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Bildwerfer

Stephan Schmid

Schwierig ist es, einen Dialog mithilfe der Sprache herzustellen zwischen zwei so verschiedenen Welten, Wirklichkeiten. Mein Versuch daher, über Bilder zur Sprache zu gelangen. Bilder, die ich zum einen im Rahmen des Lehrgangs zum kreativ-rituellen Prozessgestalter und zum anderen aus meinem Arbeitsalltag im Strafvollzug entwerfe und einander gegenüberstelle.

Es sind Bilder, die nicht meine tägliche Arbeit, sondern meinen Ort der täglichen Arbeit beschreiben, was ich und der Insasse sehen. Dem stelle ich dann eine zweite Welt entgegen, einen Ausschnitt aus dem Lehrgang.

Die Brücke schlage ich über meine ganz persönliche Wahrnehmung, z. B. der hohen technischen Sicherheit, die ich in meinem Arbeitsalltag erlebe, den Mauern und Gittern hinter denen ich den Menschen begegne und andererseits dem Schutzraum, den die Natur mir bietet.

Ich will nicht infrage stellen und auch nichts als Besonderes hervorheben. Mein Interesse gilt alleine dem persönlichen Wahr-nehmen, der Verbindung dieser beiden Wirklichkeiten, die sich in mir ergibt.

Wir stehen vor unseren Rucksäcken. Gelächter, Zwischenrufe. Es geht darum, sich und den Rucksack von Überflüssigem, Alltäglichem zu befreien. Auf das Nötigste reduzieren, das, was jeder denkt, was er in den nächsten vier Tagen braucht, um sich im Wald zurechtzufinden. Viel Sichtbares bleibt liegen. Wir haben vor, zusammen und gleichzeitig jeder für sich allein, auf eine Reise zu gehen. Eine Reise zu sich, jenseits aller Eile und Hast.

Immer wieder geht er durch den Metalldetektor, Blinken und Piepsen zeugen von noch vorhandenem Metall, Gürtelschnalle, Ringe und Halskette, Schuhsohlen und Jackenknöpfe. Langsam und misstrauisch reagiert er auf die Anweisungen. Er deponiert alles in einer grauen Kiste, zur Kontrolle. Geführt und durch mehrere Türen gelangt er in einen bestimmten Trakt des verzweigten Gebäudes.

Es gibt Hinweise, Anregungen, aber keine Kontrolle. Jeder entscheidet selber, auf was er nicht verzichten kann. Das Allgemeingut wird auf jeden Einzelnen verteilt. Noch mit der Welt verbunden, in der wir leben, in einzelne Gespräche verwickelt, betreten wir einen neuen Raum und erschaffen uns ihn gleichzeitig selber. Versuchen, ihn zu lesen mit all unseren Sinnen. Es wird stiller um uns, in uns.

Wieder in seiner Zelle, allein. Die Einrichtung ist karg, nüchtern. Graue Betondecke, weiße Wände, ein Bett, ein Stuhl, Tisch und Fernseher, eine von Holzwänden abgeschirmte Toilette. Die Ordnung ist gegeben. Zu lange sitzt er schon in diesem Raum, mit sich allein, unterbrochen von täglichen Spaziergängen im kleinen Hof, überdeckt von einem Gitter, oder dem angeordneten Gang zur Dusche, die einzigen Möglichkeiten, ein kurzes Gespräch aufzubauen.

Fichten, dichter Fichtenwald, eine steht neben der anderen, zwar unregelmäßig und doch wie ein Gitter, ein Gitter in dreidimensionaler Form, dazwischen dunkles Summen, ein Schutzraum, ich kann mich darin frei bewegen. Einen Platz suchen für einen ersten Rückzug, die erste Nacht. Auf dem Boden liegend, kommt mir Wärme entgegen, ich bin aufgehoben, geborgen.

Ich spanne ein leichtes, schützendes Dach, ein Nest entsteht.

Gitter, runde, schwarze Eisenstäbe, einer neben dem anderen, eindimensional in Reih und Glied, gefüllt mit Luft, dazwischen graues Licht mit leisem Summen, Druckluft, Machtraum. Er steht dahinter mit seinem Erinnern, Träumen, Nachdenken und Sinnieren. Entsprechende Handlungsimpulse sind beschränkt oder blockiert. Endlich ist die Untersuchung abgeschlossen, der innere Kampf mit der eigenen Wahrheit und der äußere mit all den Vorwürfen.

Er hat den vorzeitigen Strafantritt unterschrieben, kommt aus dieser Zelle raus, in eine andere Abteilung.

Ich sitze in der Nähe eines Feuers, eine Gruppe Männer und Frauen, vertieft in meinem Bemühen, aus einem Stück Holz einen Löffel zu schnitzen, zu brennen, spüre die Geschäftigkeit der anderen, die Funken, die überspringen, höre das Schnipseln der Messer, Lachen, Gesprächsfetzen, Knistern, Wärme, es gibt Suppe und wir haben noch kein Besteck, um sie zu essen, mit jedem Holzspan, der fällt, bin ich mit einem Gedanken mehr präsent, komme hier in diesem Raum an.

Auch er spürt Unsicherheit, zu vertraut ist ihm die Einsamkeit unterdessen, der Rhythmus des eigenen Alltags. Natürlich ist auch Unvorhergesehenes passiert, plötzliche Wendungen in der Beweisführung der Polizei, Gegenüberstellungen, Briefe naher Verwandter, erste ungelenke Besuche seiner Frau und ihres gemeinsamen Kindes, die ihm Einblick gaben in sein Verhalten.

Wie ein Wettstreit, zurückgeworfen auf mich selbst arbeite ich mich an diesem Stück Holz voran, schnitze, brenne; feile ich an mir herum? Wiege ab, halte inne. Verborgenes sucht sich einen Weg nach außen durch meine verlängerte Hand zu diesem Stück Holz, kann‘s nicht benennen, vielleicht erahnen. Hab‘s vor dem Feuer bewahrt, das verbindet schon.

Und immer wieder die Begegnung mit dem, was er tat, warum er hier ist, all die dahinterstehenden Umstände, Verstrickungen, eigene und fremde Zwänge, das Erinnern an das, was er nicht vergessen kann, Eingestehen eigener Fehler und verpasster Chancen, es kommt ihm vor wie ein Abtasten entlang seiner Lebenskette.

Lege Holz ins Feuer. Die Vertiefung im Holzstück, das mein Löffel wird, nimmt Form an, es ist Handwerk. Ich fische Glut aus dem Feuer und lege sie in die noch kleine Vertiefung, blase und brenne so langsam und konzentriert eine Wölbung ins Holz. Die Vertiefung findet sich auch in mir, bin in innere Welten abgetaucht. Ein Versuch, Unnötiges wegzuschnitzen, der Löffel soll gut fassbar in der Hand liegen, soll Platz haben für Suppe und anderes. Gleichgewicht, ausgewogen.

Sind da auch Perlen, die sich aneinanderreihen oder nur steinerne, holzige Kugeln? Unterdessen weiß er, dass er eine längere Zeit als gedacht hinter diesen Mauern verbringen wird. Ein Vollzugsplan wurde erstellt, Ziele formuliert, neue Kugeln auf seine Lebenskette gezogen. Daran kann er sich orientieren, es gibt ihm Halt und Richtung zugleich.

Ich assoziiere, in Gedanken bin ich bei Nahrung, innere und äußere, wie gehe ich damit um, wie nähre ich meine Kraft, was bin ich bereit, dafür zu geben, zu tun, wie nehme ich Nahrung zu mir, in welchen Formen, wie groß muss mein Löffel sein, wie die Form, um all das, was ich benötige, zu schöpfen. Ich nehme Kontakt auf zu meiner Umgebung, den Menschen, dem Boden, den Bäumen.

Klare Regeln, feste Strukturen, als ob das ihm erst Möglichkeit gebe, zu innerer Freiheit zu gelangen.

Wir trennen uns, jeder geht auf seinen Weg, der Abschied ritualisiert und die Ankunft bei sich mit einer Waschung vollzogen. Geräusche sind so schnell, meine Augen verbunden, sehe mit den Fingerkuppen, ein moosbedeckter Stein, weicher Waldboden, feine Tannennadeln, strecke die Fühler aus, mein Platz für die Nacht.

Eine kleine, flache Vertiefung auf einer Hügelkuppe. Knappe drei auf zwei Meter, genügend Platz für ein Feuer, mein Gepäck und gemütlich Liegen.

Vereinzelung heißt das in der Fachsprache, mein Eintritt in diese Mauern, stehe in einem Raum so groß wie eine Telefonkabine, in der Mitte am Boden ein großer runder Kreis, da muss ich draufstehen, die Türe vor mir kann ich erst öffnen, sobald die Türe hinter mir geschlossen ist, technische Sicherheit ritualisiert, ich transformiere mich.

Auf drei Seiten geht es runter, auf einer Seite durch einen großen Stein begrenzt, er hat die Form einer riesigen Vagina, was wird hier geboren?

Nach vorn den Hügel rauf zu einer kahlgeschlagenen Lichtung, von der Abendsonne hell beleuchtet, höre Äste knacken, ein fernes Singen, es sind Kollegen / -innen in meiner Nähe, dabei wollte ich ganz allein sein. Ebne meinen Schlafplatz, spanne die Plane, sammle Holz fürs Feuer, schmücke meinen Platz mit Gesammeltem, ruhig und ohne Hast, lasse aufkommende Gedanken an mir vorbei, ohne nachzuhaken, will sie nicht einfangen, nur anschauen und ziehen lassen. Konzentriere mich auf das, was ich tue, esse mit meinem Löffel, lasse ihn so grob geschnitzt, wie er ist, er passt zu mir.

Der erste Kontakt mit einem Arbeitskollegen, er steht hinter Glasscheiben im Zentrum, ich bekomme mein PSS (Personenschutzgerät), ab jetzt bin ich überwacht und erreichbar, in Sicherheit, noch ist Trägheit spürbar.

Die nächste Tür öffnet sich, wie ist meine Haltung, meine Wahrnehmung, die nächste Tür, ein Klick, aber öffnen muss ich selber, dann der endgültige Eintritt, ich brauche zum ersten Mal meinen Schlüssel, Schleuse im Arbeitsalltag, Gang durch den Erschließungstrakt, Vertrautheit, die ersten Geräusche, die auf menschliches Leben schließen lassen, mein Weg durch den Trakt überwacht durch Kameras. Wie ist meine Haltung? Eine kunstvoll mit Glassplittern gefüllte Wand, dann rohe Eisenplatten, gegenüber Glasbausteine, die Licht vom Innenhof durchlassen, Kunst am Bau.

Zu viel ist in Bewegung um mich, werde abgelenkt, die Aufmerksamkeit auf Nachbarn von mir gerichtet, packe schon früh am Morgen, will weiter, in die Höhe und in den Wald, will meinen eigenen Rhythmus, versuche, ihn in der eigenen Bewegung, dem eigenen Tempo zu finden.

Gebe einen sechsstelligen personifizierten Code ein, mit dem Schlüssel identifiziere ich mich auf dem Leser, kann die Türe öffnen. Die technische Sicherheit gibt mir auch den Raum, um das wahrzunehmen, was um mich geschieht. Ich trete in einen rechteckigen Raum, das dumpfe Geräusch der Belüftung, dicker Zigarettenrauch, Männer an schwarz-grauen Tischen, auf schwarz-grauen Stühlen, vor dunklem Kaffee, schweres Gelächter oder stumme Anspannung, Frühstück, ich setze mich zu ihnen. Ruhig, ohne große Worte und ohne Hast beginnt unser Tag, jeder auf seine Art damit beschäftigt, die nächtlichen Träume zu verscheuchen.

Auf dem Waldboden eingeschlafen erwache ich, liege im eigenen, noch offenen Grab und schaue in das grüne Dach über mir, darin verfangen ein riesiger abgebrochener Ast. Er wirkt nicht bedrohlich und doch, ein kleiner Windstoß und er würde direkt auf mich runterfallen. Das schützende grüne Dach über mir, darin verwoben das Zerbrechliche, Vergängliche. Ich drehe mich zur Seite und stehe vorsichtig auf, als ob ich durch meine Bewegung den Windstoß auslösen könnte. Warum habe ich das nicht gesehen, als ich mich hinlegte und lange in das Blätterdach schaute, bevor ich einschlief? Was bedeutet dieser Traum?

Langsam füllt sich der Arbeitsraum, ich bin am Mich-Einlesen, Mails, Logbuch, Vorfälle und Beobachtungen. Das Gelesene steht zwischen mir und den Männern, die jetzt an ihren Arbeitsplätzen sitzen, zum Teil neu verteilt, der Neue hat seinen Platz in der Hierarchie der Gruppe bekommen. Lasse es geschehen. Wir stellen uns vor, erkläre ihm die Regeln und was ich von ihm erwarte, was er von mir erwarten kann.

Es gibt keinen sichtbaren Weg. Zwischen riesigen Felsbrocken steige ich den Hang entlang. In Gedanken verstrickt vom Gebären und Sterben, stehe ich plötzlich am Rand einer kleinen Waldlichtung, mittendrin ein Wasserloch. Verwundert und fasziniert bleibe ich stehen. Was für eine unergründliche Kraft von diesem Ort ausgeht. Eine wunderbare Zufriedenheit überkommt mich. Schließe die Augen. Bilder aus vergangenen Zeiten tauchen auf. Taste mich vorsichtig voran, verbinde sie. Eine Lebensbilderkette entsteht. Ob ich sie mir um den Hals legen kann?

Stephan Schmid

Jahrgang 1956, lebt in Luzern (Schweiz)

Derzeit: Arbeitsagoge im Strafvollzug

Systemische Erlebnispädagogik

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