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Herausgebergespräch

zwischen Bodo Hombach und Edmund Stoiber, moderiert von Christoph Schwennicke

Die Exekutive ist die Gewalt der Stunde in der Corona-Pandemie. Der Regierungsstil der Kanzlerin war noch nie sehr auf die Einbeziehung des Parlaments ausgerichtet. Hat die Legislative aufgegeben? Wie kann ihr wieder mehr zu ihrem Recht verholfen werden?

Edmund Stoiber: Es ist richtig, dass in Krisen die Stunde der Exekutive schlägt, weil diese schneller auf tagesaktuelle Entwicklungen reagieren kann. Beispiel: Helmut Schmidt und die Bekämpfung der Sturmflut 1962. Aber es ist ein demokratiepolitisches Problem, dass der Bundestag in Corona-Fragen im Grunde nur noch das entgegennimmt, was die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten in ihrer Runde beschlossen haben. Natürlich muss die Politik in der Pandemie schnell handeln können, aber wenn eine Krise lange dauert und mit erheblichen Einschränkungen verbunden ist, ist eine breitere Debatte besonders auch im Bundestag erforderlich, um die Unterschiede der Lösungsansätze für alle sichtbar herauszuarbeiten. Ich vermisse vor allem eine parlamentarische Debatte über die Zeit nach Corona: Wie kann ich eine Insolvenzwelle gerade bei kleinen und mittleren Unternehmen verhindern? Wie kann ich die verfassungsmäßige Schuldenbremse – abhängig von der Konjunkturlage – schnellstmöglich wieder einhalten? Wie muss sich Deutschland bei der Digitalisierung seiner Verwaltung und der Schulen zukunftsfähig aufstellen? Ähnlich ist es übrigens auch bei den Debatten um den Klimaschutz, dessen Folgen unser Leben in den nächsten Jahrzehnten am meisten prägen werden. Die große Frage ist, wie rasch sich unsere bislang sehr erfolgreiche Soziale Marktwirtschaft in eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft umbauen lässt, ohne dass es zu Strukturbrüchen und gesellschaftlichen oder politischen Verwerfungen kommt. Wir brauchen hier leidenschaftliche parlamentarische Debatten mit einer Folgenabschätzung, wie bei der Agenda 2010 der Regierung Schröder in den Nullerjahren. Eine Folgenabschätzung ist ein Markenzeichen der demokratischen Auseinandersetzung. Franz Josef Strauß hat einmal zu mir gesagt: „Verwende 50 Prozent Deiner Kraft auf die Krise selbst, und spare Dir 50 Prozent der Kraft für hinterher auf.“ Er hatte recht.

Bodo Hombach: Den Lehrsatz Ihres Vorgängers kannte ich nicht. Der gefällt mir. Den merke ich mir. Tatsächlich ist es jetzt das Wichtigste, aus den Pandemieerfahrungen für die Zukunft Konsequenzen zu ziehen. Ohne ideologische Tabus, wissenschaftlich gründlich hinterfragt und gesellschaftlich-politisch ausführlich erörtert. Damit es beim nächsten Seuchenfall hier so geordnet zugeht, wie es uns – leider unzutreffend – nachgesagt wird. Der vor- und fürsorgende Staat bewährt sich nicht nur beim Steuereintreiben und Umverteilen. Er legitimiert sich auch durch ordentliches Verwalten des Alltags und erst recht beim Managen von Krisen. Zu Ihrer Frage: Wenn einer ins tiefe Wasser fällt, braucht es einen Rettungsschwimmer und nicht zuerst einen Gesprächskreis. Erst später – nicht zu spät – ist die politische Debatte am Zug. Parlamentarische Demokratie und die liberale Stimme haben es in der neuen Medienwelt schwer. Dass sich die Physikerin Angela Merkel nicht libidinös in parlamentarische Schlachten stürzt, kommt erschwerend hinzu. Immerhin: Der Bundesrat mit den unmittelbar betroffeneren Ministerpräsidenten hat gewissermaßen wie eine zweite Kammer die Debatte intensiv, selbstbewusst, kontrovers und hörbar geführt. Das war gut.

Stoiber: Das sehe ich etwas anders, Herr Hombach. Diese Debatte gehört vor allem in den Bundestag, in die erste Kammer, und zwar nicht erst nachdem alle wichtigen Entscheidungen bereits getroffen wurden. Das war in der Geschichte Deutschlands immer so: Soziale Marktwirtschaft, Wiederbewaffnung, Nato-Doppelbeschluss oder Ostpolitik, alle großen Fragen sind damals vor endgültigen Festlegungen durch die Bundesregierung im Parlament diskutiert worden. Und so gehört sich das auch.

Hombach: Radio Eriwan: „Im Prinzip ja …“, aber der Bundestag hat sich ohne großen Widerstand seine Rolle von den Talkshows entwenden lassen. Folglich haben die Medien deren Verlauf intensiver interpretiert als Debatten im Bundestag.

Das Virus ist kein Demokrat. Andere Regionen, China, Asien insgesamt, sind erfolgreicher. Ist die westliche Demokratie zu langsam für diese Welt und das Virus?

Stoiber: Natürlich ist manches ärgerlich, etwa dass die Novemberhilfe erst Monate später ausgezahlt wird. Aber Demokratie und Geschwindigkeit sind kein Widerspruch. Es stimmt, dass China nach den vorliegenden Zahlen deutlich besser aus der Corona-Krise herausgekommen ist als Europa und die USA, wenn auch mit einem nach chinesischen Maßstäben vergleichsweise geringen Wirtschaftswachstum. Die asiatischen Länder werden erkennbar besser mit dem Virus fertig. Das liegt in erster Linie daran, dass sie das Virus besser nachverfolgen. Aber nicht nur das autoritäre China, sondern auch demokratische Staaten wie Südkorea oder Taiwan haben rasch gehandelt und das Virus eingedämmt. Das politische System ist also nicht entscheidend, auch wenn in der Pandemie die Neigung vieler Menschen zu einem starken Staat ausgeprägt ist. In einer freiheitlichen Demokratie ist ein Überwachungs- und Unterdrückungssystem wie in China unter vielfältigen Gesichtspunkten nicht akzeptabel. Es gibt aber immer Verbesserungspotenzial, das wir nutzen können, ohne den Rechtsstaat über Bord zu werfen. Wenn wir im Zusammenhang mit der Corona-Daten-App monatelang datenschutzrechtliche Grundsatzdebatten führen und die App am Ende kaum Wirkung entfaltet, müssen wir daran etwas ändern. Wenn man bei uns für zwei Jahre den Datenschutz etwas einschränken würde und wir so bessere Bewegungsbilder erstellen könnten, dann kämen wir auch zu besseren Ergebnissen. Aber das bekommen wir nicht hin, im Gegensatz zu vielen anderen Grundrechtseinschränkungen. In dieses Bild passt, dass die Gesundheitsämter zu wenig digital vernetzt sind und immer noch mit dem Fax arbeiten. Da stimmt etwas nicht.

Hombach: Eine Oper ist nicht deshalb schlecht, weil Rollen schlecht besetzt sind und die Regie dilettiert. Man darf durchaus über situative Stärken und Schwächen der Demokratie sinnieren. Beim demokratischen Wahlakt geht es doch nicht darum, den besten Experten oder den mit dem höchsten Bildungsstand zu erwählen. Auch der IQ ist selten Entscheidungskriterium. Es zählt anderes. Der Einser-Jurist Dr. Stoiber hat als Ziehvater Herr Dr. Strauß ausgewählt und sich entwickeln und in Etappen aufsteigen lassen. Aufstiege über breite Berufserfahrungen, Qualifikationsbelege und erfolgreiche Problembewältigung sind nicht typisch für gegenwärtige politische Karrieren. Deshalb muss in unserer Demokratie wissenschaftliche Politikberatung und eine bestens qualifizierte Administration der Legislative fachlich zur Seite stehen. Wenn es an Umsetzung mangelt, was man gegenwärtig viel zu oft diagnostizieren muss, ist das in erster Linie nicht, wie Medien gerne schreiben, politisches, sondern administratives Versagen. Es gehört zur Natur der Demokratie, sich immer wieder selbst zu befragen, ihre Schwächen zu erkennen und ihre nutzbare fachliche Infrastruktur hochkarätig zu organisieren und aufzustellen. Einige der erfolgreichen asiatischen Staaten sind auch Demokratien. Es geht bei einer Seuchenbekämpfung nicht ohne Einschränkung von Grundrechten. Die muss jedoch zeitlich begrenzt und angemessen sein. Totale Transparenz und Überwachung sind immer totalitär. Unsere eigentliche Misere ist für mich nicht die Schwerfälligkeit der Demokratie, sondern erschütterndes Versagen der Administration. Von der Corona-App bis zum Impfdebakel, vom Berliner Flughafen bis zur Kölner Oper, von der maroden Schultoilette bis zur Leverkusener Autobahnbrücke: Wir präsentieren der Welt eine peinliche Lachnummer nach der anderen. Da läuft was falsch. Beobachtbar ist die dramatische Diskrepanz zwischen fantastisch rasanter, wissenschaftlicher Erkenntnis und deren Umsetzung in die Praxis. Das ist wie Vollgas geben und mit dem anderen Bein auf der Bremse stehen. So läuft ein Motor heiß und fliegt einem irgendwann um die Ohren. Die Pandemie bringt es auf den Schmerzpunkt: Wir produzieren Ideen und Lösungen am Fließband, aber sie werden selten Realität. Im Pandemie-Wettlauf ähneln wir dem Hasen. Das Virus dem Igel. Wir rennen hinterher. Das Virus lacht sich schief. Asiatische Länder sind nicht erfolgreich, weil autokratisch, sondern weil geübter, rationaler, konsequenter.

Stoiber: In der ersten Welle hat sich gezeigt, wie gut die föderale Struktur funktionieren kann, etwa im Vergleich zum zentralistischen Frankreich. Wenn die Inzidenz in Schleswig-Holstein anders ist als in Bayern, sind zentralistische Maßnahmen falsch und die verfügbaren Instrumente zur Corona-Eindämmung müssen differenziert angewendet werden. Aber die Instrumente an sich sollten in Katastrophenfällen wie der Corona-Pandemie, die das ganze Bundesgebiet betreffen, einheitlich sein, das heißt: gleiche Regeln für gleiche Infektionslagen. Eine Inzidenz von 200 muss in einem Landkreis in Schleswig-Holstein die gleichen Konsequenzen haben wie eine Inzidenz von 200 in einem bayerischen Landkreis. Das dient auch der Akzeptanz durch die Bürger. Die Bundeskanzlerin hat Recht, wenn sie Sonderwege einzelner Länder bei identischer Infektionslage, etwa bei Sperrstundenregelungen, kritisiert und sagt, dass hier die Subsidiarität versagt habe. Auch in der Digitalisierung des Schul- oder Gesundheitswesens, etwa beim „Digitalpakt Schule“ oder der Entwicklung von Software für Gesundheitsämter, scheinen einheitliche Vorgaben sinnvoll. Deshalb muss man sicher aus den Erfahrungen der Extremsituation Pandemie über die Notwendigkeit einer erneuten Staatsinventur nachdenken, um die Entscheidungsabläufe zu optimieren. Der Vorschlag des Unionsfraktionsvorsitzenden im Bundestag Ralph Brinkhaus, die Effizienz unseres Staatswesens in seinen Abläufen auf den Prüfstand zu stellen, geht genau in diese Richtung.

Hombach: Für mich spricht nichts dafür, dass Zentralismus mal eine bessere Lösung war, besser ist oder eine bessere sein wird. Vernünftige Arbeitsteilung ist es. Der regionale Ansatz hat sich auch jetzt als angepasster, lebensnäher und damit wirksamer erwiesen. Es wäre erstaunlich, wenn ich mit Herrn Stoiber beim Respekt vor dem Föderalismus auseinander wäre. Föderalismus gehört gestärkt, nicht geschwächt. Aber ganz selbstverständlich müssen wir auch hier vor allem die umsetzungsfördernde Infrastruktur verbessern, digitaler werden und die Handlungsabläufe effizienter gestalten und abstimmen. Dass die Arbeitsteilung immer wieder auf dem Prüfstand stehen muss, ist ein Allgemeinplatz. Sie ist aber zu selten auf der Tagesordnung. Was sich zwischen der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten abgespielt hat und weiter abspielt, ist letztlich Surrogat für Debatten, mit der unsere Vertreter im Bundestag in der medialen Vermittlung nicht stattfinden.

Stoiber: Die Abstimmungen unter den Ländern waren mühsam, eine Beteiligung des Bundestages kaum erkennbar …

Hombach: … dafür agierte der Bundesrat ersatzweise, was wenigstens etwas demokratischen Disput und Konsenskultur erkennen ließ.

Stoiber: Ja, aber verstehen die Leute das? Bekomme ich so bei den Menschen Verständnis? Wir müssen über die Frage, ob die Kompetenzordnung, ob unsere Staatsordnung für einen Vorgang dieser Art gewappnet ist, ganz offen diskutieren. Da, wo die Debatte hingehört: im Bundestag. Ich sehe schon, dass die Pandemie hier schonungslos Schwächen im System aufgedeckt hat. Dazu gehört, dass der Bundestag, die erste Kammer dieses Landes, in der Pandemie als Ort der Debatte viel zu kurz kam.

Hombach: Ich sagte schon: Nicht nur konfrontiert mit dem Virus hat die Talkshow dem Bundestag die Show gestohlen. Der Bundesrat und die Länder haben eine Ersatzfunktion wahrgenommen. Die Positionen der Ministerpräsidenten waren realitätsbezogen und nachvollziehbar. Sie sind eben dichter am Volk. Sie sind nebenbei präsenter und bekannter geworden.

Stoiber: Aber das ist doch nicht der Sinn dahinter! Es geht doch nicht um Prominenz und Bekanntheit von Personen, sondern um die Sache.

Hombach: Genau in der Sache wurden unterschiedliche Konzepte erkennbar. Das war positiver Wettbewerb. Der hat angestachelt. Das erbärmliche hausgemachte Impfdebakel wurde ans Licht gebracht und ausgeleuchtet. Daraus wurden – verspätet – Konsequenzen gezogen. Auf der europäischen Ebene versuchte man, peinlich schönzureden. Das Kanzleramt hat sich zunächst bei Frau von der Leyen untergehakt und verbreitet, bei der Impfstoffbestellung sei alles gut und richtig gelaufen. Erst als die vor Ort aufsteigende Wut von den Ministerpräsidenten nach Berlin getragen wurde, wurde das Geschwurbel aus Brüssel als freche Propaganda entlarvt.

Stoiber: Bei so tiefgreifenden Eingriffen in die Grundrechte der Menschen kann kein Bundesrat und schon gar keine Talkshow das Parlament ersetzen. Es reicht nicht, immer nur zu sagen: „Versteckt euch, fürchtet euch, redet mit niemandem!“, wie es der Soziologie Richard Sennett ausgedrückt hat. Das ist zwar epidemiologisch richtig, hat aber gesellschaftspolitisch verheerende Folgen. Das haben viele Leute vermisst: dass im Parlament die Debatte über Lösung A, B oder C stattfindet.

Wir leben in einem doppelten Föderalismus, einem deutschen und einem europäischen. Ist das Fluch oder Segen in dieser Situation?

Hombach: Der Föderalismus ist leistungsfähig und gut, wo er sinnvoll ist. Das ist er nicht beim Einhegen globaler Gefahren. Das von mir verehrte und geliebte Europa ist stark als das größte gemeinsame Vielfache. Es ist schwach als der kleinste gemeinsame Nenner. Die Weisheit eines Systems ist nicht immer auch seine Klugheit. Ich bin für Reformen, wenn sie nicht Vorteile beseitigen, sondern Stärken fördern. Und die Unterscheidung zwischen beidem erleichtern. Die real existierende Europäische Union ist leider nicht dazu angetan, die Stärken zu fördern, sondern eher auf niedrigem Niveau zu nivellieren. Gerade wer Europa liebt, darf die Reformen, vor allem die der Administration, nicht länger verschieben.

Stoiber: Ich bin überzeugter Föderalist und Europäer. Zentralistische Staaten wie Frankreich sind nicht besser durch die Krise gekommen als ein föderaler Staat wie Deutschland. Es gibt also keinen Grund, den in vielen Krisen bewährten deutschen Föderalismus vorschnell in Frage zu stellen. Aber eine Fehleranalyse der Entscheidungsabläufe brauchen wir!

Großbritannien ist kaum draußen aus der Europäischen Union und sogleich besser dran beim Impfstoff. Wird Corona die Fliehkräfte oder den Zusammenhalt in der EU verstärken?

Stoiber: Es war grundsätzlich richtig, dass nicht jeder EU-Staat – womöglich noch im Wettbewerb miteinander – die Impfstoffe auf eigene Rechnung gekauft hat. Die EU hat viel mehr Marktmacht als ein einzelnes Land und kann damit günstigere Konditionen aushandeln. Rückblickend betrachtet aber hat die Impfstoffbeschaffung durch die EU-Kommission schlecht funktioniert. Das muss man sagen dürfen, ohne gleich als „Impfstoffnationalist“ kritisiert zu werden. Andererseits hat die EU durchaus Handlungsfähigkeit bewiesen, zum Beispiel mit dem „Next Generation“-Wiederaufbaufonds, dem EU-Kurzarbeitergeld SURE oder dem beschlossenen EU-Haushalt. Die eigentliche Belastungsprobe für den Zusammenhalt Europas kommt aber bei der Verwendung der Mittel und der Rückzahlung der Schulden. Wenn zum Beispiel die Geberländer für den Wiederaufbaufonds den Eindruck gewinnen, dass die Profiteure des Fonds die Mittel für sachfremde Zwecke (zum Beispiel Erhöhung der Sozialausgaben) und nicht für Zukunftsinvestitionen ausgeben, werden die Fliehkräfte in Europa wieder steigen und die EU einer erneuten Belastungsprobe unterwerfen.

Was ist bei der Impfstoffbeschaffung schiefgelaufen?

Stoiber: Die Idee, die Pandemie europäisch zu bekämpfen, war richtig. Es wäre spalterisch für Europa, wenn hier alle Länder national gehandelt hätten. Aber durch die unterschiedlichen Interessen wurde Europa zu schwerfällig: Den osteuropäischen Ländern waren die Preise zu hoch, Frankreich hatte Sonderinteressen, zum Beispiel bei Sanofi. In der Praxis haben sich also deutliche Schwächen gezeigt. Das hat Frau von der Leyen inzwischen ja auch eingeräumt. Es wurde zu spät und zu wenig bestellt. Daran gibt es nichts zu beschönigen, das ist schlecht gemanagt worden. Das ist aber kein Strukturfehler. Sondern ein Versäumnis im Handeln. Es sind Fehler gemacht worden mit gewaltigen Auswirkungen. Denn jetzt sterben deshalb Menschen, die bei genügend Impfstoff nicht hätten sterben müssen.

Hombach: Ich teile Herrn Stoibers Grundbekenntnis zu Europa ohne Einschränkung! Umso verheerender finde ich, dass die europäische Realität diese Grundsätze nicht zur erfahrbaren Wirklichkeit macht. Das ist übrigens nicht das erste Mal, dass sich administratives Versagen und die Unfähigkeit, unter so vielen Beteiligten einen Konsens herzustellen, als Achillesferse der EU erwiesen hat. Wenn es also eine Lehre aus dieser Pandemie gibt für die, die Europa so wollen wie Herr Stoiber und ich, dann ist es diese: Europa muss handlungsfähiger und administrativ überzeugender werden. Als Balkanbeauftragter der G9, NATO, OSZE und auch der EU habe ich Brüssel intensiv erlebt. Damals habe ich öffentlich gesagt: Mein Balkan ist Brüssel. Diese Bürokratie habe ich zu oft nicht nur als leistungsschwach, sondern als bösartig erlebt. Eine Reform der exekutiven Administration ist nicht nur national nötig, sondern insbesondere europäisch. Es macht einen katastrophalen Eindruck, wie dysfunktional sich Europa im aktuellen Vergleich etwa zu Großbritannien und den USA bei der Impfschutzversorgung der Bevölkerung erwiesen hat. Es zeugt nicht von politischer Kunst, wenn national und europäisch nahezu 1 000 Milliarden Euro Schadensersatzleistungen an durch die Corona-Maßnahmen Gebeutelten ausgeschüttet werden – was ich nicht kritisiere –, aber viel, viel weniger Milliarden für die vorsorgliche Impfung. Was für eine Fehlallokation von Mitteln! Das wäre weder einem Kohl noch einem Schröder passiert.

Stoiber: Die nationale Verantwortung eines Regierungschefs ist auf jeden Fall unmittelbarer als die Verantwortung eines Kommissars oder der Kommissionspräsidentin. Das liegt schon allein daran, dass die Kommission nicht direkt gewählt wird. Vielleicht ist der politische Druck im nationalen Kessel genau der richtige Treiber für Politiker, schnell und effizient zu handeln. Und genau das scheint mir in der Europäischen Union zu fehlen. Hätte ein Herr Macron oder eine Frau Merkel das zu verantworten, stünden sie ganz anders im Feuer als jetzt die Europäische Kommission. Ich bin nach wie vor kritisch gegenüber der undifferenzierten Verfolgung des Ziels einer „ever closer union“. Aber in wichtigen Teilbereichen wie der Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch im Gesundheitsschutz brauchen wir jetzt einen weiteren europäischen Integrationsschub.

Hombach: Immerhin wurden zum ersten Mal Rücktrittsforderungen gegen Kommissionsmitglieder und sogar deren Chefin laut. Das ist neu und zeigt: Auch da politisiert sich was. Das ist auch gut so, weil es den gesunden Druck erzeugt, den Herr Stoiber einfordert. Ich teile nicht den Verdacht einiger, dass man nur deshalb Brüsseler Damen auf die Bühne zerrt, um Frau Merkel aus der Schusslinie zu halten.

Was bewirkt das Virus Ihrer Wahrnehmung nach gesellschaftlich? Wie blicken Sie auf die Querdenker und anderen Widerstand?

Hombach: Das kennen wir aus der Geschichte. Jede virologische Epidemie zieht eine sozialpsychologische nach. Das Paradox der Hilflosigkeit ist unerträglich. Es gibt eine latente Bereitschaft, sich mit erstbesten Erklärungen zu entlasten, auch wenn es die schlechtesten sind. Expertengläubigkeit schlägt leicht um in Expertenmisstrauen. Beide sind ja nur verschiedene Erscheinungsformen der gleichen Befindlichkeit: bequem glauben statt mühsam lernen und zweifelbereit wissen. Demagogen und Untergangspropheten wittern hier nun freies Schussfeld. Zu Anfang wollte man von Quer- und Quatschköpfen nichts hören. Da waren Fakten und Erkenntnisse drängend gesucht und gefragt. Die ersten Talkshows konnten wohl nicht anders. Schnell kehrte man zu den alten Gladiatorenkampfritualen zurück. Auch Wissenschaftler wurden aufeinander losgelassen. Die waren verblüfft, dass sie plötzlich in entsprechende Rüstungen gesteckt wurden und die Rollen festgezurrt waren, bevor sie das Drehbuch realisierten. Aus dem Pandemieerlebnis werden viele Widersprüchlichkeiten und nicht nachvollziehbare Anordnungen in der kollektiven Erinnerung haften. Kleine Ordnungswidrigkeiten gehörten für fast jeden zum Alltag. Da bleibt kein Schuldgefühl. Der fürsorgende Staat, der weiß, was gut und richtig ist, ist keineswegs die bleibende Erinnerung. Die Autorität staatlicher Verfügungen hat auch in den Augen des deutschen Michels Schaden genommen. Ich nehme allerdings erfreut wahr: Es gibt eine erhöhte Nachfrage nach glaubwürdigem und qualifiziertem Personal in staatlichen Diensten an unterschiedlichen Stellen. Aggressive Querköpfe sind Randgruppe. Ich sehe nicht, dass das die Stunde des Populismus ist. Ich wünsche mir dringend, dass die demokratischen Parteien nun sachlich nachvollziehbare Qualität liefern. Und die Apparate modernisieren und qualifizieren.

Stoiber: Es ist natürlich völlig legitim, gegen die Corona-Politik zu demonstrieren. Unter den Demonstranten sind viele Menschen, die sich berechtigte Sorgen um die Zukunft machen: kleine Ladenbesitzer, deren Herzblut im Geschäft steckt und die jetzt vor dem Ruin stehen; Gastronomen, die ihre lebenslangen Ersparnisse investiert haben und deren Restaurants nicht öffnen dürfen. Diesen Menschen muss die Politik Perspektiven bieten. Aber die Radikalisierung mancher Corona-Skeptiker, die die Legitimation der Politik grundlegend bestreiten, muss uns nachdenklich machen. Viele lassen sich durch Argumente nicht mehr überzeugen und schüren Hass auf „die da oben“. Das kann eine wehrhafte Demokratie nicht ignorieren. Ich hoffe, dass sich der Erfolg der Impfungen bald zeigt und wir unser Alltagsleben wieder annähernd normal führen können. Aber wir dürfen uns nichts vormachen: Corona wird auf alle gesellschaftlichen Bereiche massive Auswirkungen haben.

Kommen die Medien ihrer Aufgabe angemessen nach?

Stoiber: Ich sehe ein ernsthaftes Bemühen der Medien – gerade auch der privaten! –, die Menschen möglichst sachlich und umfassend zu informieren, manchmal auch etwas zu umfassend. Die Erkenntnisse der Wissenschaft finden nicht nur in der Politik, sondern auch in den Medien eine immer größere Verbreitung. Das ist sehr zu begrüßen. Allerdings spielen die sozialen Medien teilweise eine unrühmliche Rolle als Verstärker von Ressentiments und Falschinformationen. Hier stecken wir in einem Dilemma: Einerseits ist es gut, dass Twitter und Facebook die Konten von Hetzern löschen. Andererseits ist das ein gravierender Eingriff in die Meinungsfreiheit, der in einer Demokratie auch demokratisch vom Parlament legitimiert werden müsste. Es ist ein Unding, dass amerikanische Internetgiganten faktisch über die Meinungsfreiheit entscheiden können. Ich verweise auf das Beispiel Australien und den zügellosen Kapitalismus von Facebook, der sich gegen die demokratische Regierung in Canberra gerichtet hat.

Hombach: Na ja, Herr Stoiber, in das Loblied der Medien kann ich so nicht einstimmen. Sie kommen ihrer Aufgabe nach, wenn sie sich nicht selbst aufgeben. Eigentlich müssten sie gerade jetzt zur Hochform auflaufen: Recherchieren. Nachfragen. Erklären. Und das tun sie für meinen Geschmack zu wenig. Gefährlich wird es, wenn sie überhaupt nicht mehr erreichbar sind, weil sie sich mit dem „Fingerfood“ des Internetzirkus abspeisen lassen, oder das Brett vor dem Kopf die Welt bedeutet.

Wir erleben einen digitalen Offenbarungseid. Ist für die öffentliche Verwaltung und die Schulen Corona das, was die Eiszeit für die Dinosaurier war?

Hombach: Es gibt eine – vielleicht sehr „deutsche“ – Neigung, jeden Fortschritt kulturkritisch zu beäugen. Am liebsten vorbeugend. Frei nach Mephisto: „Drum besser wär’s, daß nichts entstünde.“ In vielem wurden wir überholt. Eindimensionaler Globalisierung, Industrialisierung und Traditionswächtern gilt der Zuruf: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Die Saurier wussten nicht, wie ihnen geschah. Wir wissen es. Das ist unsere Chance. Bezogen auf Ihre Frage zu den Medien möchte ich mit Spaß und Zustimmung Frau Wagenknecht zitieren. Sie hat am 1. Februar 2021 in der Welt in diesem Zusammenhang Formulierungen gewählt, die treffen: „Es gibt eine zunehmende Intoleranz. […] Das Grundproblem ist die Haltung: Wer nicht für mich ist, ist kein Andersdenkender, sondern ein schlechter Mensch. […] Man muss aufhören, Debatten zu moralisieren oder bewusst darauf auszurichten, Leute niederzumachen. […] Alle […], die ein Interesse daran haben, dass unser Land nicht wie die USA endet, mit dieser extremen Spaltung, sollten die Fähigkeit zurückgewinnen, mit Anstand und Respekt zu diskutieren.“

Stoiber: Am meisten Sorgen mache ich mir um die Schulen, dass es hier eine digitale Spaltung gibt: auf der einen Seite die Privatschulen, die ihren aus betuchterem Hause kommenden Schülern ein hohes digitales Qualitätsniveau bieten, auf der anderen Seite Kinder aus bildungsferneren Familien in öffentlichen Schulen mit einer unterdurchschnittlichen digitalen Performance. Eine Zwei-Klassen-Gesellschaft im Schulbereich müssen wir in jedem Fall verhindern. In jeder Krise liegt aber auch eine Chance. Das Positive an der Corona-Pandemie – sofern man davon sprechen kann – ist, dass sie ein Weckruf zur Beschleunigung des notwendigen Wegs in die Digitalisierung ist. Wir haben im März letzten Jahres beim ersten Lockdown erkennen müssen, dass unsere Schulen für Homeschooling digital nicht gut aufgestellt sind. Hier hat sich mittlerweile einiges verbessert, auch wenn noch viel zu tun bleibt. Corona hat auch deutlich gezeigt, dass die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung einen neuen Schub braucht. Deutschland muss hier den Anspruch haben, unter den Besten zu sein. Ein großes Problem ist hier wieder mal der teilweise überzogene Datenschutz. Der Widerstand von Datenschützern gegen die Ausweitung der Steueridentifikationsnummer ist ein Beispiel dafür. So wichtig ein funktionierender Datenschutz ist: Wir leben nicht in einer Diktatur, und viele Menschen geben Tag für Tag freiwillig viel persönlichere Daten im Netz preis.

Wird es eine benachteiligte Corona-Generation geben?

Hombach: Ich fürchte ja. Eine solche Katastrophe kann nicht narbenlos vorübergehen. Zu viele Menschen – Kinder, Arbeitnehmer, Eltern, Großeltern – machen traumatische Erfahrungen. Wichtige Entwicklungsphasen werden irreparabel beschädigt. Als Grundschüler haben wir unsere Lehrerinnen nahezu geliebt. Das wäre uns über Zoom und Skype sehr schwergefallen. Ich treffe meine Studenten seit einem Jahr nur mit briefmarkengroßen Bildern auf dem Bildschirm. Das ist wirklich unerfreulich. Der Kulturbereich, der das Wohn- und Lebensgefühl der Gesellschaft nachhaltig beeinflusst, liegt brach. Wir müssen sehr viel behutsamer als früher miteinander und mit uns selbst umgehen. Die Corona-Generation hat Gewissheiten verloren. Das ist auch eine Chance, erwachsen zu werden. Auch klüger, denn die nächste Epi- oder Pandemie kommt bestimmt. Der kluge Politiker zieht jetzt schon die richtigen Konsequenzen.

Zu den finanziellen und ökonomischen Folgen. Die Kanzlerin hat gesagt: Die immensen Schulden, die jetzt gemacht werden, werden nicht durch sonstige höhere Steuern oder Abgaben wieder ausgeglichen, sondern aus den Einnahmen einer anspringenden Wirtschaft. Das klingt nach Münchhausen, seinem Schopf und dem Sumpf.

Stoiber: Überhaupt nicht, Herr Schwennicke. Klar ist: Wir müssen das wiedergewinnen, was wir durch Corona verloren haben. Wachstum ist dazu der sinnvollste und beste Weg. Nach der Finanzkrise, in der die Verschuldung ebenfalls massiv angestiegen ist, konnte der Schuldenstand durch eine kluge Wachstumspolitik wieder zurückgeführt werden. Es wäre auch schädlich, die verfassungsmäßige Schuldenbremse abzuschaffen. Es gibt viele Beispiele für die Gefahr einer ausufernden Schuldenpolitik, siehe Argentinien oder auch Italien. Die Kanzlerin hat daher Recht. Steuererhöhungen sind der falsche Weg für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Die von linker Seite immer wieder ins Spiel gebrachte Vermögensteuer wäre Gift für Konjunktur und Wachstum und ein Bürokratiemonster ohnegleichen.

Hombach: Dass namhafte Vertreter der Partei, an die ich Mitgliedsbeitrag zahle, soziale Spaltungsdynamik für einen Wahlschlager halten, macht mich staunen. Mit dem Schlachtruf „Gegen die da oben“ gewinnt man nichts. Das Volk wisse nichts, aber ahne alles, soll Tucholsky mal gesagt haben. Es erkennt Konzepte aus der Mottenkiste. Konzepte, die wirtschaftlich noch nie so funktioniert haben, dass ausreichender Wohlstand für alle und eine gute Sozialpolitik finanzierbar waren. Ich hoffe sehr, dass der ideologiereduzierte Teil um unseren Finanzminister ein wachstumsorientiertes Konzept auf den Tisch legt und emsige Steuerzahler nicht gegen Leistungsempfänger ausspielt. Nach dem Krieg gab es Nachholbedarf, man nannte es „Fresswelle“. Auch jetzt gibt es einen gewaltigen Rückstau. Ganz besonders beim Erleben und der Mobilität. Dieser Nachholbedarf wird sich entladen. Optimistisch macht der Blick auf die Börse. Die Broker haben die Zukunft im Blick. Da treibt eine erkennbar gute Zukunftserwartung gegenwärtig die Kurse. Allerdings stimmt auch: Es gibt Corona-Gewinner. Große Gewinner zu Lasten anderer. Da ist ein gewisser Ausgleich nur anständig. Für mich ist klar: Nach den Virologen kommt die Stunde der Ökonomen. Clintons erfolgreicher Wahlkampfslogan „It’s the economy, stupid!“ wird Mehrheiten sammeln.

Stoiber: Von einem Lastenausgleich muss man jetzt nicht sprechen, finde ich. Das war nach dem Krieg eine ganz andere Situation, da war die Wirtschaft zerstört. Zwölf Millionen Deutsche im Osten hatten ihre Heimat verloren. Der Satz „Je östlicher die Deutschen gelebt haben, desto mehr haben sie für den Faschismus Hitlers und den Zweiten Weltkrieg bezahlt“ war die Grundlage für das Lastenausgleichsgesetz 1952. Bei aller Dramatik der aktuellen Situation: Sie ist mit damals nicht vergleichbar. Nach der Finanzkrise 2008/2009 ist das Defizit von etwa fünf Prozent auch innerhalb eines Jahres weitgehend durch Nachholeffekte in der Wirtschaft und im Konsum wieder ausgeglichen worden. Das kann auch jetzt so sein, wenn wir es schaffen, die Wirtschaft bis dahin am Leben zu halten, und dafür wird viel getan.

Ist im System selbst noch Luft für Einsparung?

Stoiber: Als ehemaliger Leiter einer europäischen High-Level-Group für Bürokratieabbau kann ich sagen: Bürokratieabbau ist ein kostenloses Konjunkturprogramm und kann auch innovative Energien in der Wirtschaft freisetzen. Und erfolgreiche Unternehmen bringen Arbeitsplätze und Steuereinnahmen.

Hombach: Für meinen Geschmack hätten Sie in Brüssel gerne noch viel mehr Bürokratie – nicht unbedingt Bürokraten – abbauen können, lieber Herr Stoiber. Bürokraten gibt es in Brüssel gar nicht so viele. Die gilt es zu führen und sinnvoll zu beschäftigen. In meiner Zeit als Balkanbeauftragter hatte ich viele Erlebnisse, die ich in der legendären britischen Serie Yes Minister wiederentdecke. Diese Brüsseler Bürokratie hat wenig Kontakt zur Wirklichkeit. Dass dort auf allen Ebenen vielfach mehr als bei vergleichbaren Positionen in der Nation verdient wird, trägt auch nicht gerade zur Erdung bei. Dass nationale Besonderheiten zu mehr Ideen und fröhlich anregendem Wettbewerb führen, kann ich im real existierenden Europa leider nicht erkennen. Hier führen nationale Egoismen und Besonderheiten nicht zu Exzellenz, sondern zum Bremsen, Neutralisieren und Egalisieren.

Wie wird die deutsche Wirtschaft nach dieser gnadenlosen Inventur durch das Virus aussehen? Verstärkung des digitalen „The winner takes it all“-Prinzips?

Stoiber: Die Wirtschaft muss nicht nur die Corona-Krise bewältigen, sondern sie steht vor weiteren großen Herausforderungen wie der Digitalisierung und dem Klimawandel. Die Gleichzeitigkeit dieser Krisen ist das eigentliche Problem. Die deutsche Industrie ist bislang mit einem blauen Auge davongekommen, bedingt vor allem durch den robusten chinesischen Markt. Existenziell betroffen sind dagegen viele mittelständische Unternehmen und bestimmte Dienstleistungsbranchen wie Gastronomie und Tourismus, die nur mit staatlicher Unterstützung durch die Krise kommen werden. Damit meine ich nicht nur Überbrückungshilfen, sondern auch mittelstands- und innovationsfreundliche Rahmenbedingungen, etwa in der Steuerpolitik. Sonst droht eine flächendeckende Verödung der Innenstädte.

Manche sehen in dem Virus eine Art Rache der Natur am Menschen und seiner mangelnden Umsicht für den Planeten. Können Sie dieser Sichtweise etwas abgewinnen?

Hombach: Die Pandemie macht uns bewusst, was wir eigentlich schon wussten: Alles hat miteinander zu tun. Im Raumschiff „Erde“ führt jedes parasitäre Verhalten über kurz oder lang zum Kollaps. Wer das jetzt nicht kapiert, kann einfach dem Unterricht nicht folgen. Die „Rache der Natur“ ist eine romantische Vorstellung, die ich nicht im Kopf habe. Uns gibt es auf der Weltzeituhr erst seit wenigen Sekunden. Wir sind Passagiere und sollten uns höflich benehmen. Wenn wir uns nicht an die Hausordnung halten, ist es kein Weltuntergang, aber wir gefährden uns selbst: Die Welt kann auf uns verzichten und würde auch nach uns heiter wie eh und je mit den Naturgesetzen tanzen. Wahrscheinlich merkt sie gerade erst, dass es uns überhaupt gibt. Das ein oder andere Virus wird unser Verschwinden natürlich bedauern.

Stoiber: Also ich kann mit dieser alttestamentarischen Sichtweise auch nichts anfangen. Wahr ist, dass durch die zunehmende Bevölkerungszahl viele natürliche Lebensräume unter Druck geraten. Wenn sich Mensch und Wildtier immer näherkommen, steigt die Wahrscheinlichkeit für die Übertragung von Krankheitserregern. Aber da wir an dieser Tatsache kurz- und mittelfristig nicht viel ändern können, sollten wir uns darauf konzentrieren, die Lebensweise des Menschen möglichst umwelt- und naturschonend zu gestalten. Die Notwendigkeit ökologischen Wirtschaftens ist ja heute allgemein anerkannt. Künftig wird es zum Beispiel auch weniger Flugreisen und mehr Videokonferenzen geben. Gleichzeitig müssen wir die medizinischen Frühwarnsysteme ausbauen, um neue Virenarten möglichst rasch erkennen zu können.

Das Virus betreibt schöpferische Zerstörung nach Schumpeter. Global. Wie wird sich die globale Ordnung verschieben, zu wessen Gunsten, zu wessen Nachteil? Und wo wird Europa in dieser neuen Ordnung stehen?

Hombach: Niemand wird „stehen“. Alle werden sich bewegen. Verdrängungswettbewerb erzeugt Verluste und Leidensdruck. Damit aber auch Energie, das Schlechte mit dem Besseren zu vertauschen. Wir gehen von Irrtum zu Irrtum auf die Wahrheit los. Die ist immer der Irrtum von morgen. Europa, wenn es sich nicht selbst unter Wert behandelt, ist ein sympathisches Konzept. Es versucht, Individualität und Gemeinsinn unter ein Dach zu bringen und Interessen friedlich auszugleichen. Das ist kein Zustand und schon gar kein sicherer Besitz. Es ist aber eine Methode mit einer unschlagbaren Eigenschaft: Sie kann sich permanent verbessern. Sogar durch ein lächerliches Eiweißgebilde, das sich nur vermehren will. Auf Kosten des Wirts, von dem es lebt. Wir sollten versuchen, ihm nicht ähnlich zu sein.

Stoiber: Unmittelbarer Profiteur ist sicher China, das in den letzten Jahren einen immer stärkeren Weltmachtanspruch entwickelt hat und ökonomisch bislang am besten durch die Corona-Krise gekommen ist. Aber wir sollten die Wirtschaftsmacht und die Faszination, die Europa in vielen Teilen der Welt nach wie vor ausübt, nicht unterschätzen. Der freiheitlich-demokratische Westen befindet sich in einem Systemwettbewerb mit dem autoritären Staatskapitalismus Chinas. Wer Sieger wird und ob es überhaupt einen Sieger geben wird, ist offen. Der amerikanische Präsident Joe Biden wird die Europäer fragen: Seid ihr auf unserer Seite oder paktiert ihr aus ökonomischen Gründen mit China? Unsere Antwort muss zumindest sicherheitspolitisch klar sein: Wir brauchen Amerika und stehen an der Seite Amerikas. Wirtschaftlich ist China für Europa mittlerweile ebenso wichtig wie die USA. Für die deutsche Autoindustrie war China der Anker, mit dem sie sich durch die Corona-Krise gerettet hat. Fast 40 Prozent der deutschen Autos gingen 2020 nach China! Eine Abschottungspolitik ist also aus praktischen Gründen nicht realistisch. Europa sollte aber gemeinsam mit den USA eine umfassende Strategie für den Umgang mit China entwickeln. Da wird Deutschland eine Menge beizutragen haben.

Das Corona-Brennglas

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