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Entscheidungsfindung und Debattenschauplätze – Wo bleibt das Parlament?

von Wolfgang Kubicki

Die Gesundheitskrise, die uns seit Anfang des Jahres 2020 beschäftigt, hat sich längst ausgeweitet in eine wirtschaftliche, soziale und politische Krise. Und als wäre das nicht genug, müssen wir darüber hinaus feststellen, dass auch unser Demokratie- und Freiheitsverständnis in einem Maße unter Rechtfertigungszwang steht, den ich mir am Anfang des Jahres 2020 nicht habe vorstellen können. Die deutlichen, teils fast dramatischen Appelle führender Verfassungsrechtler zur Beteiligung des Bundestages zeigen den Ernst, mit dem wir uns der Frage zuwenden sollten, wie wir die Spielregeln unserer Verfassung wieder ernster nehmen. Das gilt zuvorderst für die Rolle des Deutschen Bundestages, der als einzig direkt vom Volk gewähltes Verfassungsorgan eine besondere Stellung hat.

Glückliche Jahre seit 1949

Die Geschichte des gesamtdeutschen Parlamentarismus reicht weit bis ins 19. Jahrhundert zurück. Trotzdem beginnt das kollektive demokratische Gedächtnis vor allem mit der Konstituierung der Bundesrepublik und fußt damit auf der Geschichte des Deutschen Bundestages. Zu bitter war die Erfahrung des Scheiterns der Weimarer Republik und mit ihm verbunden der Weg in die Katastrophe von Diktatur, Weltkrieg und Völkermord. Denkt man in Deutschland an die Demokratiegeschichte vor 1949, so meistens in negativer Abgrenzung zu den Konstruktionsfehlern der Weimarer Verfassung. Dahinter geriet über die Jahrzehnte leider ein bisschen in Vergessenheit, wie hart errungen der Kampf um eine starke gesamtdeutsche Volksvertretung schon zuvor war und dass die bloße Existenz einer Volksvertretung noch lange nicht bedeutet, dass sie jenen Platz in Verfassung und Staatspraxis zugebilligt bekommt, der ihr zustehen sollte. Die Geschichte des deutschen Parlamentarismus bietet unterschiedliche Beispiele für diese Entwicklungen. Angefangen von den gescheiterten Bemühungen der Frankfurter Nationalversammlung 1848 über ein um Selbstbehauptung ringenden Reichstag unter der Bismarck’schen Reichsverfassung bis hin zum Reichstag nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und seinem fatalen Scheitern.

Der Deutsche Bundestag wurde in seiner Anfangszeit von Menschen geprägt, die all dies vor Augen gehabt haben dürften, genauso wie zuvor schon die Mütter und Väter des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat. Der Erfolg der Bundesrepublik als demokratischer Rechtsstaat dürfte nicht unwesentlich mit den Erfahrungen dieser Menschen zusammenhängen. Gab es Konflikte um die Rechtsstellung des Parlaments, so blieb der geordnete Gang vor das Bundesverfassungsgericht, um diese Rechte klären zu lassen. Wirkliche existenzielle Fragen stellten sich für den Bundestag in über sieben Jahrzehnten weniger. Trotzdem war er stets das Zentrum der politischen Auseinandersetzung und Schauplatz prägender und nachhallender Debatten. Eine starke Verfassung, geprägt von starken politischen Persönlichkeiten, hatte vorgesorgt und diesem Land die glücklichsten Jahre des Parlamentarismus beschert. Nachdem sich 1990 die Ostdeutschen nach der mutigen und friedlichen Revolution dem Geltungsbereich des Grundgesetzes angeschlossen hatten, war dies auch endlich wieder eine gesamtdeutsche Erfahrung.

Die Gewissheit um die Stabilität unserer Demokratie und das Vertrauen in die Stärke des Grundgesetzes hat unsere Gesellschaft vielleicht auch nachlässig gemacht. Zwischenzeitlich konnte man sogar den Eindruck gewinnen, die Deutschen interessierten sich nicht mehr für ihre Volksvertretung. Der Ärger von Norbert Lammert bei seiner legendären Eröffnungsrede zum 17. Deutschen Bundestag im Jahr 2009 war jedenfalls nachvollziehbar, als er das zeitgleich ausgestrahlte Programm von ARD und ZDF vorlas, die auf Telenovela und TV-Komödie setzten, statt der Übertragung der Konstituierung des Deutschen Bundestages Raum zu verschaffen. Seichte TV-Kost statt hoher Politik. Dabei folgen auch ARD und ZDF leider in Wahrheit nur der Logik von Angebot und Nachfrage. Die Übertragung schien schlicht nicht attraktiv genug, ausreichend Marktanteile zu generieren, und so schob man sie auf den Spartenkanal Phoenix ab. Die Deutschen schienen den TV-Verantwortlichen nicht interessiert genug. Leider keine ganz unrealistische Einschätzung.

Leere Stühle statt offener Debatte

In Zeiten der Corona-Pandemie ist das natürlich anders. Das Interesse der Bevölkerung an den politischen Entscheidungen ist enorm. Die TV-Sender, sowohl die öffentlich-rechtlichen Anstalten als auch die privaten Sender, füllen ihr Programm mit Sondersendungen, Talk-Formaten und Reportagen rund um das Virus. Das ist mehr als nachvollziehbar. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik schien das Schicksal von so vielen Menschen gleichzeitig in so direkter Abhängigkeit von politischen Entscheidungen. Millionen Menschen fragen sich über Monate hinweg, wie es weitergeht mit ihrem Arbeitsplatz, mit der Schulbildung ihrer Kinder, dem geplanten Besuch von älteren Familienangehörigen im Altenheim, deren Schicksal mit Blick auf die verheerenden Todeszahlen in Alten- und Pflegeheimen viele zu Recht mit größter Sorge und Angst erfüllt. Die Entscheidungen über all diese Fragen werden seit Frühjahr 2020 regelmäßig in einem mehrwöchigen Takt gefällt. Steht ein Tag solcher Entscheidung an, merkt man schon Tage vorher die Anspannung im gesamten Land. Die Sondersendungen werden daher ebenfalls schon Tage vorher programmiert, und die Talk-Shows laden ihre Gäste zur abendlichen Nachlese der Entscheidungen, die so elementare Folgen für Millionen Einzelschicksale haben und die uns auch noch beschäftigen werden, wenn das Virus im Zaum gehalten ist.

Gezeigt wird in den Sondersendungen an diesen Tagen nicht das Plenum des Deutschen Bundestages, denn dieser trifft die oben genannten Entscheidungen nicht. Gezeigt werden zunächst die leeren Stühle, auf denen die Bundeskanzlerin und zwei Ministerpräsidenten erwartet werden, um über die zuvor in geheimer Sitzung beratenen Beschlüsse zu berichten. Die Nachrichtensender übertragen oft über Stunden das Bild des Raums der Pressekonferenz mit den noch leeren Sesseln, versehen mit einer Unterschrift, die in etwa lautet: „Gleich live: Pressekonferenz der Bundeskanzlerin zu den neuen Corona-Beschlüssen“.

Währenddessen schießen die Spekulationen in der Öffentlichkeit ins Kraut. Bleiben Frisöre die nächsten Monate offen? Wann öffnen die Restaurants? Kann ich noch über die Grenze meines Bundeslandes hinaus reisen? Wird es Ausgangssperren geben? All das sind reale Fragestellungen, mit denen wir uns rund um die Bund-Länder-Gipfel von Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten seit März 2020 wiederholt beschäftigt haben. Am besten unterrichtet ist meist die Bild, die über ihren Live-Ticker manche Interna zu den Beratungen an das Licht der Öffentlichkeit bringt. Ansonsten bleibt es aber bei dem Bild des leeren Sessels, bis die Kanzlerin vor die Kameras tritt und mitteilt, welche Richtung das öffentliche, wirtschaftliche und soziale Leben in den nächsten Monaten nehmen wird. Dieses Szenario, an das wir uns schon so sehr gewöhnt haben, wäre vor dem Frühjahr 2020 bestenfalls in einer dystopischen Fiktion denkbar gewesen. In der Geschichte der Republik ist es jedenfalls beispiellos. Denn eigentlich müssten die Kameras der Fernsehanstalten an Tagen von Entscheidungen solcher Reichweite nur auf einen Ort gerichtet sein: das Rednerpult des Deutschen Bundestages.

Dass dies nicht der Fall ist, ist keineswegs banal. Es geht nicht nur um rein juristische Erwägungen. Diese sind für sich genommen schon triftig genug, denn diese Erwägungen gründen direkt in unserer Verfassung. Es geht darüber hinaus aber auch um das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern, das dauerhaft Schaden zu nehmen droht. Keine der wesentlichen Entscheidungen zu den Bekämpfungsmaßnahmen der Corona-Pandemie wurden von den Verantwortlichen öffentlich debattiert. Sie wurden bestenfalls im Nachgang erklärt und in einigen der Landesparlamente zur Abstimmung gestellt. Und selbst dies musste durch erheblichen öffentlichen Druck erst erkämpft werden. Das ist keinesfalls vertrauensbildend und darum so fatal. Denn das Vertrauen ist das Grundkapital einer erfolgreichen Pandemiebewältigung. Ohne Vertrauen in die Regierung und die maßgeblichen Entscheider droht die gesamte Maßnahmenpolitik zu scheitern. Denn die Maßnahmen sind so tiefgreifend und so umfassend, dass sie in die privatesten Winkel der Leben der Bürger einstrahlen. Das macht sie aber auch gleichzeitig in Teilen unkontrollierbar. Ohne den Willen der Bürger wird es schlichtweg nicht funktionieren. Die Erkenntnis darüber mag ein Grund dafür sein, dass die Kanzlerin, die Interviews eigentlich scheut wie wenige Regierungschefs in westlichen Demokratien, Anfang des Jahres 2021 gleich drei Fernsehinterviews mit unterschiedlichen Sendeanstalten in kürzester Zeit hintereinander führte. Das Ziel war offensichtlich, die zuvor beschlossene Fortdauer des Lockdowns zu erklären. Erklärungen sind grundsätzlich nicht verkehrt, aber sie reichen ob der Dramatik der zuvor getroffenen Entscheidungen nicht aus. Die Argumente für und gegen die jeweilige Maßnahme, die hinter verschlossenen Türen zweifellos ausgetauscht werden, müssen öffentlich ausgetragen werden. Die Expertise, die die Grundlage für bestimmte Entscheidungen ist, muss genauso transparent sein wie der Zweifel, der in einer Demokratie kein Makel, sondern eine Stärke ist. Das bloße Verkünden und Erklären von Maßnahmen zeugt von einer paternalistischen Haltung der Akteure gegenüber den Bürgern, die auf Dauer Missmut und Widerstand geradezu provoziert. Jeder Bürger in einem aufgeklärten Staatswesen kann sich seine Gedanken machen und bestimmte Entscheidungen bewerten. Wenn die Regierung nicht einmal mehr ihren Gedankengang in öffentlicher Debatte verteidigt, führt das automatisch zu einer Entfremdung, die auf Dauer immer gefährlicher wird.

Aus Ohnmacht wird Gewöhnung

Es gibt Gründe, die diese Abkehr von der öffentlichen Debatte begünstigt haben. Einer davon liegt sicherlich in den Erfahrungen des März 2020. Corona traf dieses Land total unvorbereitet. Und damit sind hier nicht organisatorische Fragen gemeint, sondern Deutschland war vor allem auch psychologisch nicht vorbereitet. Es gab in der Vergangenheit immer wieder Berichte von Viren, die auch unsere Gesellschaft zu bedrohen schienen. Aber die SARS-CoV-Epidemie 2002/2003 zog an Deutschland beinahe vollständig vorbei und die Schweinegrippe-Pandemie verlief vergleichsweise glimpflich. Die noch immer laufende AIDS-Pandemie, von der auch wir seit über 30 Jahren betroffen sind und die rund 30 000 Tote allein in Deutschland gefordert hat, wird von den meisten hierzulande nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen. Insbesondere, weil es seit vielen Jahren große Therapiefortschritte gibt. Neben der oben beschriebenen Gewöhnung an ein Leben in Freiheit und Demokratie war den meisten Deutschen die Gefahr einer Virus-Pandemie wohl schlicht nicht vor Augen oder wenn, dann nur abstrakt. So löste das Eintreffen des Virus einen gewissen Schock aus. Die Gefahr schien realer und die drohenden Ausmaße konnten in der Tagesschau durch die schrecklichen und verstörenden Bilder aus Italien, wo das Virus zunächst weitaus verheerender wütete und auf ein schlechter aufgestelltes Gesundheitssystem traf, betrachtet werden. Die Auswirkungen dieses Schocks wurden zuerst in den Supermärkten anschaulich, wo sich die Bevölkerung plötzlich mit leeren Regalen konfrontiert sah, weil die Menschen sich auf schlimmste Szenarien vorzubereiten begannen. Dies führte wiederum zu noch größerer Verunsicherung. Es gab eine gewisse gesellschaftliche Ohnmacht, die manche damit zu bekämpfen glaubten, dass sie Toilettenpapier horteten, um ein Rest von Kontrolle über ihr Leben zu behalten.

Der Schock traf nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die staatlichen Akteure. Plötzlich war alles anders und es galt, schnell Entscheidungen zu treffen. Das Wort von der „Stunde der Exekutive“ verbreitete sich. In Krisenzeiten, so die Theorie, müsse die Exekutive das Heft des Handelns übernehmen, um die notwendigen Entscheidungen möglichst schnell herbeizuführen. Das ist im Prinzip nicht verkehrt und auch die Rechtsprechung hat dies in den ersten Corona-Entscheidungen durchaus anerkannt, wenn Bürger rügten, dass per Verordnung erlassene Maßnahmen mit historischen Grundrechtseingriffen wohl kaum mit der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Wesentlichkeitstheorie in Einklang zu bringen sind, wonach wesentliche grundrechtssensible Fragen dem Parlament vorbehalten sind – und eben nicht der Exekutive.

Um die einzelnen Maßnahmen der 16 Länder, deren Landesregierungen im Infektionsschutzgesetz zur Corona-Bekämpfung per Verordnung ermächtigt werden, aufeinander abzustimmen, wurden die Konferenzen auf Einladung der Bundeskanzlerin ins Leben gerufen. Die Aufgabenbeschreibung und die Selbstwahrnehmung dieses Gremiums entwickelte sich sehr schnell von der Koordinierungsfunktion zum Ort, an dem die Maßnahmen selbst entwickelt, beraten und beschlossen werden. Den Ton gibt dabei das Kanzleramt vor, das regelmäßig die Beschlüsse entwirft und oft erst Stunden vor den Sitzungen an die eigentlich zuständigen Länder übermittelt. Der Deutsche Bundestag geriet so in diesen Fragen der Grundrechtseingriffe in eine Beobachterrolle, ohne dass er dies angestrebt oder gar beschlossen hätte. Es ist einfach passiert.

Die Stunde der Exekutive hat ihre Zeit längst überschritten. Und auch wenn inzwischen nach erheblichem Druck eine Konkretisierung der Ermächtigungsgrundlage durch Einfügung des § 28a im Infektionsschutzgesetz erfolgt ist, wird das Wie und Ob der bundesweiten Corona-Bekämpfung weiter im Gremium aus Kanzlerin und Länderchefs entschieden. Dabei gerät fast schon aus dem Blick, dass auch die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten nicht zu den Corona-Bekämpfungsmaßnahmen ermächtigt werden, sondern die Landesregierungen. Diese sind Kollegialorgane und die Ministerpräsidenten ein Teil davon, aber keineswegs identisch. Die Kabinette in den Bundesländern müssen die Maßnahmen also im Nachgang noch bestätigen, ohne an der Entscheidungsfindung in direkter Weise beteiligt gewesen zu sein. Auch hier gerät das Verständnis unserer Staatsorganisation an Grenzen. Die Landesregierungen sind schließlich als Verfassungsorgane ihrer jeweiligen Länder die Exekutive teilsouveräner Gliedstaaten der Bundesrepublik und als solche jeweils ihren Parlamenten verantwortlich und nicht dem Kanzleramt.

Das Selbstverständnis des Parlaments lebt vom Selbstverständnis seiner Parlamentarier

Der beschriebene Zustand kann keinen Verfassungsfreund zufrieden machen. Der auch nach über einem Jahr der Pandemie beschrittene Weg der Entscheidungsfindung ist in der Verfassung nicht vorgesehen. Da ist es allenfalls ein schwacher Trost, dass formal die Landesregierungen die jeweiligen Beschlüsse bestätigen und immer mehr Landesparlamente wenigstens im Nachgang diese Beschlüsse debattieren. Denn faktisch hat sich ein Gremium zur Entscheidungsfindung institutionalisiert, das diese Kompetenz nicht besitzt. Und alles, was im Nachgang passiert, geschieht mal mehr, mal weniger pro forma. Das merken auch die Bürgerinnen und Bürger und so wird letztlich auch das Vertrauen in unser Staatswesen geschwächt. Denn es entsteht der Eindruck, dass die Regierungen die Legitimation ihres Handelns nicht mehr von den Parlamenten ableiten, sondern von den Beschlüssen, die im Kanzleramt vorbereitet, beraten und beschlossen werden.

Es ist einigermaßen erstaunlich, wie sehr sich dieses Verfahren etablieren konnte. Denn die Bund-Länder-Gipfel füllen keineswegs eine verfassungsrechtliche Regelungslücke, die einen Grund für die bemerkenswerte Praxis liefern könnte. Wenn das Kanzleramt will, dass bundesweit einheitliche Beschlüsse getroffen werden, so sieht die Verfassung hierzu Wege vor. Der Infektionsschutz ist Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung. Strebt der Bund also bundesweit einheitliche Regelungen an, hat er die Möglichkeit dies zu tun. Er muss von seiner Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch machen und kann die Rahmenbedingungen schaffen, die er für notwendig hält und in denen die Länder dann das Infektionsschutzgesetz anwenden. Dieser Weg geht aber ausschließlich über den Gesetzgeber, also den Bundestag unter Beteiligung des Bundesrates. Die Einfügung des § 28a im Infektionsschutzgesetz war hierzu kein ernst zu nehmender Versuch, denn er ist voll von unbestimmten Rechtsbegriffen und weichen Kriterien. Die konkretisierende Wirkung im Vergleich zur Generalklausel des § 28 ist also nur unwesentlich. Und selbst die inzwischen im Gesetz genannten Kriterien der Inzidenzwerte von 35 bzw. 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen, an denen die Maßnahmen auszurichten sind, haben das Kanzleramt nicht davon abgehalten, im Februar 2021 einen Beschluss zu erwirken, der öffentlich wie folgt zusammengefasst wurde: 35 ist die neue 50. Es hat also eine Verschiebung des Bewertungsmaßstabes stattgefunden, ohne dass dies im Gesetz zuvor geregelt worden wäre.

Aus dem Bundestag regt sich auch nach einem Jahr der Pandemie erstaunlich wenig Widerstand gegen das Zurückdrängen in die Beobachterrolle. Es ist, als glaubten die Vertreter der Regierungskoalition und großer Teile der Grünen, dass die Stunde der Exekutive fortzudauern habe, bis das Virus vollständig verschwunden ist. Diese Fehleinschätzung gründet teilweise in der oben beschriebenen Schockerfahrung. Dass sie so lange fortdauern kann, hängt aber auch am Missverständnis der unterschiedlichen Rollenverteilung von Parlament und Regierung, das sich in Teilen verbreitet hat.

Als Anfang Februar 2021 berichtet wurde, dass im Landkreis Stendal der Landrat und sein Stellvertreter schon vor Beginn der Impfkampagne geimpft wurden und auch 320 Polizisten entgegen der vorgesehenen Reihenfolge die Impfung schon erhalten hatten, verlangte der CDU-Bundestagsabgeordnete Tino Sorge auf Twitter Aufklärung und erklärte zusätzlich: „Wir haben im Bundestag bei Priorisierung der Impfungen bewusst Hochbetagte und Risikogruppen bevorzugt.“

Ein erstaunliches Statement, wenn man bedenkt, dass die Frage der Impfpriorisierung nicht im Deutschen Bundestag beschlossen wurde, sondern ebenfalls im Verordnungswege. Es gab zwar einen Entwurf im Bundestag, der sich mit der Frage der Impfreihenfolge beschäftigte, dieser stammte allerdings von der FDP und wurde „bewusst“ abgelehnt. „Wir im Bundestag“, wie es der Abgeordnete formulierte, war wohl gleichzusetzen mit „wir in der Regierung“, obwohl ein Bundestagsabgeordneter auch dann nicht automatisch Teil der Bundesregierung wird, wenn seine Fraktion die Regierung stützt. Wenn die Grenzen in der Selbstwahrnehmung schon so verschwimmen, besteht kein Anlass mehr, das Recht gegenüber der Exekutive einzufordern, weil es schlicht kein Problembewusstsein gibt.

Auch Peter Altmaier, selbst Bundestagsabgeordneter und gleichzeitig einer der wichtigsten Minister der Bundesregierung, gab Einblick in sein Rollenverständnis. Ausgerechnet am Vorabend des 150. Jahrestages der Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles gab der Bundeswirtschaftsminister als Entgegnung auf die zuvor von Christian Lindner in der Sendung von Anne Will geforderte Beteiligung des Bundestages auf Twitter zu Protokoll: „Die MPK mit Bundeskanzlerin & Bundesministern ist Erbstück aus der Bismarck-Zeit. Es ermöglicht ‚unity in diversity‘. Wir brauchen es, wenn die Zeiten schwer sind, nicht, wenn sie gut sind. Aber natürlich kann der Bundestag jederzeit das Bundesinteresse formulieren.“

Er übersah dabei freilich, dass auch eine Reminiszenz an Bismarck verfassungsrechtliche und gesetzliche Notwendigkeiten der Bundesrepublik nicht außer Kraft setzen kann. Zudem war der Bundesrat des Kaiserreichs, auf den der Minister anspielte, immerhin ein Verfassungsorgan und die Ministerpräsidentenkonferenz ist es nicht. Die Leichtfertigkeit, mit der das Argument der Krisenzeit als Rechtfertigung für ein Abweichen von lang eingeübter und in der Verfassung niedergelegter Staatspraxis verwendet wird, stimmt bedenklich. Wir sollten uns nicht weiter daran gewöhnen.

Schlussfolgerung

Die Zeiten werden absehbar herausfordernd bleiben. Ein Weiter-so in der Entscheidungsfindung der Pandemiebewältigung wäre daher fatal. Wir schaffen sonst einen Präzedenzfall, mit dem in Zukunft auf Krisen aller Art reagiert wird. Das Grundgesetz und die Prinzipien des demokratischen Rechtsstaates gelten auch während einer Pandemie. Und das ist kein Selbstzweck oder eine bloße Formalität, sondern auch eine Notwendigkeit, um das Vertrauen der Bürger in den Staat und seine Institutionen zu stärken. Darüber hinaus wird die Akzeptanz der Maßnahmen von deren Nachvollziehbarkeit abhängen. Nachvollziehbar werden Maßnahmen aber erst dann, wenn Entscheidungsgrundlagen und das Für und Wider öffentlich und transparent ausgetauscht werden. Für all das müssen wir keine Institutionen schaffen, sondern es gibt einen Ort, der genau für solche Entscheidungen gemacht wurde. Das ist der Deutsche Bundestag.

Das Corona-Brennglas

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