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Einleitung

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Hans-Ulrich Thamer

Die Weltausstellung von 1900

Mit einem Gala-Empfang wurde am 14. April 1900 die Pariser Weltausstellung eröffnet. Der französische Staatspräsident fuhr mit Regierungsvertretern in goldenen Kutschen durch die illuminierte Hauptstadt. In seiner Eröffnungsrede pries Émile Loubet das beginnende Jahrhundert als eine Epoche des Fortschritts, des Friedens und des Wohlstandes. Die Unterwerfung der Natur durch die moderne Technik werde die Bedingungen menschlichen Lebens grundsätzlich verändern. Der Handelsminister Alexandre Millerand sah ein Jahrhundert aufziehen, in der die Maschinen und die Elektrizität die Welt beherrschen, in der Wissenschaft und Industrie das Alltagsleben fundamental verändern würden. Das Schauspiel der Weltausstellung sollte vom technisch-industriellen Fortschritt künden und dem Optimismus einer Gesellschaft Ausdruck verleihen, die die neuen Kräfte der Technik und Wissenschaft beherrschen und die sich für die Sicherung von Reichtum und Glück in einer künftigen globalen Gesellschaft einzusetzen versprach. Tatsächlich spiegelte sich in der Zukunftsgewissheit der Ausstellung und dem Pomp der sie begleitenden Empfänge und Feste der Abendglanz einer eurozentrischen, bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts. Wer genauer hinsah, konnte die politischen und ökonomischen Ungleichgewichte beziehungsweise die Brüchigkeit des internationalen Systems auch auf der Ausstellung erahnen.

Die europäischen Nationalstaaten bestimmten mit ihrer Präsentation auf dem großen Fest des Fortschritts auch das Bild der afrikanischen und asiatischen Gesellschaften, die in malerischen Dorfnachbildungen und Hütten nicht nur als fremde und unterentwickelte Völker dargestellt wurden, sondern auch als eine „primitive“ und von Europa darum abhängige Welt. Schließlich kontrollierten zu diesem Zeitpunkt die europäischen Staaten machtpolitisch und wirtschaftlich fast ganz Afrika, weite Teile Asiens und des südlichen Pazifiks.

Widersprüche und Spannungslagen

Hinter der glänzenden imperialistischen Fassade kündigten sich noch andere Widersprüche und auch Spannungslagen an, die die Welt verändern und die im Gefolge des Ersten Weltkrieges offen ausbrechen sollten. Neue soziale Bewegungen, die sich auf der Weltausstellung eher am Rande präsentieren konnten, kündeten von möglichen Konflikten, die die europäischen Gesellschaften vor neue Herausforderungen stellen sollten: die sozialistische Arbeiterbewegung, die sich in allen industriellen Gesellschaften organisiert hatte und die selbst vor inneren Zerreißproben zwischen einem reformistischen und einem radikal-revolutionären Weg stand; die Frauenbewegung, die auf gesellschaftliche und politische Teilhabe drängte; die antikolonialistischen Strömungen, die mit den Anspannungen des Ersten Weltkriegs zusätzliche Stärke gewinnen sollten. Auch hinter den Fassaden der souveränen Staaten Lateinamerikas verbargen sich politisch-ideologische, ethnische und soziale Gegensätze, die ihren inneren Zusammenhalt und ihren ökonomischen Aufschwung bedrohen sollten. Schließlich gab es im Gastland Frankreich und auch anderswo in Europa soziale Protestbewegungen, die Demokratie und Fortschritt von einer anderen Seite her angreifen sollten. Radikal-nationalistische und antisemitische Strömungen und Bewegungen hatten die politisch-kulturelle Ordnung der französischen Dritten Republik in der Dreyfus-Affäre vor schwere Belastungsproben gestellt, auch wenn sich kaum jemand vorstellen konnte, dass solche aggressiven und menschenverachtenden Tendenzen einmal zu politischen Massenbewegungen und zu Leitvorstellungen der Herrschaftspraxis künftiger Diktaturen und eines Völkermords werden sollten.

„Kunst des Friedensschlusses“?

Kurzum, der Besucher der Weltausstellung erhielt ein verzerrtes Bild von Sicherheit und sozialer Harmonie, das mit dem Ersten Weltkrieg bald zerbrechen sollte. Der „Große Krieg“, wie er bis 1939 überall hieß, die „Urkatastrophe“ (George F. Kennan) des Jahrhunderts, hat die Widersprüche dann endgültig ans Licht gebracht; er barg nicht nur den Keim des Zweiten Weltkrieges bereits in sich. Die neuen Technologien des Kriegs und die totale Kriegsführung, die imperialistischen Kriegsziele sowie radikalen Ideologien, die Propaganda und Massenpolitisierung, die sich im Krieg entfalteten, nahmen vorweg, was die Zwischenkriegszeit an Krisen und Radikalisierung erleben, was der zweite, totale Krieg, der rasch zu einem globalen Krieg wurde, an Massenmobilisierung und Vernichtung bringen sollte. Die „Kunst des Friedensschlusses“, die sich im Zeitalter der europäischen Mächte und Kabinette herausgebildet hatte und noch einmal in dem Versailler Vertragssystem von 1919 die Welt befrieden wollte, erwies sich im Zeitalter der Ideologien und der Diktaturen bald als wirkungslos. Der Siegeszug von Demokratie und Menschenrechten, von dem man zu Beginn des Jahrhunderts und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg träumte, wurde von den großen ökonomischen Krisen und der massenmobilisierenden Kraft radikaler Ideologien und Bewegungen der Zwischenkriegszeit bald wieder zerstört; der Gegensatz von Demokratie und Diktatur wurde, nicht nur auf dem europäischen Kontinent, zur Signatur der 1930er Jahre. Er setzte sich nach dem Ende des weltumspannenden Zweiten Weltkriegs und dem Scheitern der Hoffnung auf die „Eine Welt“ in veränderter Konstellation als globaler Gegensatz der zweiten Nachkriegszeit fort, bis mit dem Ende des Kalten Kriegs und des Ost-West-Konfliktes 1989/1990 wieder die Hoffnung auf eine friedliche, demokratische Zukunft in immer größeren Teilen der Welt wuchs, um bald wieder enttäuscht zu werden.

Das 20. Jahrhundert

Das 20. Jahrhundert, an der Jahrhundertwende 1900 zuversichtlich als Jahrhundert des Fortschritts angekündigt, wurde bald zum „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm). Es hat nach einem Diktum von Yehudi Menuhin „die größten Hoffnungen hervorgerufen, die die Menschheit jemals gehegt hat“, und „alle Illusionen und Hoffnungen zerstört“. Es war geprägt von grausamen Kriegen und Katastrophen, von Gewalt und Massenvernichtung, aber auch von neuen Instrumenten der Friedenssicherung und Konfliktregelung, von der schrittweisen Durchsetzung demokratischer Ordnungen und deren Zerstörung durch autoritäre und totalitäre Bewegungen und Diktaturen, daneben aber auch von wachsender Rationalität, Mobilität und Wachstum, so wie man es sich am Beginn des Jahrhunderts erhofft hatte. Doch gehört zum 20. Jahrhundert seit dem Ersten Weltkrieg auch die Erfahrung grundstürzender wirtschaftlicher und sozialer Krisen, von Gewalt, Vertreibung und Zerstörung von Menschen und Umwelt. Das 20. Jahrhundert hat mithin das ganze Ausmaß der Dissonanzen und der Dialektik des Fortschritts gezeigt, den das 19. Jahrhundert noch ganz ungebrochen und optimistisch im Visier hatte.


Der Eiffelturm während der Pariser Weltausstellung vom 15. April bis zum 12. November 1900, die mit etwa 50 Millionen Besuchern zu den erfolgreichsten Weltausstellungen gehört.

Ist darum die Charakterisierung als „Zeitalter der Extreme“ völlig berechtigt, so zeigen sich seit den späten 80er Jahren schließlich Visionen einer internationalen Gesellschaft, in der Völkerrecht und Menschenrechte die Beziehungen der Staaten und die inneren gesellschaftlichen Verhältnisse der Staaten immer stärker bestimmen könnten. Mehr noch, es zeichnet sich ein neues Weltverständnis ab. Die innerstaatlichen Lösungen allein funktionieren immer weniger, die neuen Konflikte drehen sich nicht mehr ausschließlich um die Staaten und die innere Verwaltung sowie Verteilung von Ressourcen. Die neuen Konflikte passen darum nicht mehr in das klassische politische Links-Rechts-Schema, in den ausschließlichen Gegensatz von Fortschritt und Tradition.

Epochengrenzen

Nach dem Ende des Kalten Kriegs und dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums wurde das 20. Jahrhundert häufig als das „kurze 20. Jahrhundert“ bezeichnet, um damit seine vermeintlich innere Einheit zu kennzeichnen. Nach dieser Periodisierung reichte es von 1914, als Weltkrieg und Revolution die Lebensformen des 19. Jahrhunderts zerstörten und in Diktatur und Gewalt mündeten, bis 1991, als mit dem Ende der Sowjetunion auch das Ende der totalitären Ideologien gekommen zu sein schien. Doch nicht nur weil diejenigen, die ein Ende dieser Geschichte der politisch-militärischen Konfrontationen erwartet hatten, sich in ihren Prognosen bald widerlegt fanden, sondern weil viele der Entwicklungen, die sich seit den 1990er Jahren abzeichneten, nämlich die Entfaltung einer internationalen Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, die wir „Globalisierung“ nennen, sich schon vor 1989 längst angebahnt hatten, erscheint die Eindeutigkeit der Epochengrenze von 1989/1990 immer fragwürdiger. Zu dem neuen Weltverständnis, das sich aus den wirtschaftlichen und sozialen wie auch kulturellen Veränderungen ergibt, schwächte sich die Fixierung des 20. Jahrhunderts auf Nationalstaaten und auf die Konflikte von Mächten ebenso ab wie die Fixierung auf die westliche, das heißt nordamerikanisch und europäisch zentrierte Welt. Fragen der Menschenrechte, von moralischen und religiösen Kriterien politischen Handelns wurden ebenso wichtig wie innenpolitische Probleme der Verteilung von Ressourcen und ausschließlich sozioökonomische Sichtweisen.

Mit der Öffnung des historischen Blicks auf die außereuropäische Geschichte verliert auch die Epochengrenze 1914 ihre Erklärungskraft, denn viele innere Entwicklungen in Asien, Afrika und auch Lateinamerika folgen anderen Mechanismen und Zäsuren. Vor allem aber erhält mit dem Blick auf die Internationalisierung von Gesellschaft und Wirtschaft das späte 19. Jahrhundert ein neues Gewicht, haben doch viele Entwicklungslinien, die wir heute mit dem Begriff der Globalisierung beschreiben, ihren Ausgang vor 1914 genommen. Sie erlebten mit den schweren ökonomischen Krisen und protektionistischen Reaktionen der Zwischenkriegszeit der 1920er bis 1950er Jahre einen heftigen Einbruch, der erst seit den 1980er Jahren wieder überwunden wurde.

Verschwimmen der Zäsuren

Im Rückblick auf das 20. Jahrhundert, aus der Vogelperspektive des frühen 21. Jahrhunderts, rücken darum die lange getrennt voneinander betrachteten Teilepochen des 20. Jahrhunderts enger zusammen, verschwimmen die Zäsuren, die das 20. Jahrhundert eingeteilt und gedeutet hatten. Das gilt nicht nur für die Zwischenkriegszeit der 1920er und 1930er Jahre, die von einigen Beobachtern als Phase eines „zweiten dreißigjährigen Krieges“ (Arno J. Mayer) gedeutet wird, das gilt auch und noch mehr für den inneren politischen und gesellschaftlichen Zusammenhang der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert mit der ersten. Gleichwohl unterschied sich die Welt am Ende des 20. Jahrhunderts in mehrerlei Hinsicht deutlich von der am Beginn des Jahrhunderts: Sie war längst nicht mehr eurozentriert, Europa hatte seinen Vorrang in Politik und Wirtschaft, in Wissenschaft und Kultur längst verloren. Sie hatte fast überall die Auflösung alter Sozial- und Beziehungsstrukturen erfahren, und diese Umbrüche waren mitunter von sozialen und menschlichen Katastrophen begleitet oder herbeigeführt. Dafür erlebte sie am Ende neue Formen der Internationalisierung und Globalisierung, die aufnehmen, was sich schon lange angebahnt hatte, die auch über das hinausgehen, was sich am Beginn des Jahrhunderts abgezeichnet hatte.


Der Chinesische Pavillon während der Weltausstellung in Paris (1900).

Politikgeschichte des 20. Jahrhunderts

Richtet man den Blick auf die europäische Politikgeschichte des 20. Jahrhunderts, so behält umgekehrt das Bild vom „kurzen 20. Jahrhundert“ seine partielle Gültigkeit. Aus dieser Perspektive beginnt das Jahrhundert mit dem Ersten Weltkrieg und mündet in fundamentale Auseinandersetzungen zwischen Demokratie und Diktatur, begleitet und verschärft von radikalen Massenbewegungen als Folge der allgemeinen gesellschaftlichen Mobilsierung. Zu der Krise der Demokratie, die sich schon in den 1920ern abzeichnete und die seit 1933 voll auf die europäische Staaten- und Verfassungswelt durchschlug, kam schließlich die andere große Krise der 30er Jahre, die Parlamentarismus, demokratische Politik und liberale Marktwirtschaft für viele Jahre diskreditierte – die Krise des globalen Kapitalismus. Die Erfahrung von Krisen und Katastrophen bestimmte die Wahrnehmung und damit auch die inneren Zusammenhänge und Besonderheiten der Zwischenkriegszeit in Europa, aber auch in den Vereinigten Staaten von Amerika. Mit der Wirtschaftskrise und dem globalen Krieg von 1939/1941 bis 1945 wurden sie zu einem weltweiten Phänomen. Auch die zweite Teilepoche des „kurzen“ europäischen 20. Jahrhunderts ist teilweise von ähnlichen Entwicklungen geprägt, nur dass die Zentren der Politik nicht mehr in London oder Berlin, sondern in Washington und Moskau liegen. Der „Ost-West-Konflikt“, der sich seit den späten 1940er Jahren in immer neuen Schüben entfaltete, setzte aus politik- und verfassungsgeschichtlicher Sicht zwar die Gegensätze von Demokratie und Diktatur, die schon die erste Nachkriegszeit bestimmt hatten, fort und machte sie wiederum zu einem weltweiten Phänomen, aber diese inneren politischen Konstellationen wurden von einer völlig veränderten internationalen Mächtekonstellation bestimmt, nämlich von dem politisch-militärischen und ökonomisch-technischen Gegensatz der neuen Supermächte USA und Sowjetunion, der die innenpolitischen Konflikte auch in Europa, aber vor allem in den jungen, politisch instabilen Nationalstaaten der Dritten Welt (mit ihren heftigen gesellschaftlichen und ethnischen Machtkämpfen) mit den Grundmustern und -konflikten der internationalen Mächtekonstellationen und -beziehungen verband und diese oft für die eigenen Zwecke instrumentalisierte. Der Kalte Krieg bestimmte nicht nur Politik und Alltagsleben der europäischen Staaten, die als Folge des Zweiten Weltkrieges und der weltwirtschaftlichen Veränderungen nun von Subjekten zu Objekten der Weltpolitik geworden waren, sondern überlagerte auch die Politik und die Gesellschaften der übrigen Welt und drohte fast die gesamte Welt in eine Spirale von Rüstungspolitik und Stellvertreterkriegen hineinzuziehen.

Nord-Süd-Konflikt

Der Ost-West-Konflikt überlagerte lange Zeit den Nord-Süd-Konflikt, das heißt die neue Konfrontation zwischen den Industrieländern des Nordens und den Entwicklungsländern des Südens, der seinen Anfang in den 1950er Jahren genommen hatte und mit der zunehmenden Dekolonisation und Neubildung von Staaten in Asien und Afrika an Konfliktpotential zunahm, während es innerhalb der Länder der „Dritten Welt“ allmählich zu einer Ausdifferenzierung zwischen wirtschaftlich und infrastrukturell wachsenden Schwellenländern und den vom Weltmarkt abhängigen Modernisierungsverlierern, vornehmlich in Afrika, kam. Am Ende des 20. Jahrhunderts hat der Nord-Süd-Konflikt den einstigen Ost-West-Konflikt abgelöst und die Widersprüche sowie Vielfalt der Modernisierung des 20. Jahrhunderts vor Augen geführt.

Widersprüchliche Moderne

Die zunehmende Wahrnehmung des neuartigen, globalen Nord-Süd-Konfliktes verband sich mit der Einsicht in die Ambivalenzen von Fortschritt und Moderne auch in der „Ersten“ und in der „Zweiten Welt“. Waren die goldenen Jahrzehnte des wirtschaftlichen Wachstums der zweiten Nachkriegszeit bis in die Mitte der 1970er Jahre noch von der Erwartung getragen, dass wirtschaftlich-technischer Fortschritt und demokratische Politik sozialen Wandel und Modernität garantieren und die zerstörerischen Kräfte, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Form von ideologischem Fanatismus und dem Drang zur Gewalt immer wieder aufgebrochen und wirkungsmächtig geworden waren, für immer überwinden könnten, so verlor sich seit der Ölkrise von 1974 dieser ungebrochene und einfache Fortschrittsglauben. Die Krise der Demokratie und der Wirtschaft, der Weg in die moderne Diktatur und in die Barbarei von Verfolgung und Genozid wurden nicht länger als bloßer Rückfall oder Sonderweg verstanden, sondern als immanenter Teil der widersprüchlichen Moderne, als die dunklen Seiten derjenigen Kräfte und Bewegungen, die das 20. vom 19. Jahrhundert geerbt hatte und die sich seither in einer rasanten Beschleunigung entfalteten.

Ungebremster Wandel und Fortschritt

Die scheinbar ungebremste Steigerung von Beschleunigung und Effizienz, von Mobilität und Verdichtung, die alle Lebensbereiche der Menschen erfasste und veränderte, war und ist die eigentliche Signatur der Moderne. Der Wandel ergreift die Verflechtungen und Transfers von Waren, Personen, Kapital und Ideen, erfasst die Struktur und die soziale Mobilität der Gesellschaft, stellt aber auch die Politik vor immer neue Herausforderungen, wenn sie die Erwartungen und Visionen der Menschen fördern will. Die permanenten Veränderungen und Herausforderungen berühren die Systeme sozialer Sicherheit und Arbeit in Industrie- und Dienstleistungsbereichen, betreffen die Entwicklung des Bruttosozialproduktes und der Einkommensverteilung, finden ihren Ausdruck in demographischen Prozessen wie in der zunehmende Verstädterung, im Leben von Familie und Individuum wie im Verhältnis von Mann und Frau und lassen auch die überkommenen Werteordnungen nicht unberührt.

Die globale Situation

Nicht nur in dem europäisch-amerikanischen Prozess der Modernisierung, der lange zum Paradigma für alle anderen Veränderungen stilisiert wurde, gelten bei genauerem Zusehen unterschiedliche Modernitäten und keineswegs monokausale Verhältnisse zwischen Politik und Modernität. Noch mehr gilt die Einsicht in die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Moderne, wenn sich der Blick auf die globale Situation richtet, auf die Gesellschaften jenseits der europäischen und nordamerikanischen Welt. Hier bestimmen unterschiedliche ökonomische Standards und Abhängigkeiten, verschiedene kulturelle Traditionen und politische Verfassungen die jeweilige Reaktion auf die globalen Entwicklungen und Umbrüche. Sie können bei aller Gleichförmigkeit der Herausforderungen unterschiedliche Geschwindigkeiten und Entwicklungen annehmen. Das zwingt noch einmal zur Veränderung und Anpassung unseres Blicks auf die Moderne, die eine „multiple Moderne!“ (Shmuel N. Eisenstadt) darstellt.

Der Bedeutungsverlust für die Weltrolle Europas im Zeitalter der Weltkriege und die sich entfaltende Vielfalt der Moderne haben auch Auswirkungen auf die methodischen Optionen einer Weltgeschichte im 20. Jahrhundert. Sie wird den chronologisch-entwicklungsgeschichtlichen Zugriff als Mittel der Orientierung nicht ganz aufgeben, muss aber angesichts der Vielfalt der Entwicklungen vergleichend vorgehen und entweder nach einer Beziehungs- und Konfliktgeschichte zwischen den Zentren, deren Bedeutung sich selbst verändert hat, und der Peripherie fragen, oder sie kann sich auf zentrale Themenfelder konzentrieren und diese miteinander vergleichen. Dazu gehören Zivilisationen und Nationen, politische Systeme und gesellschaftliche Bewegungen, Verflechtungen und Transfers von Waren und von Kapital, von Menschen und Ideen in Bewegung. Dieser Ansatz liegt dem vorliegenden Band zugrunde.

wbg Weltgeschichte Bd. VI

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