Читать книгу Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter - Группа авторов - Страница 11
1.1 Historie der Begrifflichkeiten und Konzeptentwicklung
ОглавлениеAls Hans Asperger 1944 in seiner Habilitationsschrift das später nach ihm benannte Asperger-Syndrom ausführlich beschrieb, benutzte er dafür den Begriff der „autistischen Psychopathie“. Grunja E. Ssucharewa beschrieb bereits 1926 ein recht ähnliches klinisches Bild und nannte es „schizoide Psychopathie“. Hier klingen die zentralen Begriffe der Psychopathie, des Schizoiden und des Autismus an, die zunächst in ihrer Bedeutung und Geschichte begriffen werden müssen, um die Begriffswahl Ssucharewas und Aspergers richtig verstehen und einordnen zu können.
Der Begriff Autismus (aus dem Griechischen von αὐτός „selbst“) wurde von dem Schweizer Psychiater Eugen Bleuler (1857–1939) geprägt und beschreibt den sozialen Rückzug und ein Zurückweichen in die eigene Gedankenwelt bei immer spärlicherer Kommunikation bei Menschen mit schizophreniformen Störungen.
Der Begriff der Schizoidie geht auf Ernst Kretschmer (1888–1964) zurück, der für seine Typenlehre und Konstitutionspsychologie 1921 für den Nobelpreis der Physiologie und Medizin vorgeschlagen wurde. Im Rahmen seiner Theorie führte er den Begriff des schizoiden Temperamentes ein, wobei er eine nosologische Nähe zur Schizophrenie postulierte (Kretschmer 1921).
Der dritte kritische Begriff der Psychopathie hat in den letzten Dekaden einen gewissen Bedeutungswandel im Sinne einer Bedeutungseinengung und -verschiebung erlebt. Ursprünglich und in der von Asperger gebrauchten Bedeutung ist der Begriff im heutigen Sprachgebrauch am ehesten als Persönlichkeitsstörung zu übersetzen. Gemeint sind damit zeit- und situationsstabile Eigenschaften einer Person wie etwa Extrovertiertheit oder Introvertiertheit, emotionale Stabilität, Impulsivität, Ängstlichkeit, Fähigkeit zur sozialen Wahrnehmung und Anteilnahme etc. (vgl. Tebartz van Elst 2008). Im Konzept der Persönlichkeitsstörungen wird davon ausgegangen, dass sich solche Eigenschaften als erkennbare, träge Eigenschaftscluster in der Kindheit oder Jugend herausbilden, im weiteren stabil sind und aufgrund charakteristischer und immer wiederkehrender Verhaltens- und Erlebensmuster zu relevanten Beeinträchtigungen und zu Leiden bei den Betroffenen und Dritten führen.
Zu Zeiten Aspergers war der Begriff der Persönlichkeitsstörungen in dieser Form noch nicht üblich und wurde konzeptuell am ehesten durch den Psychopathiebegriff repräsentiert. Unter Psychopathie wurden also, ebenso wie heute unter dem Begriff der Persönlichkeitsstörung, zeit- und situationsstabile Muster im Wahrnehmen, Erleben und Handeln von Menschen verstanden (Aschoff 1968).
Ähnlich wie heute im Zusammenhang mit Persönlichkeitsstörungen die Schwierigkeiten bei der Abgrenzung von Normalität oder nicht, reaktiver Psychogenese oder schicksalhafter organischer Verursachung intensiv diskutiert werden (Tebartz van Elst 2008, 2018, 2022), war dies in völliger Analogie auch beim Psychopathiebegriff in der Vergangenheit der Fall (Remschmidt u. Kamp-Becker 2006).
Der heutige alltagssprachliche und wissenschaftliche Psychopathiebegriff hat einen Bedeutungswandel erfahren, insofern nun darunter besonders schwere Formen der dissozialen und antisozialen Persönlichkeitsstörung verstanden werden, die meist im Verlauf mit antisozialen oder kriminellen Verhaltensweisen in einen Zusammenhang gebracht werden. Im fachsprachlichen Kontext wird in erster Linie auf die fehlende emotionale Empathie fokussiert.
Werden die Texte Aspergers oder anderer Autoren wie etwa Ssucharewa mit diesem modernen Psychopathiebegriff im Kopf gelesen, so kann es durchaus zu Missverständnissen im Hinblick auf die Denkweise etwa von Hans Asperger kommen.
Übersetzt in die moderne Sprache kann man also pointiert festhalten, dass Hans Asperger mit seiner Begriffswahl eine Art autistische Persönlichkeitsstörung mit Beginn im frühen Kindesalter beschrieb. Diese Formulierung wird vor allem dann von Interesse, wenn man mit der klinischen Realität konfrontiert wird, dass angesichts der wachsenden Popularität der Autismus-Spektrum-Störungen zunehmend leichter Betroffene mit teilweise exzellenter psychosozialer Adaptation vorstellig werden.