Читать книгу Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter - Группа авторов - Страница 21
2.1 Einleitung
ОглавлениеDie ICD-10 (WHO 1992) beschreibt Autistische Störungen innerhalb des Komplexes der tief greifenden Entwicklungsstörungen (ICD-10: F84.x). Darunter werden Formen von abweichender und nicht nur verzögerter Entwicklung verstanden. Alle tief greifenden Entwicklungsstörungen werden durch den Beginn in der frühen Kindheit charakterisiert. Ein kompletter Überblick der tief greifenden Entwicklungsstörungen wurde bereits in Kapitel I.1 gegeben. Frühkindlicher Autismus (F84.0), Asperger-Syndrom (F84.5) und atypischer Autismus (F84.1) bilden die drei Kategorien, die aktuell von der ICD-10 als Formen der autistischen Störungen definiert werden. Die Symptomatik wird in drei Hauptsymptomkomplexe zusammengefasst, die im Folgenden, entsprechend ihrem Erscheinungsbild in der Kindheit, ausführlich beschrieben werden:
1. Qualitative Auffälligkeiten der gegenseitigen sozialen Interaktion: Darunter werden zusammengefasst: (a) Beeinträchtigungen der Fähigkeit, soziale Interaktionen durch nichtverbales Verhalten (z.B. Blickkontakt oder soziales Lächeln) zu regulieren, (b) Schwierigkeiten, Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzunehmen und aufrechtzuerhalten, (c) Mangel an geteilter Aufmerksamkeit und/oder Freude mit anderen zu teilen, (d) Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit. Kinder mit Autismus sind meistens unzureichend dem Gegenüber zugewandt und richten häufiger ihre Aufmerksamkeit auf Objekte und Gegenstände. Kinder und Jugendliche mit hochfunktionalen Autismusformen konzentrieren sich oft auf Sachverhalte und weniger auf emotionale Aspekte von Situationen. Eine unzureichende Modulation der sozialen Interaktion durch nonverbale Signale (mimischer Ausdruck, beschreibende und emotionale Gestik) ist charakteristisch, allerdings ist die Ausprägung dieser Beeinträchtigungen sehr unterschiedlich und sie kann im Laufe der Zeit, vor allem bei hochfunktionalen Individuen, teilweise kompensiert werden. Die fehlende Integration bei Gleichaltrigen, vor allem in der Sozialisierung innerhalb der Peer-Group, ist möglicherweise eine Konsequenz der Schwierigkeiten im sozialen Bereich und nicht unbedingt Ausdruck mangelnder sozialer Motivation. Auch die unzureichende sozio-emotionale Gegenseitigkeit resultiert aus den Schwierigkeiten, soziale und emotionale Signale bei anderen korrekt und rechtzeitig wahrzunehmen. Es kommt daher bei betroffenen Kindern zu unpassendem Verhalten in kritischen Situationen oder zu inadäquaten verbalen Ausdrücken und Bemerkungen. Beispielweise sind autistische Kinder nicht dazu in der Lage, zu merken, wann ein Scherz oder ein scherzhaft oder spielerisch gemeinter Streich zu Ende ist und verärgern durch unangepasste Reaktionen die Gruppe.
2. Qualitative Auffälligkeiten der Kommunikation und der Sprache: Bei der Hälfte der Kinder mit frühkindlichem Autismus liegt entweder keine oder eine nur unverständliche Sprache vor. Auch kompensieren sie diese mangelnden Sprachfähigkeiten nicht mit Mimik, Gestik oder spontanem Imitieren von Handlungen. In diesen Fällen hat die Sprache – wenn überhaupt vorhanden – eher einen stereotypen, repetitiven oder idiosynkratischen Charakter. So vertauschen Kinder mit frühkindlichem Autismus beispielsweise die Personalpronomina, neigen zu Echolalie und Wortneubildungen, und nur selten findet ein sprachlicher Austausch im Sinne einer informellen Konversation statt (z.B. fehlende Fähigkeit zum „Small Talk“). Im Bereich des hochfunktionalen Autismus und des Asperger-Syndroms sind v.a. qualitative Auffälligkeiten der Sprache zu vermerken, wie auffällige Prosodie, Stimmhöhe oder Betonung und situationsinadäquate Lautstärke. Hans Asperger (1944) bemerkte treffend, dass die von ihm beschriebenen Patienten „wie kleine Professoren“ sprechen; also einen übergenauen, erwachsen anmutenden Duktus aufweisen. Darüber hinaus weisen die meisten Kinder mit Autismus eine deutliche Verzögerung der Imitationsfähigkeit sowie des „So tun als ob“- und Fantasie-Spieles auf. Wenn diese Kinder andere imitieren, wirken sie dabei oft steif, unnatürlich oder übertrieben. Kreativität und Variationen fehlen bei diesen Imitationsversuchen. Manche Kinder mit Asperger-Syndrom und sehr guten formal sprachlichen Fähigkeiten entwickeln beim Spielen ein ausgeprägt dominantes Verhalten: Sie versuchen, ihre Defizite in der gegenseitigen sozialen Interaktion dadurch zu kompensieren, dass sie Art, Ablauf und Ausgang des Spieles bestimmen. Manchmal entwickeln diese Kinder eigene Spielregeln und versuchen die Mitspieler dazu zu zwingen, diese zu befolgen.
3. Begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten: Die Betroffenen beschäftigen sich mit stereotypen, ungewöhnlichen Handlungen und eng begrenzten Spezialinteressen (z.B. Straßenfahrzeuge, Fahrpläne, elektrische Geräte, Sammeln ungewöhnlicher Gegenstände, intensives und über das normale Maß hinausgehendes Interesse an naturwissenschaftlichem, mathematischem oder lexikalischem Wissen), wobei Letzteres vor allem beim Asperger-Syndrom anzutreffen ist. Auch motorische Manierismen, wie zum Beispiel das Flattern mit den Händen bei Freude oder rhythmische Schaukelbewegungen, sowie die Beschäftigung mit Teilobjekten und ihren sensorischen Qualitäten (zum Beispiel wie sie riechen oder sich anfühlen) zählen hierzu. Diese treten allerdings meistens dann auf, wenn ein intellektuelles Niveau im Bereich der Intelligenzminderung vorliegt. Ein weiteres Symptom besteht darin, dass viele Menschen mit autistischen Störungen bemüht sind, eine strikte Ordnung in Form von Gleichförmigkeit der Umwelt und festen Tagesabläufen in ihrem Leben zu etablieren. Kleinste Abweichungen können als bedrohlich erlebt werden und zu Anspannungszuständen und Wut führen.
Um die Diagnose „frühkindlicher Autismus“ stellen zu können, sollte zusätzlich zu diesen Kriterien eine deutlich auffällige Entwicklung (v.a. im sprachlichen Bereich) vor dem 3. Lebensjahr vorhanden sein, wobei in drei Viertel der Fälle eine komorbide Intelligenzminderung besteht. Menschen mit Asperger-Syndrom (AS) haben per Definition keine allgemeine kognitive Entwicklungsverzögerung (IQ ≥ 70, also keine Intelligenzminderung) und keine abnorme Sprachentwicklung, weshalb die Diagnose später als beim frühkindlichen Autismus, oft im Altersbereich zwischen sechs und zwölf Jahren, gestellt wird. Ansonsten entsprechen die diagnostischen Kriterien im Grunde denjenigen des frühkindlichen hochfunktionalen (high-functioning) Autismus (HFA, d.h. ebenfalls mit IQ > 70 und einem guten Funktionsniveau beim Verrichten alltagspraktischer Tätigkeiten). Der atypische Autismus (AA) wird nach ICD-10 dadurch unterschieden, dass die diagnostischen Kriterien nicht in allen drei Bereichen erfüllt sind. AA wird daher hauptsächlich durch Ausschluss von frühkindlichem Autismus und AS bei bestehenden autismustypischen Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion definiert. In der Praxis wird diese Kategorie oft benutzt, wenn die Abgrenzung zu anderen Entwicklungsstörungen (z.B. Intelligenzminderung, Sprachentwicklungsstörungen) sowie zu der häufig komorbid auftretenden Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) schwierig ist.