Minen und Plantagen auch Formen der Arbeiterbewegung entwickelt, die auch nach Reformen – oft noch in Übereinstimmung mit den intellektuellen Eliten – verlangten und in ihren sozialen Forderungen noch relativ bescheiden blieben. Doch gehörte ihnen und den neuen städtischen Eliten, allein schon auf Grund ihres starken Wachstums, die Zukunft. Schwere soziale und politische Konflikte waren vorprogrammiert, vor allem wenn die wirtschaftliche Entwicklung ungünstig verlief. Freilich entwickelten sich die Konflikte in den einzelnen nationalen Gesellschaften mit charakteristischen Unterschieden. Mexikos Geschichte spiegelt eine Vielzahl dieser Konflikte und soll darum exemplarisch vorgestellt werden. Es demonstriert das soziale und ökonomische Dilemma eines Landes an der Peripherie der westlichen Industriegesellschaften.
Der mexikanische Revolutionsführer Emiliano Zapata und sein Verbündeter Pancho Villa mit ihren Anhängern in Mexiko (1914).
Soziales und ökonomisches Dilemma Mexikos
Mexiko nahm nicht am Ersten Weltkrieg teil, doch es litt am Trauma der Revolution, die die sozialen und politischen Strukturen verändern sollte. Die mexikanische Revolution begann 1910, nach einer beinahe 35-jährigen Herrschaft von Porfirio Díaz, der Armee und politisches System streng kontrollierte, erfolgreich ausländische Investitionen einwarb sowie für ökonomischen Aufschwung sorgte, dessen soziale und politische Folgen einen Wandel herbeiführten, der die Grundlagen der Herrschaft von Díaz gefährdete. Neue soziale und wirtschaftliche Gruppen entstanden, die sich von der Politik nicht mehr repräsentiert fühlten. Einer von den wohlhabenden Außenseitern, Francisco Madero, verlangte im Präsidentenwahlkampf eine umfassende Wahlrechtsreform und keine Möglichkeit der Wiederwahl. Er rief zu den Waffen, und die Rebellen besiegten die schwachen Truppen von Díaz, der im Mai 1911 zurücktrat und nach Europa verschwand. Sein Gegenspieler Madero wurde im Oktober 1911 zu seinem Nachfolger gewählt. Damit kam das Land aber nicht zur Ruhe: Es folgte ein Bürgerkrieg, der zu einem Kampf jeder gegen jeden führte. Madero richtete seine Aufmerksamkeit auf die agrarrevolutionäre Bewegung unter dem charismatischen Führer Emiliano Zapata, die Land für sich verlangte. Doch in dieser Situation erwies sich die Armee unter ihrem Führer Victoriano Huerta als die eigentliche Bedrohung, nachdem dieser die Unterstützung des amerikanischen Botschafters erhalten hatte, der Madero misstraute. Im Februar 1913 wurden Madero und sein Stellvertreter getötet. Huerta erwies sich bei dem Versuch der Machtstabilisierung zwar zunächst als erfolgreicher, aber seine Repressionspolitik führte zur Stärkung der Opposition. Innerhalb von wenigen Monaten fand er sich mit drei Rebellenarmeen konfrontiert, von denen schließlich die von Venustiano Carranza im August 1914 siegreich in Mexiko-City einziehen konnte. Doch die Spirale der Gewalt war damit noch nicht zu Ende, obwohl Carranza eine taktisch geschickte Stabilisierungspolitik betrieb. Schließlich wurde auch er 1920 ermordet. Sein Nachfolger Álvaro Obregón setzte seine pragmatische Politik fort und versuchte, sie um soziale Reformen zu ergänzen. Seine „Revolutionäre Institutionelle Partei“ (PRI) sicherte die Macht durch eine Mischung aus eigenständigen, aber unvollkommenen Reformen, aus politischer Anpassung verbunden mit Korruption und Zwang sowie mit einer nationalistischen Propaganda. Diese zwitterhafte Verfassung, die weder eine entwickelte Demokratie noch eine unverhüllte Diktatur darstellte, sollte sich für Jahrzehnte behaupten und hielt Mexiko fern von den blutigen extremen Diktaturen, die sich anderswo in der Zwischenkriegszeit etablierten. Es war eine Phase der Erholung von einer Dekade des Bürgerkriegs, der Inflation, von Hunger und Mangel.
Auch die nordamerikanische Politik blieb von den Folgen von Krieg und Friedensschluss nicht unberührt, ohne dass das Verfassungssystem der Vereinigten Staaten dadurch je in Frage gestellt wurde. Die USA, deren spätes Eingreifen erst den Ausgang des Krieg entschieden hatte und deren Kriegsziel, nämlich die Durchsetzung der Demokratie in Europa und der übrigen Welt, ganz dem Sendungsbewusstsein der amerikanischen Demokratie entsprach, zogen sich aus der Entwicklung der internationalen Politik der 20er Jahre zurück und nahmen daran nur auf indirekte Weise teil, vor allem über ihre wirtschaftlichen Entscheidungen und finanziellen Interventionen. Nach außen vermittelte das noch einmal den Eindruck, dass allein in Europa über die „große Politik“ entschieden würde, was angesichts der tatsächlichen inneren Schwäche der europäischen Staaten jedoch fatal war.
Rückzug der USA aus der internationalen Politik
Der Rückzug der USA aus der internationalen Politik, einschließlich der Politik des Völkerbundes, bedeutete gleichzeitig das tragische Scheitern von Präsident Woodrow Wilson und seiner Vision. Die Gründe für diesen Rückzug waren vielfältig: Sie lagen in der Enttäuschung über den Fehlschlag der amerikanischen Politik der kollektiven demokratischen Friedenssicherung und in der Rückbesinnung auf die amerikanische Tradition, sich auf die eigene Hemisphäre zu beschränken. Sie lagen auch in den innenpolitischen Konstellationen und in dem dadurch gegebenen Wechselverhältnis von Innen- und Außenpolitik. Überdies hatten sie ihre Ursachen auch in dem politisch-taktischen Unvermögen des Präsidenten, der mit dem Scheitern seiner Vision von einer besseren Welt auch sein eigenes politisches Schicksal verband und sich resigniert in die eigene politische Isolation begab – längst bevor seine Amtszeit zu Ende war. Er war bereits ausgebrannt von den Friedenskonferenzen in den Pariser Vororten nach Washington zurückgekehrt, wo der Kongress schließlich die Ratifizierung der Friedensverträge verweigerte. Stattdessen schloss man mit Deutschland einen Sonderfrieden ab, der alle Bestimmungen des Versailler Vertrags, nicht aber die von Wilson übernommenen Verpflichtungen aufnahm. Mit der Absage an den Kurs von Wilson war auch die amerikanische Weigerung verbunden, den europäischen Alliierten besondere Sicherheitsgarantien zu geben. Das gefährdete die europäische Konsolidierung und verstärkte umgekehrt das Misstrauen und die politischen Verkrampfungen zwischen den europäischen Mächten, die sich im Falle Deutschlands über einen „Diktatfrieden“ empörten und die sich bezüglich Frankreichs und seiner Sicherheitsbedürfnisse durch Vertragsverletzungen der anderen Seite bedroht sahen. In den USA erhielt die für die Weltpolitik der Zwischenkriegszeit so folgenreiche Entscheidung umgekehrt die große Zustimmung des Wahlvolkes, das bei den Präsidentenwahlen im November 1920 dem Kritiker Wilsons, Warren G. Harding, einen gewaltigen Sieg bescherte. Verfassungsgeschichtlich erlebten die USA in den 20er Jahren – auch unter den Nachfolgern Wilsons – eine Politik, die stärker von den jeweiligen Kongressmehrheiten bestimmt war als von den Präsidenten, was in der Struktur der amerikanischen Verfassungsordnung durchaus angelegt war.
Wirtschaftspolitisches Engagement Amerikas
Freilich täuscht das Bild vom entschiedenen amerikanischen Isolationismus und dem Rückzug aus transatlantischen Interessenbindungen. Das Interesse an einer Stabilisierungspolitik in Europa war allein aus wirtschafts- und finanzpolitischen Gründen sehr viel größer als dies nach außen den Anschein hatte. Nach einer kurzen Phase des tatsächlichen Rückzugs, was die amerikanische Handlungs- und Einwirkungsmöglichkeit beim Fortgang der Friedensverhandlungen und der Regelung der einzelnen nach wie vor bestehenden Konfliktfelder tatsächlich beträchtlich verminderte, kam es zu einem vielfachen wirtschaftspolitischen Engagement amerikanischer Unternehmer und Banken von Kuba und Lateinamerika über die Türkei, die Sowjetunion und vor allem auch Deutschland, wie das Beispiel des Dawes-Planes beziehungsweise des Young-Planes als Instrument amerikanischer Stabilisierungspolitik in Deutschland in der Mitte beziehungsweise der zweiten Hälfte der 20er Jahre zeigen sollte. Das war der rationale Teil einer Penetrationspolitik, die davon ausging, dass man den Wiederaufbau Europas der freien Wirtschaft und dem Markt überlassen müsse. Das schien nach dem Scheitern der Politik Wilsons der einzige gangbare Weg zu sein, führte aber zu einem Kapitaltransfer im großen Stil durch amerikanische Investoren, die mit großen Kreditzusagen an Europa in der Erwartung winkten, es werde ein Wirtschaftswunder mit hohen Renditen geben, um diese in der Regel kurzfristigen Kreditzusagen dann in der großen Krise von 1929 überstürzt zurückzufordern.