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Erstmal wird es schlimm – Covid-19 als Chance zur Weltverbesserung?

Wahrscheinlicher ist, dass die Seuche weltweit eher als Brandbeschleuniger wirkt

von Sigmar Gabriel

Wenig scheint in Deutschland zur Jahreswende 2020/2021 in der Bekämpfung der Corona-Pandemie zu klappen. Vermutlich seit im Mai des vergangenen Jahres die Ministerpräsidenten der meisten Bundesländer der Versuchung erlegen sind, jeweils eigene Wege zu gehen, statt sich anhand fester Parameter auf ein bundesweit einheitliches Handeln zu verständigen, entgleitet der deutschen Politik die anfangs so erfolgreiche Pandemiebekämpfung. Galt die Bundesrepublik zu Beginn der Krise als „Musterländle“ unter der Führung der Kanzlerin, blickt die eigene Bevölkerung mit wachsender Verzweiflung auf die sich offenbarenden Mängel. Und im Ausland gerät das Bild eines gut organisierten Deutschlands ins Wanken. Mag man Verzögerungen in der Impfstoffbeschaffung noch verstehen, so macht die monatelange Untätigkeit in der Erarbeitung von wirksamen Schutzkonzepten für Schulen, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen ebenso fassungslos wie die täglichen Offenbarungseide bei der Logistik – ganz zu schweigen von den schleppenden Prozessen der versprochenen Wirtschaftsbeihilfen für die schwer gebeutelten Dienstleistungs- und Kulturbranchen. Allem Anschein nach behandeln wir in Deutschland und in weiten Teilen Europas die Corona-Pandemie noch mit den Mitteln der Pest-Bekämpfung des Mittelalters: dem allgemeinen Wegsperren, während die erfolgreichen südost-asiatischen Länder schlicht die Datentechnologie des 21. Jahrhunderts nutzen, um Infektionsherde und deren Ausbreitung gezielt bekämpfen zu können. Die Folge dieser mittelalterlichen Bekämpfungsmethode ist eine Stop-and-Go-Politik, die in den vergangenen Monaten die Grenzen nicht nur der wirtschaftlichen Belastungsfähigkeit unseres Landes erreichte, sondern vor allem auch die der psychischen und sozialen Erträglichkeit.

Mindestens ebenso wichtig wie die aktuelle Bekämpfung der Pandemie ist aber die Frage nach dem „Danach“. So, wie wir nicht wussten, ab welchem Datum Impfstoffe verfügbar sein würden, so werden uns die Virologen auch weder ein Datum für die endgültige Öffnung des sozialen und wirtschaftlichen Lebens nennen noch die Schrittfolge dahin. Und trotzdem muss man sich bereits jetzt darauf vorbereiten – so, wie man sich auf den Tag der Verfügbarkeit eines Impfstoffes hätte vorbereiten können.

Die Politik wird also selbst ebenso entschlossen wie behutsam Wege in eine neue Normalität eröffnen müssen, die zugleich viele überdauernde Verhaltensänderungen von uns verlangen wird. Dass darüber schon jetzt politisch gestritten wird, ist ein gutes Zeichen und bereits Ausdruck der neuen Normalität.

Die zentrale Frage lautet also frei nach Udo Lindenberg: „Hinterm Horizont geht’s weiter – nur wie?“ Machen wir weiter wie bisher, oder nutzen wir die Erfahrungen aus der Krise zu einer Neujustierung unseres Politik-, Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells?

In der Wirtschaft ist das Virus schon jetzt der große Beweger. Die Unternehmen, die es sich leisten können, gingen zu völlig veränderten Arbeitsformen über. Das Homeoffice wurde im Zeitraffer zur Massenerscheinung moderner betrieblicher Arbeit. Wer braucht noch große Bürogebäude, wenn dezentral gearbeitet werden kann? Dabei dürfte die Heimarbeit meist eher im Interesse der Arbeitgeber liegen als im Interesse der Arbeitnehmer, denn für Letztere bedeutet die Trennung von Arbeits- und Wohnort auch den Schutz der eigenen Privatheit. Außerdem hilft ihnen ein fester, gemeinsamer Betriebsort, um ihre Interessenvertretung zu organisieren. Betriebsräte sind eben keine Homeoffice-Beauftragte. Es ist daher erstaunlich, wie derzeit ausgerechnet Sozialdemokraten der Entbetrieblichung das Wort reden.

Die größten Gewinner der Sonder-Konjunktur nach der Pandemie dürften jene Digitalunternehmen sein, die sich schon in den vergangenen Jahren über enorme Gewinnentwicklungen und wachsende weltweite Bedeutung freuen konnten: Amazon wird am meisten profitieren und dabei unzählige Einzelhändler und ihre Geschäfte in der Insolvenz zurücklassen. Aber auch die digitalen Infrastrukturunternehmen, die Cloud-Anbieter, der E-Commerce, das Online-Shopping und die Webinar-Anbieter gehören zu den Gewinnern der Krise. Die Corona-Pandemie könnte die Bruchkante von digitaler und analoger Welt in der globalen Wirtschaftsgeschichte markieren.

Dazu kommen eine Rückkehr und Besinnung von der Höhe in die Fläche. Schon jetzt spüren Branchenexperten Kaufzurückhaltung in den städtischen Zentren. Man will nicht mehr die hohen Preise zahlen für das Leben in der Großstadt, wenn ihre Vorteile (Kultur, Veranstaltungen, Lesungen etc.) mit gesundheitlichen Gefährdungen oder mangels Angebot mit Limitierung bestraft werden. Dann lieber raus aufs Land! Anders als in der frühen und frühesten Neuzeit macht jetzt nicht die Stadtluft, sondern die Landluft frei. Zumal die Provinz längst ähnlich liberal ist wie die Metropolen.

All das setzt aber voraus, dass sich die Gesellschaft wieder öffnet und mehr Eigenverantwortung übernimmt. Der demokratische Staat kann für den Einzelnen weder jedes Lebensrisiko bannen noch alles bezahlen. Eine politische Führung, die jeden Tag etwas mehr den Eindruck zu vermitteln versucht, sie könne alle Risiken durch die Kombination von Verboten und Geld gegen null reduzieren, wird schnell an ihre Grenzen kommen – oder diese Grenzen überschreiten. Eine freie Gesellschaft kann auf Dauer nicht allein auf den ordnenden Staat setzen, sondern braucht die Vernunft und Verantwortungsbereitschaft ihrer Bürgerinnen und Bürger. Das aufgeklärte und von staatlichen Ermahnungen unabhängige Risikobewusstsein, das wir gerade einüben, wird uns auch danach helfen. Gelingt das nicht, droht die wiederholte Rückkehr der Pandemie mit weit größerem wirtschaftlichen Schaden und einem dramatischen Vertrauensverlust in die staatliche Handlungskompetenz. Dann kann auch unser Land ins Wanken geraten, denn wenn schon beim Klopapier in Panik verfallen wird, ist das Chaos nicht viel weiter als drei Mahlzeiten entfernt.

Schaut man über die Grenzen des eigenen Landes hinaus, wirkt Covid-19 wie ein Brandbeschleuniger all dessen, was wir schon vor der Krise sehen konnten. Es wird jedenfalls wohl kaum zu einer neuen und besseren Weltordnung kommen, wie jetzt viele erhoffen. Denn das Virus verändert nicht die strategischen Konstellationen und Rivalitäten, es verschärft und beschleunigt sie. Die beiden derzeit wichtigsten Mächte, die für eine veränderte Weltordnung gebraucht würden – die USA und China –, bleiben auch nach der Pandemie Rivalen. Vieles spricht dafür, dass Covid-19 dem Konflikt eher neue Nahrung gibt, als ihn zu befrieden. Europa wiederum ist viel zu sehr mit sich beschäftigt, um das Vakuum in der globalen Ordnung zumindest teilweise füllen zu können. Das Drama um die Finanzhilfen für Südeuropa hat das gezeigt.

Die ganze Welt wird nach der Pandemie im wahrsten Sinne des Wortes erst einmal ärmer sein. Die Staatsschulden, die wir derzeit machen, um unsere nationalen Ökonomien zu stabilisieren, belasten schon die wohlhabenderen Länder enorm. Ärmere Länder haben oft nicht mal die Möglichkeit, mit noch höheren Schulden das Elend ihrer Bürger zu lindern. Hier kann die Virus-Pandemie für sehr viele Menschen schnell zu einer Hunger-Pandemie werden.

Wer jetzt auf ein Ende der vermeintlich ungerechten Globalisierung hofft, muss das gerade jenen Ländern und ihren Bürgern erklären, die erst dank des weltweiten Austauschs von Waren und Rohstoffen den Sprung aus der Armut geschafft haben. Denken wir nur an die fast eine Milliarde Chinesen, die eben nicht mehr ohne Schuhe zur Schule gehen und sich mit einer Handvoll Reis zufriedengeben müssen. Die soziale Ungleichheit ist eher dadurch gewachsen, dass am oberen Ende die Reichen unverhältnismäßig viel reicher geworden sind.

Für sehr viele Menschen aber hat die Globalisierung doch eine Tür zu einem besseren Leben aufgestoßen und nicht wenigen gar den Aufstieg in die Mittelschicht ermöglicht.

Dieser Aufstieg ist gefährdet, wenn nun gerade die reicheren Länder die Globalisierung zurückdrehen wollen. In den USA werden angesichts der gigantischen Arbeitslosigkeit „jobs at home“ im Mittelpunkt stehen. Sei es durch gezielte wirtschaftliche Förderung oder durch noch stärkere Abschottung der heimischen Märkte und Druck auf eine Re-Lokalisierung bislang im Ausland gelegener Produktion – die De-Globalisierung wird konkret. Die demokratische Partei der USA ist in dieser Hinsicht traditionell weit protektionistischer als die Republikaner.

Auch in Europa wird man auf Zulieferungen nur aus dem Inland setzen, auf mehr Lagerhaltung, auf Digitalisierung statt Auslagerung in andere Länder. All das verspricht nach der Pandemie-Erfahrung mehr Sicherheit. Der Preis dafür aber sind geringere Effizienz und geringere Erlöse – vor allem für die ärmeren Staaten der Welt. Die Schwellen- und Entwicklungsländer werden am härtesten getroffen, wenn die globalen Wertschöpfungsketten wieder kürzer und nationaler werden. Die Welt wird vor allem dort ärmer, wo sie ohnehin schon viel zu arm ist.

Das ist nicht nur ein ökonomisches Problem und ein menschliches Drama, sondern auch eine politische Gefahr. Denn wenig mobilisiert gesellschaftliche Wut und Gewalt so sehr wie die Gefahr des Verlusts eines sozialen Status, den man sich kurz zuvor erst erarbeitet hat. Das ist nicht nur eine deutsche Lehre aus der Weimarer Republik, sondern eine ganz konkrete und aktuelle Gefahr, vor allem in den jüngeren und oft noch instabilen Demokratien in den ärmeren Regionen der Welt. Die Erfahrung Lateinamerikas ist, dass Armut selbst noch nicht zu schnellem Aufruhr führt, der Rückfall aus einem mit harter Arbeit erreichten mittleren Einkommen aber durchaus. Nicht wenige fürchten in Lateinamerika den Ausbruch neuer Gewalt und das Ende demokratischer Entwicklungen als Folge des wirtschaftlichen Desasters, das Covid-19 in diesen Ländern anrichtet, von den humanitären Folgen eines zusammenbrechenden Gesundheitssystems ganz zu schweigen.

Nein, der Konstruktionsfehler der Globalisierung besteht nicht in offenen Märkten und weltweiter Arbeitsteilung, sondern im Fehlen einer die Märkte begrenzenden und regelnden internationalen politischen Ordnung, die auch global für einen angemessenen sozialen Ausgleich sorgt und die natürlichen Ressourcen unseres Planeten nicht immer weiter überfordert. Weitsichtig hat der frühere katholische Bischof von Hildesheim dies angesichts des Terrorangriffs am 11. September 2001 in einem Satz formuliert: „Das Ziel der Globalisierung muss Gerechtigkeit für alle statt Reichtum für wenige sein.“ Bisher galt politische Einmischung in die weltweite Arbeitsteilung und den damit verbundenen Handel als Hindernis für den wirtschaftlichen Erfolg. Die Ideologie von De-Regulierung, „Privat vor Staat“ und Wettbewerb um möglichst geringe Arbeits-, Umwelt- und Sozialstandards wurde zur ökonomischen Wissenschaft erhoben. Jetzt steht sie vor den Trümmern ihrer Theorie. Das haben uns die Finanzkrise, die Klimakrise und nun die Viruskrise gezeigt.

Der marktradikale, neoliberale Entwurf der Globalisierung hat sich ja gerade als Gegenentwurf zur politischen Regelsetzung verstanden. Politik sollte so weit wie möglich verbannt werden – national wie international. Märkte sollten – befreit von Regeln, Grenzen, politischen Rahmen- und Zielsetzungen – rein auf Effizienz getrimmt werden. Angeblich zum Wohle aller. Das Aufkommen digitaler Plattformen hat dieser Sichtweise nochmals Schub verliehen. Die Idee einiger Silicon-Valley-Manager, ihre Unternehmen auf künstliche Inseln fernab jedes staatlichen Einflusses zu verlegen, ist nur die absurdeste Erscheinungsform einer Haltung und Wirtschaftspraxis, die sich aus Prinzip der staatlichen Regulierung entziehen will – nicht nur beim Steuerzahlen.

Man sollte meinen, dass diese Erfahrungen zum Innehalten und zu neuem Engagement für eine gemeinsame internationale Ordnung führen. Die Komplexität, die Vernetztheit und das gegenseitige Aufeinanderangewiesensein der Welt des 21. Jahrhunderts schreit ja geradezu nach internationaler Zusammenarbeit. Energie, Nahrungsmittel, Rohstoffketten, Datensicherheit: Überall sind wir auf die Integrität des globalen Systems und nicht nur einzelner Länder oder einzelner Regionen angewiesen. Aber nach einer Wiederbelebung des Multilateralismus sieht es in der Pandemie gerade nicht aus – daran änderte auch das Ende von Trumps Präsidentschaft nichts. Stattdessen setzt sich die Sicht durch, dass die Gefahr immer von außen kommt.

Covid-19 ist offenbar ein Düngemittel für die Idee von „we versus them“. Die chinesische Führung nutzt das derzeit aus, um die innere Kritik an der Staats- und Parteiführung am Missmanagement zu Beginn der Coronakrise kleinzuhalten. Und die Kritik des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump an China wird unter seinem Nachfolger Joe Biden nicht geringer werden. Denn natürlich sehen auch Amerikas Demokraten in China den großen strategischen Wettbewerber der USA in der Welt. China ist noch weit davon entfernt, den USA militärisch oder ökonomisch auf Augenhöhe entgegentreten zu können, technologisch tun sie es aber schon heute. Covid-19 hat auch diesen Prozess beschleunigt, in der Virusbekämpfung wird der chinesische Anspruch offensichtlich, die technologische Führungsrolle von den USA zu übernehmen.

Europa gilt in dieser Rivalität nichts. Zu weit sind wir gegenüber diesen beiden Tech-Supermächten im Hintertreffen. Deshalb gibt es bislang auch keine echte strategische Partnerschaft der EU mit den USA auf diesem Feld der Technologie. Die Frage, wie die Europäer es mit China halten, ist die größte Herausforderung für ein erneuertes transatlantisches Bündnis – und nicht etwa die Militärausgaben oder Handelsdefizite. Das war schon vor Covid-19 der Fall und wird sich jetzt wegen und mit der Seuche, die in China begann, noch verschärfen.

Das Virus legt unbarmherzig offen, wie sehr die Welt, in der wir leben, längst eine ganz andere geworden ist als die, auf deren Grundlagen gerade wir im Westen bislang unseren Wohlstand und unser Selbstvertrauen entwickeln konnten. Covid-19 ist ein Brandbeschleuniger der vielen kleinen und größeren Brände, die wir im eigenen Land, in Europa und in der Welt seit längerer Zeit unabhängig voneinander beobachten konnten und die sich jetzt zu einem gemeinsamen Flächenbrand auszuweiten drohen.

Leider scheint Europa nicht in der Verfassung, diesen vielen Bränden etwas entgegenzusetzen. Es brennt ja selbst. Eigentlich wollte es gerade ein neues Kapitel aufschlagen: mit Klimaschutz im Mittelpunkt und dem Ziel, die EU zu einem „globalen Akteur“ zu machen, so die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Covid-19 macht diesen Plänen nicht nur deshalb einen Strich durch die Rechnung, weil es die Nationalstaaten waren, die als Erste der Pandemie und ihren Folgen gegenübertreten mussten. Das war auch erst einmal selbstverständlich, denn die Mitgliedsstaaten sind für den Gesundheitsschutz nicht nur formell zuständig, sondern auch schnell handlungsfähig.

Wenn dann aber selbst aus Deutschland heraus ein Exportstopp für medizinische Hilfsmittel nach Italien verhängt wurde, obwohl dort schon die Todeszahlen in die Höhe schossen, oder über Wochen Streit darüber herrschte, ob der reiche Norden Europas dem ärmeren Süden finanziell beim Wiederaufbau helfen muss oder nicht, dann bleibt von der Idee europäischer Werte und europäischer Solidarität nicht mehr viel übrig. Gerade noch rechtzeitig einigten sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union auf einen Europäischen Wiederaufbaufonds und auf echte Hilfsprogramme für die am härtesten getroffenen Mitgliedsstaaten statt nur auf neue Kredite. Trotzdem besteht für Europa die größte Gefahr darin, dass sich die Spaltung in den wohlhabenden Norden und den ärmeren Süden (und Westen) Europas nach der Pandemie noch vertieft. Vieles spricht dafür, dass der Norden nach der Pandemie an seine alte Stärke anknüpfen kann, wohingegen der Süden noch stärker zurückfallen wird.

Damit eng verbunden ist die Frage, wie die ohnehin schon mit relativ hohen Schuldenbergen belasteten Volkswirtschaften Europas (und der Welt) aus dem jetzt noch dramatischer wachsenden Schuldenturm herausfinden sollen. Europa droht ein verlorenes Jahrzehnt, wenn es sich nur noch mit Schuldenabbau beschäftigt und nicht mit den drängenden Zukunftsfragen. Das Beispiel Griechenlands zeigt, wie groß dabei die sozialen Verwerfungen werden können. Autoritäre und antieuropäische Parteien, die derzeit eher auf dem Rückzug sind, können schnell zu neuer Stärke kommen. Ein auf verlorenem Posten um Europas Handlungsfähigkeit kämpfender französischer Staatspräsident kann bei der kommenden Präsidentschaftswahl durchaus auch durch seine rechtsextremistische Gegnerin ersetzt werden. Nichts sollte uns undenkbar erscheinen.

Das gilt übrigens auch für Deutschland. Unsere wirtschaftlichen, politischen und finanziellen Bedingungen für die Überwindung der Krise sind besser als in vielen anderen Staaten Europas und der Welt. Wo über Jahrzehnte der Staat Inbegriff für angebliche Ineffizienz war, sind wir heute froh, einen handlungsfähigen Staat zu haben. Das beeindruckendste Beispiel ist die dreißigjährige Forderung der Gesundheitsökonomen nach einem Abbau von Krankenhausbetten. Heute sind wir dankbar, dass wir mehr davon vorhalten als die meisten anderen Staaten.

Allerdings kippen wir gerade von einem Extrem ins andere: Wo bislang der Entstaatlichung das Wort geredet wurde, droht jetzt Staatsgläubigkeit. Wir tun derzeit so, als könne dieser Staat alles. Aber auch Deutschland wird angesichts der vor uns liegenden langen Rezessionsphase ganz sicher nicht alles können. Das „Whatever it takes“ kann schnell zur Enttäuschung werden, wenn einmal gewährte finanzielle Leistungen des Staates zurückgenommen werden. Eine schwere weitere Welle der Infektionen beispielsweise würde auf eine leere finanzpolitische „Bazooka“ treffen. Deshalb sind die Warnungen der Kanzlerin vor einer zu schnellen und vor allem zu chaotischen Öffnung des gesellschaftlichen Lebens mehr als berechtigt.

Zu den Führungsaufgaben der Politik gehört deshalb, das Land und seine Bevölkerung auf die vor uns liegende Anstrengung vorzubereiten. Denn anstrengend wird es, wenn wir uns aus dieser Krise wieder herausarbeiten wollen. Auch hier legt Covid-19 unbarmherzig unsere Schwächen offen: Wir sind durch den Ausbau des individuellen Rechtsstaates politisch langsam geworden. Zudem ist unsere alternde Gesellschaft risikoaverser als unsere jüngeren Wettbewerber, die zudem auch nach Covid-19 „hungriger“ auf ein besseres Leben sein werden, als wir es in den gesättigten Demokratien noch sind. Hier ging es zuletzt schließlich eher um die post-ökonomische Frage statt um Aufstieg und Erfolg.

Es geht jetzt darum, die staatliche Hilfe auf jene zu konzentrieren, die es am härtesten trifft. Unterrichtsausfall ist für die Schülerinnen und Schüler, die mehr Zeit brauchen oder denen die Eltern nicht helfen können, eine echte Katastrophe. Und wer wenig verdient, für den sind 60 Prozent Kurzarbeitergeld zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel, denn die Miete und die Lebenshaltungskosten sinken ja nicht.

Das Motto sollte nicht lauten: „Gürtel enger schnallen“, sondern: „Ärmel hochkrempeln“. Die Null-Runde der Industriegewerkschaft Metall beim jüngsten Tarifabschluss zeigt, dass viele dazu bereit sind, wenn sie den Eindruck haben, dass es sich lohnt, beispielsweise zur Beschäftigungssicherung. Dazu gehört dann aber ein Lastenausgleich, wie ihn Westdeutschland ja nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sehr erfolgreich praktiziert hat. Die Idee war und ist, diejenigen, deren Wohlstand von der Krise nicht eingeschränkt wurde oder sogar gewachsen ist, an der Bewältigung der weltweiten Folgen der Krise zu beteiligen. Nur so verhindern wir, die enorm gestiegenen Staatsschulden allein durch Inflation und drastische Budgetkürzungen auffangen zu müssen, die auch die sozialen Sicherungssysteme schwächen würden.

Ein Ansatz könnte sein, endlich die Giganten der Digitalwirtschaft an der Finanzierung des Gemeinwohls zu beteiligen. Deren Gewinne werden bislang weitgehend privat abgeschöpft und nicht angemessen für das Gemeinwohl herangezogen. Aber auch die Erbschaftssteuer für die weiterhin sehr großen Vermögen, die in den kommenden Jahren vererbt werden, ist nach Auffassung vieler Ökonomen in Deutschland nach wie vor nicht gerecht ausgestaltet. Allerdings ist es mehr als dumm, dafür den Namen „Reichensteuer“ zu benutzen. Mit Sozialneid-Debatten hält man das Land nicht zusammen und fördert nicht das Verständnis, dass wir nur dann als Gesellschaft beieinanderbleiben, wenn alle in zumutbarer Weise dazu ihren Teil beitragen.

Dieser Teil wird eine Zeitlang bei jedem höher sein als bisher – bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die auf Lohnerhöhungen verzichten oder auf Kurzarbeiter- oder Arbeitslosengeld angewiesen sind; bei Lehrerinnen und Lehrern, die ausgefallenen Unterricht nachholen müssen; bei aufgeklärten Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes, die selbst frei von wirtschaftlichen Sorgen sind, die denen ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürgern aber nicht gleichgültig gegenüberstehen. Covid-19 zeigt uns so oder so, wie es um uns in Wahrheit bestellt ist.

Das Corona-Brennglas

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