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Zwischen Demokratie und Diktatur

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Die Neuordnung vor allem der europäischen Welt nach der großen Katastrophe des Ersten Weltkriegs begann im Inneren der Staaten mit durchaus hoffungsvollen Veränderungen. Politisch waren die Institutionen und Werte der liberalen Demokratie offenkundig auf dem Vormarsch, und die Erfahrungen der Barbarei des Großen Kriegs schienen diesen Fortschritt noch beschleunigt zu haben. Spätestens die Massenmobilisierung der europäischen Gesellschaften im Krieg und die Sorge um die Eindämmung des sozialrevolutionären Bazillus in der Folge der bolschewistischen Revolution hatten bei der Mehrheit der politischen Klassen und in der Bevölkerung die Einsicht in die Notwendigkeit beziehungsweise die Forderung nach Demokratisierung beziehungsweise Parlamentarisierung verstärkt. Abgesehen von Sowjetrussland waren alle Staaten, die neu oder erneuert aus dem Weltkrieg hervorgegangen waren, gewählte, repräsentative parlamentarische Regierungen.

Verfassungen in Europa

In den insgesamt 28 europäischen Staaten, auf die sich das Staatensystem als Folge der Nachkriegskonferenzen ausgeweitet hatte, dominierten zunächst die parlamentarischen Verfassungsordnungen, unabhängig davon, ob sie ihre monarchische Spitze (Großbritannien, Italien oder Skandinavien) beibehalten oder republikanische Staatsführungen eingeführt (Deutschland oder Österreich) oder fortgeführt (Frankreich der Dritten Republik) hatten. Gab es 1914 erst drei Republiken in Europa, so war deren Zahl 1919 auf 13 gestiegen – ein Beleg für die mitunter scharfen Brüche im Verfassungssystem. Mit der Republik Irland, die sich zwischen 1922 und 1937 nach heftigen nationalrevolutionären Auseinandersetzungen aus Großbritannien herausgelöst hatte, kam sogar noch eine weitere Republik hinzu. Auch die neuen ostmitteleuropäischen Staaten entschieden sich 1918/1919 für die republikanische Staatsform. Daneben existierten Monarchien fort, die ihre Verfassungsordnung schon vor 1914 einer Veränderung im Sinne der Parlamentarisierung unterzogen hatten, wie Großbritannien, Skandinavien und die Beneluxstaaten. Andere Monarchien wurden als Verbrämung einer autoritären Präsidialverfassung neu begründet, zum Beispiel Ungarn und Albanien. Wieder andere, wie Griechenland und Spanien, verharrten auf dem Status einer vorparlamentarisch-konstitutionellen Monarchie, in der es also eine Pattsituation zwischen monarchischer Macht und parlamentarischer Entscheidungsbefugnis gab. In Jugoslawien, Rumänien und Bulgarien bildeten sich neue monarchisch-autoritäre Systeme heraus. In Italien blieb die parlamentarische Monarchie weiter bestehen, jedoch wurden unter dem Druck der Massenmobilisierung die demokratischen Elemente, wie etwa das Wahlrecht, verstärkt. Die meisten dieser Verfassungsstaaten sollten sich freilich im Laufe der 1920er und 1930er Jahre autoritär beziehungsweise semi-totalitär wie in Italien verformen. Die Zahl der Diktaturen insgesamt wuchs deutlich an, nachdem es seit 1917 mit der bolschewistischen Sowjetunion schon eine erste totalitäre Diktatur gab. Bis zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs spaltete sich Europa in zwei Verfassungslager: die alten parlamentarisch-demokratischen Verfassungsstaaten in Nord- und Westeuropa auf der einen Seite, die traditionellen konstitutionellen und neuen autoritären beziehungsweise totalitären Systeme in Mittel-, Südost- und Südeuropa auf der anderen Seite. Während des Krieges und der deutschen beziehungsweise sowjetischen Besatzung über weite Teile Europas verschwanden weitere sieben von den bis dahin noch verbliebenen elf Demokratien beziehungsweise autoritär-konstitutionellen Systemen. Die parlamentarischen Verfassungsstaaten waren europa- und weltweit, wie der Blick auch auf Lateinamerika zeigt, in eine auffällige Minderheit geraten, und nicht wenige Beobachter sahen in der scheinbaren Effizienz der modernen Diktaturen ein Indiz für ihre vermeintliche Zukunftsfähigkeit.

Merkmale einer Demokratie

Was waren die grundsätzlichen idealtypischen Merkmale einer Demokratie im 20. Jahrhundert, so wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert entwickelt und schrittweise transformiert hatte? Auf jeden Fall gehörten dazu die verfassungsrechtliche Garantie von Freiheit und Grundrechten, das Prinzip der Gewaltenteilung, das Recht auf eine freie politische Vereinigung in Parteien und Verbänden, das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit sowie der institutionell gesicherte politische Wettbewerb um politische Lösungen und Alternativen im Parlament sowie in der politischen Öffentlichkeit. Das waren Normen und Errungenschaften, die teilweise bereits im 19. Jahrhundert realisiert waren. Neu hinzu kamen die Partizipation aller Bürger, Amtsträger und Parteien an dem Prozess der Meinungsbildung und politischen Entscheidung sowie die Garantie dieser Partizipation durch freie, allgemeine Wahlen, ferner das Recht, alle verfassungsmäßigen Rechte vor unabhängigen Gerichten oder einem speziellen Verfassungsgericht einzuklagen. 1918/1919 hatten sich die Demokratien nicht nur geographisch und quantitativ ausgeweitet, auch inhaltlich erfuhren sie eine Ausweitung im Sinne einer zunehmenden Demokratisierung durch den Ausbau demokratischer Institutionen. Dazu gehörten die Entfaltung eines vielgliedrigen Parteiensystems, der Wandel in der Parteienstruktur von der Honoratioren- zur Massen- und Integrationspartei, die Ausdehnung des Wahlrechts und Ansätze zum Ausbau einer sozialen Demokratie und eines Sozialstaates.

Das Wahlrecht

Vor allem das Wahlrecht wurde als sichtbares Zeichen der politischen Partizipation und Gleichberechtigung ausgeweitet und umfasste in einigen Ländern nun auch das Wahlrecht für Frauen. Während in Dänemark, Finnland und Norwegen Frauen auch schon vor dem Ersten Weltkrieg zur Wahl gehen konnten, wurde das Frauenwahlrecht in Belgien, Deutschland, den baltischen Staaten, den Niederlanden, Österreich, Polen und in dem revolutionären Russland ab 1918/1919 eingeführt. Großbritannien folgte 1928, Portugal und Spanien 1931, die Türkei 1934 und Frankreich schließlich nach der Befreiung von der NS-Herrschaft 1944. Damit war eine Grundvoraussetzung für ein konstitutionelles, liberales Regierungssystem, nämlich die freie und allgemeine beziehungsweise gleiche Wahl der Parlamente und Präsidenten, in der unmittelbaren Nachkriegszeit in allen unabhängigen Staaten in Europa und Amerika verwirklicht. Freilich lebte zu dieser Zeit ein Drittel der Weltbevölkerung unter Kolonialherrschaft, und überdies gab es Staaten, in denen es überhaupt keine oder nur ganz wenige Wahlen gab, die dann bald wieder abgeschafft wurden. Zur ersten Kategorie gehörten Äthiopien, die Mongolei, Saudi-Arabien und der Jemen, zur zweiten Afghanistan, China, Guatemala, Paraguay und Thailand, was nicht für deren Anerkennung demokratischer Verfahrensregeln spricht.

Wandlung des optimistischen Bildes

Erst mit den ersten Krisenphänomenen der liberalen Demokratie Mitte der 20er Jahre sollte sich dieses insgesamt optimistische Bild ändern. Zwischen Benito Mussolinis „Marsch auf Rom“ 1922 und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs waren parlamentarische, gewählte Regime mit ihren liberalen Institutionen auf einem dramatischen Rückzug. Nur die „alten Demokratien“, die auch den Ersten Weltkrieg überstanden hatten, vor allem in West- und Nordeuropa und in den USA, erwiesen sich als einigermaßen stabile Bollwerke der parlamentarischen, repräsentativen und liberalen Verfassungsordnung. Auch auf dem amerikanischen Kontinent gab es nur einige Staaten, die ununterbrochen eine gesicherte Verfassungsordnung besaßen und nicht ins autoritäre Lager abdrifteten. Das waren vor allem Kanada und die USA, Kolumbien, Costa Rica und Uruguay. Diese Entwicklung, die mehrheitlich einen Kurs nach rechts, zu autoritären und radikalnationalistischen Systemen nahm (während in Lateinamerika das Pendel gelegentlich zur extremen Rechten wie zur Linken ausschlug), stand im krassen Gegensatz zu den Hoffnungen und Erwartungen, die man nach dem Ende des Ersten Weltkriegs haben konnte, als viele Zeitgenossen das Fortschreiten der liberalen Regime für fast selbstverständlich hielten. Schließlich hatten die Werte, die für viele europäische Gesellschaften schon vor 1914 gegolten hatten, sich offenbar bewährt und als siegreich erwiesen. Dazu gehörten das Misstrauen gegen jede Form von Diktatur und absoluter Herrschaft, die Orientierung an konstitutionellen Regierungsformen und freien Parlamenten, die Anerkennung der Menschen- und Bürgerrechte, insbesondere der der Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit. Nur die Vertreter und Anhänger des Ancien Régime hatten sich vor 1914 entschieden gegen diese Liberalisierung und Demokratisierung gewandt und nach 1918 teilweise nur aus Gründen der Anpassung und der sozialen Existenzsicherung sich zu dieser neuen Verfassungsordnung als Lippenbekenntnis bekannt. Zudem hatten, was wichtig für die Verbreiterung der Demokratisierung und Parlamentarisierung war, auch die Repräsentanten der bis dahin größten Massenbewegung, der sozialistischen Arbeiterbewegung, nach heftigen inneren Debatten und Lernprozessen und trotz der Anfeindung als „vaterlandslose Gesellen“ sowie Akteure einer revolutionäre Bedrohung sich auf den Boden der parlamentarischen Demokratie begeben und diese auch, wie das Beispiel der deutschen Sozialdemokratie 1918/1919 zeigt, gegen die politischen Feinde der freiheitlichen Demokratie vor allem von links verteidigt.

Gleichwohl sollte es bald fast überall in Europa eine Massenmobilisierung von links und rechts gegen die neue liberale Ordnung geben. Diese hatte nicht überall Erfolg, aber sie trug ganz wesentlich zur Verunsicherung und Gefährdung der neuen Demokratien bei und machte die politische Landschaft der Zwischenkriegszeit zum Schauplatz einer fundamentalen Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Diktatur. Die Legitimations- und Handlungsschwäche der demokratischen Verfassungssysteme erlaubte zudem die Durchsetzung alternativer, nicht-legaler Handlungsformen, wie der Bürgerkriege, politischer Gewalt und der Flucht in autoritäre Ordnungsmuster. Von diesen Gegensätzen und Gefährdungen der Demokratie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich nach 1945 fortsetzen sollten, wird im Folgenden die Rede sein.

Strukturprobleme der jungen Demokratien

Freilich kamen die Gefährdungen der Demokratie nicht nur von ihren Feinden aus dem politischen Extremismus. Auch die Strukturprobleme der jungen Demokratien selbst und die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen, unter denen sich die neuen Ordnungen entfalten mussten, waren alles andere als günstig. Zu diesen Strukturproblemen gehörte die Zersplitterung des Parteiensystems und die mangelnde Konsens- und Kompromissfähigkeit als Folge der Wahlrechtsreformen und der mangelnden Adaptions- und Lernfähigkeit der Bürger, die sich noch tief in vorparlamentarischen und vordemokratischen politischen Kulturformen und Denkweisen bewegten. Umgekehrt unterhöhlte auch die wachsende Fragmentierung und Mobilisierung der industriellen Gesellschaft die politische Kommunikation und Konsensbildung im Parlament, das seine Funktion als Ort einer rationalen Diskussion und politischen Vermittlungen angesichts der politisch-gesellschaftlichen Polarisierung und Emotionalisierung immer weniger erfüllen konnte. Stattdessen wurde es von den Gegnern der parlamentarischen Demokratie nur als Ort der Agitation und demonstrativen Obstruktion missbraucht.

Veränderung des Wahlrechts

Mit der Forderung nach Demokratisierung verbunden war auch oft die Veränderung des Wahlrechts hin zu einem Verhältniswahlrecht, was die Erfordernisse der demokratischen Chancengleichheit besser zu garantieren schien sowie in Italien und Deutschland beispielsweise durch die Organisation von Listenwahlen und nicht mehr von einer persönlichkeitsorientierten Direktwahl zum größeren Einfluss von Parteien im politischen Leben und parlamentarischen Entscheidungsprozess führte. Viele Parteien, vor allem wenn sie noch starke Elemente von Honoratiorenparteien besaßen, hatten allerdings Probleme, ihre politischen Aktions- und Entscheidungsformen auf die neuen Herausforderungen des Wahlrechts einzustellen. Das sollte unter den Bedingungen der internationalen politischen und wirtschaftlichen Krisenherde die Flucht in die autoritären und totalitären Gegenmodelle begünstigen. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Funktionieren der neuen Verfassungs- und Wahlsysteme bestand in der Existenz einer demokratischen politischen Kultur, die nach dem mitunter raschen Übergang von vordemokratischen Verhältnissen in die neue Verfassungsform jedoch fehlte. Aus Untertanen mussten Staatsbürger werden, welche die politischen und verfassungsrechtlichen Normen der Demokratie nicht nur kannten, sondern auch akzeptierten und sowohl im politischen Handeln wie in der alltäglichen Sozialkultur praktizierten.

Sozial- und Wohlfahrtspolitik

Eine zusätzliche Chance der Integration und auch der Legitimation der neuen Ordnung boten auch die verstärkten staatlichen Interventionen im Bereich von Sozial- und Wohlfahrtspolitik. Der demokratische Staat, wie etwa die Weimarer Republik, definierte sich ausdrücklich als sozialer Rechtsstaat und übernahm, auch aus Sorge vor einer möglichen sozialen Radikalisierung, zusätzliche Verpflichtungen im Bereich sozialer Sicherung und eines sozialen Ausgleich durch staatliche Intervention in der gemeinnützigen Daseinsvorsorge. Das setzte etwa in Deutschland Traditionen des Kaiserreichs fort, verbreiterte aber den Aufgabenkatalog. Überdies versuchte man, den Prozess der Demokratisierung auch im Bereich von sozial- und wohlfahrtspolitischen Entscheidungen durch die Einbeziehung von Verbänden zu unterstützen. Andere europäische Nachbarstaaten zogen nach und bauten im Verlauf der Zwischenkriegszeit oder während des Zweiten Weltkriegs ähnliche sozialpolitische Steuerungsmaßnahmen und -institutionen ein. Es entstand ein System weitreichender Verflechtung und Organisationen von Staat und Gesellschaft, von Verwaltung, Parteien und Verbänden, das als Korporatismus bezeichnet wird und ursprünglich die Demokratisierung festigen sollte. Die Tatsache, dass ähnliche Maßnahmen, wenn auch ohne demokratischen Grundgedanken, auch in Diktaturen oder während ihres Durchsetzungsprozesses genutzt wurden, wie das Beispiel Italiens verdeutlicht, zeigt die Ambiguität solcher Veränderungen, die nur dann demokratiefestigend wirkten, wenn sie von einer entsprechenden demokratischen politischen Kultur begleitet wurden. Wo diese nur schwach ausgebildet und in den Köpfen der Menschen noch wenig verankert war, wirkten sich diese Vernetzungen und zusätzlichen Staatsaufgaben durchaus kontraproduktiv aus. Gerade das Beispiel der Weimarer Republik zeigt, dass mit der Übernahme einer Vielzahl sozial- und wohlfahrtsstaatlicher Verpflichtungen der Verfassungsstaat sich zwar eine zusätzliche Legitimation zu verschaffen suchte, angesichts der dramatischen wirtschaftlichen und sozialen Not aber in der Bewältigung der eingegangenen Verpflichtungen enge Grenzen durch die leeren Kassen gesetzt bekam und die Leistungen, die er selbst proklamiert hatte, nicht mehr erfüllen konnte. Das wirkte sich nachteilig auf die politische Akzeptanz des Verfassungsstaates aus, der nun – insbesondere von radikalen Agitatoren – für alle Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht wurde. Vor allem die NS-Propaganda verstand es, jede individuelle Verzweiflungstat eines Arbeitslosen in der großen Krise der frühen 1930er Jahre reißerisch dem „System“ anzulasten.

Die Weimarer Republik

Damit sind die vielschichtigen Belastungen institutioneller, wirtschaftlicher und mentaler Art angedeutet, die neben den wirtschaftlichen und politisch-psychologischen Belastungen durch die unerwartete Niederlage im Krieg und die als Schmach empfundene Friedensregelung das Scheitern der Weimarer Republik erklären können, einer Verfassungsordnung, die in der Verfassungstheorie als durchaus vollkommen zu charakterisieren ist, der es aber an den entscheidenden Rahmenbedingungen zu ihrer erfolgreichen Umsetzung fehlte. Die Weimarer Republik und ihr anschließendes Scheitern gelten darum auch in der internationalen wissenschaftlichen und öffentlichen Wahrnehmung als Paradigma für die Strukturprobleme einer modernen Demokratie unter den dramatischen Bedingungen der Zwischenkriegszeit. Deutschland, das zu einem Hauptfaktor der internationalen Politik und zum Testfall für die Funktionsfähigkeit des Systems des Völkerbundes und der kollektiven Konfliktregelung werden sollte, wurde auch zum Schauplatz zentraler verfassungs- und gesellschaftspolitischer Konflikte und Entscheidungen der Zwischenkriegszeit und wird darum auch im Mittelpunkt der folgenden systematischen Betrachtungen stehen. Das gilt auch trotz des Einwandes, dass die Verfassungsordnung des Deutschen Reiches im Unterschied zum italienischen Beispiel noch ihre erste schwere politische Krise 1923 überstanden hatte und sogar die Chance einer Stabilisierung zu besitzen schien, um dann erst unter den Bedingungen der Wirtschafts- und Staatskrise von 1930 bis 1933 endgültig zu scheitern.

Soziale und wirtschaftliche Innovationen

Die Weimarer Republik besaß eine verfassungstheoretisch als modern und perfekt geltende Verfassung, war aber umgekehrt politisch äußerst instabil. Diese Instabilität hatte mit dem Odium zu tun, das der Verfassung von Beginn an in der Wahrnehmung ihrer Gegner anhaftete: Sie galt als Produkt der alliierten Sieger und der militärischen Niederlage. Gleichwohl hatte sie durchaus Überlebenschancen, gab es doch nicht wenige und durchaus bedeutende Politiker, die sich allmählich zu Vernunftrepublikanern oder sogar zu überzeugten Demokraten verwandelten, wie etwa Matthias Erzberger vom katholischen Zentrum oder Gustav Stresemann von der nationalliberalen DVP. Nicht nur ihr Beispiel, sondern auch wichtige und neue Kontinuitäten stiftende Einrichtungen wie ein breites Spektrum sozialer Rechte zeigen, dass es verfehlt wäre, die Weimarer Republik, die mit ihrer Gründung der radikalen Revolutionsdrohung geradezu abgerungen worden war, nur unter der Perspektive ihres Scheiterns zu sehen. Zu den sozial- und wirtschaftspolitischen Innovationen gehörten die Einführung eines Wirtschaftsrates, der an der Spitze von Arbeiterräten stand und in wirtschaftspolitischen Grundsatzfragen beteiligt werden sollte, zusätzlich das Recht auf Arbeit, auf tarifliche Lohnregelungen und Schlichtungseinrichtungen und die Anerkennung der Gewerkschaften als Sozialpartner. Das waren neue Elemente auch in der europäischen Politik, die erst in der zweiten Nachkriegszeit zum Tragen und zu voller Wirkung kamen.

Stabilisierung – Radikalisierung

Daneben hatten sich ausgehend von der Reichstagsmehrheit von 1917, die eine Friedensresolution eingebracht hatte und für Verständigungsfrieden eingetreten war, eine politische und verfassungtragende Kooperation der größten Parteien der jungen Republik herausgebildet, die zugleich einen sozialen Kompromiss zwischen den verschiedensten sozialen Milieus von Katholizismus, reformistischer Arbeiterbewegung und liberalem Bürgertum zu gewährleisten schien. Auch die gesellschaftspolitischen Kompromisse, die nach dem Sturz der Monarchie bereits im November und Dezember 1918 zwischen Armee und sozialdemokratischer Arbeiterbewegung (Ebert-Groener-Pakt) sowie zwischen Gewerkschaften und Unternehmern (Stinnes-Legien-Abkommen) gefunden wurden, sprachen für die Fähigkeit zum Ausgleich und zur Stabilisierung, obwohl sie nicht lange Bestand hatten. Denn vor allem die Loyalität der monarchisch eingestellten und sich durch den Versailler Vertrag gedemütigt empfindenden Armee und ihres Offizierskorps zur Republik blieb prekär und basierte allenfalls auf einer kritisch-neutralen Distanz. Wie fragil dieser Zustand war, zeigte sich bereits bei der ersten schweren Herausforderung, dem Kapp-Lüttwitz-Putsch, dem ersten Angriff auf die Republik von rechts, der von Großgrundbesitzern und Industriellen unterstützt wurde. Zwar brach der Putsch nach einem Generalstreik zusammen, doch es hatte sich gezeigt, dass der Großteil der Reichswehr gegenüber den nationalistisch-autoritären Feinden der Republik bestenfalls eine neutrale Position einnahm. Als eine der Folgen der politischen Radikalisierung und Polarisierung der Jahre 1920 und 1921 verlor die verfassungtragende Weimarer Koalition von SPD, Zentrum und DDP ihre absolute Mehrheit und sollte diese nie wieder erreichen. Vor allem der allmähliche Niedergang der bürgerlich-liberalen DDP, der sich fortsetzen sollte, kündigte die Erosion des Parteiensystems, insbesondere der bürgerlichen Mitte, an, was einen deutlichen Hinweis auf den Loyalitätsverlust der republikanischen Verfassungsordnung gab.

Republikfeindliche Bewegungen

Dass die Verfassungsordnung der Weimarer Republik, die mittlerweile unter der Führung von Stresemann auch von der nationalliberalen DVP mitgetragen wurde, das dramatische Krisenjahr 1923 überstand, hatte seine Ursachen einmal in der innen- und außenpolitischen Problemkumulation, die zu einer gegenseitigen Paralyse der Gefährdungen von links und rechts führte, und andererseits in dem geringen Interesse der alten republikfeindlichen Eliten, die Macht zu einem Zeitpunkt zu übernehmen, wo der Außendruck auf die Weimarer Republik durch die ungeklärte Reparationsfrage so groß war, dass eine nationalistische, verständigungsunwillige Rechtsregierung kaum die Unterstützung durch England und die USA bei der Lösung der dramatischen Finanzsituation erhalten hätte. So bekam die Republik, auch dank der amerikanischen Stabilisierungspolitik durch die Bankiers Charles Gates Dawes und später Owen D. Young, noch einmal die Chance zur Konsolidierung. Doch die scheinbare Normalisierung Mitte der 20er Jahre, die im Lichte der kulturellen Blütezeit des hauptstädtischen Berlin gerne als die „Goldenen Zwanziger Jahre“ bezeichnet und verklärt werden, war in wirtschaftlicher, finanzpolitischer und politisch-kultureller Hinsicht eine Scheinblüte. Keines der langfristigen Strukturprobleme war in der kurzen Zeit wirklich zu lösen, und auch die weitgehende Anpassung der Politik an die Erwartungen deutschnationaler Kreise änderte nichts an der Fortexistenz einer republikfeindlichen nationalistischen Bewegung, die bald in der NSDAP ihre radikalste Repräsentation erfuhr. Der Feind von rechts existierte weiter und wartete auf seine Chance, und auch die revolutionäre KPD behielt weiterhin eine starke politische Position trotz ihrer offenkundigen inneren Bolschewisierung und ihres diktatorischen Moskau-Kurses. Im Augenblick der Großen Depression und der Verfassungskrise waren die beiden Flügel wieder massenwirksam, und auch die Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft stieg wieder an. Die Republik hätte allenfalls bei einer längeren Dauer der relativ günstigen konjunkturellen Entwicklung die Chance auf eine erfolgreiche Stabilisierung und Anpassung an die demokratische politische Kultur gehabt. Doch bei allen ihren Experimenten blieb der Weimarer Republik nicht nur eine immer schmaler werdende gesellschaftlich-politische Basis, sondern es blieb ihr auch nur noch sehr wenig Zeit. Das wird deutlich, wenn man die kurzen Jahre der Konsolidierung von 1924 bis 1929 gegen die wirtschaftlichen und politischen Krisenjahre zu Anfang (1918–1923) und zu Ende (1929–1933) der Republik setzt.

Verfassungssysteme in Frankreich und England

Auch wenn die Weltwirtschaftskrise nach 1929 zu einer notwendigen Voraussetzung für das Scheitern der Weimarer Republik gehört, erklärt sie diesen dramatischen Zusammenbruch von Verfassung und Normenstaat nicht allein. Die Große Depression und die Massenarbeitslosigkeit, die alle westlichen Industriestaaten mehr oder weniger heftig trafen, führten beispielsweise in Westeuropa oder in den USA nicht zum Zusammenbruch der parlamentarischen Ordnung, allenfalls zu deren Erschütterung und partiellen Veränderung. Es empfiehlt sich also, bevor wir den Blick auf die politischen Ordnungsformen in der Weltwirtschaftskrise werfen, vergleichend und stellvertretend für andere auf die Verfassungssysteme in Frankreich und England zu blicken.

Polarisierung und Brutalisierung der Politik

Grundsätzlich kann man als Ergebnis eines solchen Vergleichs festhalten, dass der Blick auf das politische Leben der 20er Jahre auch in Paris und London nicht ermutigend ist. Überall beobachtet man einen Zerfall des bürgerlichen Parteiensystems der Mitte und eine Unfähigkeit der Parteien, die in Bewegung geratene Gesellschaft zu organisieren und in das politische System dauerhaft zu integrieren. Das hatte seine Gründe in der Koinzidenz der Demokratisierung mit einer verstärkten Organisation gesellschaftlicher Interessen in Verbänden und anderen sozialen Gruppen beziehungsweise Milieueinrichtungen. Hinzu kam eine deutlich angewachsene Polarisierung und Brutalisierung der Politik als Folge des Erlebnisses des totalen Krieges. Politisches Handeln nahm die Form des Kampfes, der Demütigung und tendenziellen Ausschaltung oder gar Vernichtung des politischen Gegners an, der zum Feind geworden war. Das fand seinen Niederschlag vor allem in der politischen Sprache, die von Hass und Verachtung für den Gegner und den Fremden geprägt war. Das Freund-Feind-Denken beherrschte die politische Kultur, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich und – wenn auch vermutlich in einem geringeren Ausmaß – selbst im nüchternen England. Das machte eine Koalitionsbildung und Kompromissfindung im Parlament und unter den Parteien zunehmend schwieriger.

Überstehen der Dauerkrise

Warum überstanden dennoch die politischen Demokratien in Frankreich und England die Dauerkrise der 20er Jahre, die mit der Großen Depression eine weitere Verschärfung erleben sollte? Auch in Frankreich hatte der Krieg, ähnlich wie in Großbritannien, die inneren sozialen Spannungen und die politischen Konflikte zwischen der politischen und militärischen Führung verstärkt. Aber in beiden Ländern behaupteten starke Repräsentanten des politischen Systems, Georges Clemenceau und David Lloyd George, die Vorrangstellung der zivilen, parlamentarisch legitimierten Führung. Ihre Machtstellung wurde in den ersten Nachkriegswahlen im November beziehungsweise im Dezember 1918 bestätigt. Dabei wurde erkennbar, wie sehr der siegreiche Ausgang des Krieges die beiden politischen Systeme stärkte und erneut legitimierte. Das verhinderte freilich nicht, dass bald nach dem kurzen Nachkriegsboom die Stabilität der politischen Institutionen angesichts neuer wirtschaftlicher und sozialer Herausforderungen und der ungelösten Frage, wer für die Folgen von Krieg und Inflation aufkommen sollte, auch in Westeuropa in eine tiefe Krise geriet.

Schwankende Mehrheitsverhältnisse in Großbritannien

Bei den sogenannten Khaki-Wahlen in Großbritannien im Dezember 1918 wurde noch einmal ein sehr patriotisches und konservatives Parlament gewählt, und das neue Kabinett regierte mit einer starken Mehrheit im Unterhaus und – begünstigt durch einen kurzen Nachkriegsboom mit einer harten Sparpolitik – fast unangefochten bis 1921. Zwar verschärften sich die sozialen Spannungen durch eine radikale Arbeiterpolitik und die Auflösung der alten Arbeiterallianzen, aber bei den Wahlen im November 1922, nachdem die konservativen Abgeordneten die Regierung gestürzt hatten, dominierten die Konservativen mit ihren liberalen Bündnispartnern. Auch bei den nächsten Wahlen vom Dezember 1923 behielten die Konservativen ihren Stimmenanteil, aber nun begünstigte das Wahlsystem den weiteren Aufstieg der Labour Party, die nun mit den Liberalen koalierte. Zum ersten Mal wurde mit Ramsay MacDonald ein Labour-Politiker zum Premierminister gewählt. Während sich MacDonald vor allem in die Außenpolitik kniete und gegen die politischen Interessen Frankreichs auf einen Verständigungskurs mit Deutschland in der Reparationsfrage steuerte, wurde bald wieder eine Neuwahl nötig, weil nun die Liberalen gegen den Premier votierten. Es folgte eine fast fünfjährige Amtszeit des Konservativen Stanley Baldwin, der mit der Rückkehr zum Goldstandard eine rigide Deflations- und Stabilisierungspolitik betrieb, die zu Lasten überkommener gesellschaftlicher Konventionen ging. Auf Seiten der Arbeiter war schon 1920 die Koalition der Gewerkschaften zerbrochen und auch die Arbeitgeber scheiterten mit ihren zollpolitischen Vorstellungen. Die Gewerkschaften reagierten auf ihren Machtverlust mit einem Generalstreik, der von der Regierung für illegal erklärt wurde. Der Streik scheiterte und konnte den Machtverlust der Gewerkschaften nicht aufhalten. Die Neuwahlen von 1929 brachten hingegen einen Erfolg von Labour und die zweite Labour-Regierung unter MacDonald.

Anpassungsfähigkeit – Blockade

Trotz dieser schwankenden Mehrheitsverhältnisse bewiesen beide Nationen ihre Fähigkeit, das politische System an neue Herausforderungen anzupassen. In England wurde das Wahlrecht mit dem Anstieg der Wahlberechtigten von 8,3 Millionen auf 21,4 Millionen erneut ausgeweitet und zum allgemeinen Wahlrecht ausgebaut. Außerdem veränderte sich die Struktur des Parteiensystems, das bei aller Kontinuität durch den Aufstieg der Labour Party (und den Niedergang der Liberalen nach dem Ausscheiden von Lloyd George im Herbst 1922) sich den veränderten sozialen Konstellationen anpasste und die sozialen Unterschichten stärker in die politisch-sozialen Bauformen Englands integrierte. Der soziale Wandel, der durch den Krieg beschleunigt worden war, fand mithin eine angemessene politische Repräsentation. Der Koalitionswechsel, der als legitimes Element des politischen Systems und nicht als politische Katastrophe verstanden wurde, war zudem geeignet, bei wichtigen Fragen eine rasche Anpassung an veränderte politische Stimmungslagen oder bei Sachfragen Korrekturen vorzunehmen. Gleichwohl blieben viele Probleme ungelöst und Entscheidungen blockiert. Dass das Frauenwahlrecht in Frankreich erst 1944 als Ausdruck eines politischen Neuanfangs der Vierten Republik eingeführt wurde, war ein bezeichnendes Symptom einer solchen Blockade. Trotz eines zustimmenden Votums der Nationalversammlung wusste eine Koalition aus traditionalistischen Bewahrern und linken, laizistischen Maximalisten im Senat dies in den 1920er Jahren zu verhindern, weil die Linke durch das Frauenwahlrecht eine Stärkung kirchlich-katholischer Positionen befürchtete. Als sich die innenpolitischen Konflikte in den 1930er Jahren auch in Frankreich als Folge der Weltwirtschaftskrise verschärften, funktionierte das System der Koalitionswechsel als Mittel der Anpassung und der Verhinderung des Bürgerkriegs immer weniger, und der innere Machtverfall der Dritten Republik sollte sich beschleunigen – freilich stärker durch neue außenpolitische Herausforderungen als durch innere Gegensätze herbeigeführt. Grundsätzlich waren überall Außen- und Innenpolitik eng miteinander verschränkt, und die Zäsuren der Innenpolitik waren auch von außenpolitischen Entwicklungen und Entscheidungen herbeigeführt. Stellt man noch einmal die Frage, warum trotz durchaus vergleichbarer Probleme und politischer Konstellationen beziehungsweise Strategien nur das politische System in Deutschland und vorher auch schon in Italien in ein autoritäres beziehungsweise totalitäres Abenteuer abdriftete, dann liegt die Antwort wiederum in den Unterschieden in der politischen Kultur, deren demokratisch-liberale und pluralistische Grundüberzeugungen in Frankreich und England stärker ausgeprägt waren und trotz aller Krisen stabilisierend wirkten. Das sollte sich vor allem bei den Krisen der 1930er Jahre zeigen.

Stabiles politisches System

Anders verlief die Anpassung des politischen Systems Frankreichs an die alten und neuen Herausforderungen und gesellschaftlichen Probleme. Gemessen an der Häufigkeit der Regierungswechsel war Frankreich offensichtlich noch instabiler als Deutschland und England. Doch konnten die politischen Repräsentanten und Wähler mit diesem Symptom der Instabilität besser umgehen, auch weil die Parteien selber weniger kompakt und fest organsiert waren. Das Parteiensystem zeigte eine weitgehende Kontinuität, und auch die traditionellen Parteienkonflikte mitsamt der Zersplitterung der Parteien blieben erhalten. Das führte zwar zu permanenten politischen Balanceakten und war von der ständigen Gefahr einer politischen Selbstblockade des Systems geprägt, jedoch gelang es Parlament und Regierung in entscheidenden Situationen doch auch wieder, durch wechselnde Koalitionen und Regierungen auch mitten in der Legislaturperiode Entscheidungen in den zentralen finanz-, wirtschafts- und außenpolitischen Konflikten und Problemen zu treffen, ohne dass bei jeder Regierungs- und Koalitionskrise Neuwahlen angesetzt werden mussten, wie das in der Weimarer Republik häufig der Fall war.

Ähnlich wie in England stand Frankreich nach dem kurzen Nachkriegsboom vor der Notwendigkeit, mit drastischen Sparmaßnahmen eine Haushaltskonsolidierung einzuleiten. Gleichsam wie in Deutschland spaltete das Erbe von Krieg und Inflation sowie die gesellschaftspolitische Hauptfrage, wer die Kosten der Konsolidierung zu zahlen habe, die französische Gesellschaft entlang ihrer sozialen Klassenlinien. In der politischen Repräsentation dieser Gegensätze kam es immer wieder zu wechselnden Mehrheiten und Koalitionen. Dabei gilt die grundsätzliche Beobachtung, dass in Phasen einer Mitte-Links-Regierung vor allem der internationale politische Ausgleich vorangetrieben wurde, während Mitte-Rechts-Koalitionen vor allem harte Sparmaßnahmen und gesellschaftspolitische Veränderungen durchsetzten, die ihrer gesellschaftlichen Klientel entgegenkamen. Das galt vorübergehend auch für die deutsche Politik in der Phase der Stabilisierung von 1924 bis 1929 unter der maßgeblichen Politik von Außenminister Gustav Stresemann, der sich bei seiner Politik der Verständigung auf andere Koalitionen stützen konnte, als dies in der Innen- und Gesellschaftspolitik der Regierungen des Bürgerblocks üblich war. Diese auffällige Parallelität der Konstellationen und politischen Strategien zwischen Frankreich, England und Deutschland war Voraussetzung für die Ansätze einer internationalen Konfliktregelung und kurzfristigen Entspannung, die unter dem Namen Locarno-Politik in die Geschichtsbücher eingegangen ist und mit der Veränderung der innenpolitischen Machtkonstellationen sowie einer verschärften nationalistisch-aggressiven und protektionistischen Politik mit dem Beginn der Großen Depression sich wieder rasch verändern sollte.

Innenpolitische Stabilisierung?

Ähnlich wie in England beendete auch in Frankreich ein gescheiterter Generalstreik den Kriegskorporatismus der Linken und eine klassenübergreifende Kooperation. Damit trat gleichzeitig eine Schwächung der Arbeiterbewegung ein. Sie wurde in Frankreich durch die Spaltung zwischen Sozialisten und Kommunisten, die bis 1936 in der politischen Isolation blieben, noch verstärkt. Nach der vorübergehenden ultranationalistischen Politik des Hardliners Raymond Poincaré, der 1923 mit der Besetzung des Ruhrgebiets den Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft und Politik beschleunigte, aber selbst den erwünschten Erfolg nicht einfahren konnte, drehte sich in der Stabilisierungsphase der internationalen Politik auch innenpolitisch der Wind. 1924 kam es zu einem „Linkskartell“ in Form einer Mitte-Links-Regierung unter Édouard Herriot, der zusammen mit seinem Außenminister Aristide Briand eine Politik der Kompromisse mit der Weimarer Republik betrieb, aber schließlich an der ungelösten Finanzkrise scheiterte. Im Juli 1926 kam Poincaré während der heftigen Geld- und Finanzkrise mit der Unterstützung von der Mitte bis Rechts wieder an die Macht und konnte die Währung erfolgreich stabilisieren, was der französischen Wirtschaft günstige Bedingungen bescherte, aber den internationalen Machtverlust des Landes nicht stoppen konnte.

Strategien zur Krisenminimierung

Überall in den europäischen Parlamenten, sofern sie noch funktionierten, gestaltete sich angesichts der starken Zersplitterung des Parteiensystems (mit Ausnahme von England) die Koalitionsbildung meistens sehr schwierig. Sie wurde unter den Bedingungen der wirtschaftlichen Krisensituation noch komplizierter. Es gehörte fast schon zur Regel, dass die Heterogenität der Koalitionsregierungen zu relativ kurzen Amtszeiten führte, die durch Neuwahlen oder durch neue Koalitionsbildungen ohne vorherige Parlamentsauflösung immer wieder abgelöst wurden. Strategien zur Minimierung der Krisen bei der Koalitionsbildung und zum Umgang mit der parlamentarischen Dauerkrise bestanden vielerorts in der Einrichtung von Koalitionsausschüssen zur internen Kompromissfindung (bspw. in der Tschechoslowakei), in der Ausweitung der Kompetenzen des Parteienstaates bis auf die Stellenbesetzungen in der öffentlichen Verwaltung nach dem Proporzsystem, in der Einführung eines Kartells bei der Beteiligung verschiedener Parteien an der Regierung (bspw. in der Schweiz) und vor allem in der Einrichtung neokorporativer Elemente im Ausgleich zwischen Staat, Parteien und Verbänden, wie dies in Deutschland seit den frühen 20er Jahren informell geschah.

Drei Varianten der Regierungsbildung

Diese Konzepte konnten in vielen Staaten jedoch nur bedingt eine fortschreitende Destabilisierung des politischen Systems verhindern. Zuerst scheiterten die Reformkoalitionen der unmittelbaren Nachkriegszeit, die unter dem Eindruck der materiellen und sozialen Notlagen sowie der nationalen Integrations- beziehungsweise Identitätsprobleme zustande gekommen waren, vor allem wenn die finanzielle und wirtschaftliche Stabilisierung anstand, die alte soziale Interessengegensätze wieder aufriss, recht früh: in Deutschland 1920, in Italien 1922. In Frankreich gab es eine solche sozial-liberale Zwischenphase überhaupt nicht, sondern sehr bald das Wechselspiel zwischen Mitte-Rechts-Koalitionen und dem Mitte-Links-Bündnis (cartel des gauches). In der Mitte der 20er Jahre hatten sich drei idealtypische Varianten der Regierungsbildung in den kontinentaleuropäischen Parlamenten herausgebildet: erstens eine Pattsituation zwischen bürgerlichen Parteien und Arbeiterparteien (Deutschland, Österreich), die zur wechselnden Koalitionsbildung oder bei bürgerlicher Regierungsführung zur punktuellen parlamentarischen Unterstützung bestimmter Entscheidungen durch die sozialdemokratische Linke führte; zweitens die Regierung durch Minderheitenkabinette, deren Tolerierung freilich einen stabilen politischen Grundkonsens voraussetzte; drittens begünstigten Koalitionskrisen beziehungsweise die Unfähigkeit, eine geschäftsfähige Regierung zu bilden, in einer ersten autoritären Welle das Abgleiten in vorübergehende oder dauerhafte autoritäre Regierungsformen, die mit Notverordnungsmaßnahmen gegen Parteien und Parlamente Entscheidungen trafen. Mit der Verschärfung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisensituation sollte diese Variante immer häufiger auftreten.

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