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Im Spiel der Phänomene

Astrid Habiba Kreszmeier

Eine phänomenologisch orientierte Pädagogik (wofür sich die Kreativ-rituelle Prozessgestaltung hält) baut ihren Rahmen, ihre Rhythmik und ihre methodisch-didaktische Interventionsführung auf der Annahme auf, dass der pädagogische Prozess von Phänomenen unterstützt oder gar geleitet werden kann. Wenn ich hier einige Sichtweisen zu diesem „Spiel der Phänomene“ im pädagogischen Kontext darstelle, dann im Bewusstsein, dass ich mich auf ein weites Feld begebe, dem ich nicht umfassend gerecht werden kann. Das hat einerseits mit unserer eigenen Begrenztheit, aber ebenso mit dem Gegenstand der Betrachtung zu tun, an den sich die Menschheit schon seit langer Zeit und aus vielen verschiedenen Forschungsrichtungen letztlich immer nur herantastet. So werde auch ich mich einer solchen Pädagogik hier nur fragmentarisch und assoziativ annähern, hoffe aber dennoch, einige hilfreiche Bilder und Gedanken mitteilen zu können.

Was ist (hier) ein Phänomen?

Ein Phänomen ist einfach gesagt „etwas, das sich zeigt“, „etwas, das sichtbar wird“, „etwas, das unter vielen anderen sichtbaren Ereignissen oder Dingen besonders hervorsticht“.

Wenn durch einen Seminarraum ein Tiger laufen würde, aber niemand sieht ihn, dann wäre er nicht nur kein Phänomen, sondern nicht einmal existent. Wenn sich in diesem Raum ein Schmetterling auf meinen Handrücken setzen würde, angenommen genau in dem Moment, in dem ich das berühmte Beispiel vom Flügelschlag eines Schmetterlings in China, der dann in Südamerika ein Erdbeben mitbewegt, erzähle, dann wird dieser Schmetterling erst dann wirklich, wenn ich oder irgendjemand ihn wahrnimmt. Aber selbst dann muss er noch kein Phänomen sein. Zum Phänomen wird er erst, wenn etwas zwischen mir und dem Schmetterling oder zwischen anderen und dem Schmetterling geschieht, das dieser Begegnung Bedeutung schenkt und die Beteiligten „berührt“.

Ein Phänomen ist also nicht per se ein Phänomen, sondern wird erst durch den Akt der Wahrnehmung und Beziehung zu einem solchen. Eine phänomenologisch orientierte Pädagogik ist also kurz gesagt eine Pädagogik der beziehungsstiftenden Wahrnehmung. Was die Sache nicht zwingend einfacher macht, weil die Wahrnehmung wohl einer der komplexesten Seinsvorgänge ist, mit denen wir uns befassen können.

Ein paar Gedanken zur Wahrnehmung

In uns allen fließt – weil über viele Jahrhunderte so gesehen und gelehrt – die Vorstellung, dass unsere Wahrnehmung ein Vorgang ist, durch den eine äußere Wirklichkeit objektiv und objektgetreu abgebildet wird. Das führt dazu, dass wir konsequent davon ausgehen, dass das, was wir wahrnehmen, genauso wirklich ist, dass es dort draußen, getrennt und unabhängig von uns, existiert.

Daran haben auch die Erkenntnisse der Physik, der Biologie, der Wahrnehmungspsychologie etc. der vergangenen 90 Jahre noch kaum etwas verändert, umso wichtiger, uns daran immer und immer wieder zu erinnern:

Das, was wir wahrnehmen, ist nichts Objektives, sondern das, was wir durch den Wahrnehmungsprozess, der von vielen vorbewussten Mustern und Selektionsverfahren geprägt ist, als Wirklichkeit herausfiltern.

Die Lebensfadenspinnmaschine

Demnach ist Wahrnehmung weit mehr als die Abbildung einer Wirklichkeit, sie ist ein Prozess, der aktiv an der Erschaffung dieser Wirklichkeit beteiligt ist. Meine Wahrnehmungsart beeinflusst nicht nur meine Wirklichkeit, sondern darüber hinaus auch die Wirklichkeit des Wahrgenommenen. Damit wird auch deutlich, dass Wahrnehmen kein einseitiger, sondern ein interaktiver Vorgang ist, bei dem die vorher so klaren Grenzen des Innen und Außen ziemlich rasch verschwimmen.

Für gewöhnlich geht der Wahrnehmungsprozess, das heißt auch der „Bedeutungsgebungsvernetzungsakt“ so schnell vor sich, dass er sich unserem Bewusstsein entzieht, wie die vielen Bilder im Film, die wir nie einzeln sehen, ohne die es beim schnellen Abspielen aber keine Bewegung gäbe. Und das macht auch Sinn, denn durch diesen Akt der Auswahl, Betonung, Ausblendung und Verknüpfung erzeugen wir eine kontinuierliche Ich-Identität und unser Leben erhält einen roten Faden.

Hinderlich ist, dass dieser sich hin und wieder ziemlich verheddert und auch, dass er uns manchmal hartnäckig von dem abhält, was das Leben auch noch zu bieten hätte, und wir an Lebendigkeit verlieren.

So gesehen ist die Wahrnehmung als bedeutungs- und wirklichkeitsstiftender Vorgang ein zentraler Faktor für menschliche Entwicklung. Wenn es gelingt, unsere Wahrnehmungsstruktur zu verändern, verändert sich unsere Welt – oder kurz gesagt, wer anders wahrnimmt, nimmt anderes wahr.

Ein Phänomen stört und erweitert die Kreise …

Davon ausgehend, dass Wahrnehmung ein stetiger Bedeutungsgebungsvernetzungsakt sein könnte, ist ein Phänomen (im pädagogischen Kontext) eine Erscheinung, die zunächst nicht ins Schema passt, die den Akt stört, die irritiert, schockiert, bremst, belustigt und anderes mehr. Ein Phänomen taucht aus der Fülle des Möglichen auf, materialisiert sich sozusagen vor der Nase des Protagonisten und bietet Begegnung und Beziehung an; es ist wie ein Angebot des Lebens, auch noch anders und anderes wahrzunehmen. Ob das dann auch geschieht, hängt freilich davon ab, ob der, um den es geht, in seiner Lebensfadenspinnmaschine dafür empfänglich werden kann. Denn wie schon weiter oben erwähnt: selbst ein überaus deutlicher Wink mit dem Zaunspfahl wird unbemerkt bleiben, wenn die Gemeinten ihn entweder nicht sehen oder sich nicht mit ihm in Beziehung bringen. Geschieht es jedoch, dass ein Phänomen wirkt, dann ist dies ein großes Geschenk für den Betroffenen und für den Pädagogen:

Es erhöht augenblicklich die Aufmerksamkeit, verdichtet den Moment, erweitert den Raum, in dem etwas Neues stattfinden oder ausprobiert werden kann, fördert Lernbereitschaft bzw. die Wirkfaktoren, die Lernen ermöglichen. Ein Phänomen ist vielleicht noch kein Torschuss, aber allemal ein präzises Zuspiel, das die Chance auf einen Treffer erhöht. Wobei ein Tor in diesem Kontext nichts anderes ist, als der nächste mögliche Lern- und Entwicklungsschritt, der jemandem zur Erweiterung seiner Lebenskreise offensteht.

Einige Erscheinungscharakteristika

Um verwirrenden Vorstellungen vorzubeugen: Ein Phänomen ist in diesem Sinn nicht unbedingt etwas Besonderes. Es kann ein kleiner Stein am Weg sein, ein Lufthauch, der durch Blätter streicht oder sonst etwas Kleines, das aus dem Moment heraus zu etwas Bedeutsamem wird.

Phänomene sind also Ereignisse, Zeichen, Begegnungen, die den Menschen von außen geschenkt werden, und die die Kraft besitzen, den kontinuierlichen Schöpfungsakt, in dem wir uns befinden, um neue Fäden oder Strickmuster zu erweitern.

Phänomene sind originell und einmalig, sie entziehen sich der Wiederholbarkeit, und ebenso den klassischen Kriterien von Überprüfbarkeit und Wissenschaftlichkeit. So gesehen gehören sie schon eher zur Welt der Magie, salopp gesprochen, weil da etwas wirkt und ins Wirken kommt, was rein rational unerklärlich bleibt. Phänomene lassen sich daher auch nicht klassifizieren, dennoch gibt es ein paar Auffälligkeiten, die immer wieder vorkommen und die auf einen Phänomenprozess verweisen können.

• Die Wiederholung

• Die Überraschung, das Absurde, das Unmögliche

• Das bescheidene Geschenk

• Begegnungen mit Tieren, Natur- und Wettererscheinungen

• Das Wunder

• Und über all dem die Zeit: der opportune Moment, die Wahrnehmung von Koinzidenzen und Synchronizitäten

Hinweise für phänomenologische Pädagogen und solche, die es werden wollen …

Eines sei gesagt: Phänomene kann man nicht machen, nicht planen, nicht steuern, man hat keinen Zugriff auf sie. Fast könnte man sagen: wer sie unbedingt will, verscheucht sie. Was man aber tun kann, ist, sie zulassen, ihnen Möglichkeiten geben, sich zu zeigen, sich von ihnen ergreifen lassen.

Oft fragen uns Studierende, wie wir es anstellen, dass so viel geschieht, während wir scheinbar so wenig tun, oder auch, worauf wir genau schauen, damit all das sichtbar wird, was sich zeigt. Cito antwortet dann manchmal zum Unverständnis einiger: „Wir schauen gar nicht so genau, richtig genommen übersehen wir ganz viel, damit das, was gesehen werden will, in Ruhe auftauchen kann.“ Das ist genauso paradox, wie es klingt; damit Phänomene wahrgenommen werden können, brauchen sie einen leeren oder vielleicht besser einen absichtslosen Raum.

Ein diagnostischer Blick, ein allzu schnelles Wissen, worum es geht, was es bedeutet und was zu tun ist, gezielte Beobachtung und Ähnliches verhindern, dass Phänomene wirksam werden können.

So ist der wichtigste Beitrag eines phänomenologisch orientierten Pädagogen nicht seine Fähigkeit, Phänomene zu erkennen, sondern seine Wahrnehmungshaltung, die hilft, den Raum mit zu kreieren, in dem diejenigen, um die es geht, ihren Phänomenen begegnen können. Dazu braucht es Schulung und Übung in einer Art des „Schauens“, die anders ist – die nicht trennt, sondern öffnet und verbindet mit den unendlichen sichtbaren und unsichtbaren Manifestationen des Lebens. Dieses Schauen oder diese Haltung, der man auch noch Qualitäten wie Durchlässigkeit, liebevolle Zeugenschaft oder freie Achtsamkeit zuschreiben könnte, erinnern eher an spirituelle „Skills“ als an pädagogische. Und so unpassend es auch scheinen mag: je länger, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass gewisse methodische und fachliche Fertigkeiten von Schlüsselqualifikationen spiritueller Natur abhängig sind, die nicht einfach vom Himmel fallen, sondern die man sich durch Zuwendung, Übung und Praxis erwerben kann.

Neben der beschriebenen Wahrnehmungsart spielen auch die Wahl des Raumes, die gesamte Raumdidaktik, die Rahmengestaltung des Lernsettings sowie die sprachliche Installation eine bedeutsame Rolle. Wer alles plant, alles weiß, alles erklärt, der lässt keinen Platz für Phänomene – wozu sollten sie denn auch noch kommen?

Eine allgemeingültige Gebrauchsanweisung für den Umgang mit Phänomenen gibt es nicht. Zu vielfältig, zu einmalig jede Situation, jeder Mensch. Als Leitlinien können aber gelten:

Alles einrichten, was nötig ist, dann aber gelassen auf den günstigen Moment warten, im Zweifelsfall selbst das scheinbar Auffälligste vorbeiziehen lassen, sich nicht weiter wundern, wenn alle Spatzen es schon von den Bäumen pfeifen, aber der Betroffene noch immer nichts ahnt, Interpretationen unterlassen und auf den Herzschlag des „Protagonisten“ lauschen.

Da uns die Phänomene oft auf spielerische, neckische Weise das Staunen wieder lehren, ist es hilfreich, mit ihnen auch so umzugehen. Spielerisches Staunen ist ihnen zuträglicher als allzu ernst gemeintes Erkennen. Freies Kombinieren und Wiederloslassen ist hilfreicher und lebensnäher als übereifrige Verknüpfung.

Als Anregung zum Weiterforschen möchte ich anstelle einer abschließenden Aussage lieber zwei interessante Fragen in den Raum stellen:

Welche Kraft dort draußen oder hier drinnen ist Bringerin der Phänomene?

Und wieso wählt solch eine kreative Kraft nicht einen direkteren Weg? Wozu die Verschlüsselungen? Wozu die Umwege?

Literatur

Sheldrake, McKenna, Abraham (2004): Denken am Rande des Undenkbaren. München (Piper)

Jung, C.G. (2001): Synchronizität, Akausalität und Okkultismus. München (dtv)

Astrid Habiba Kreszmeier

Geboren in der Steiermark, Österreich (1964), Buchhändlerin, Diplom Heil- und Sonderpädagogik, Diplom Erwachsenenbildung, Anerkennung als Systemische Psychotherapeutin und Supervisorin, seit 1994 Initiandin in Orixá-Traditionen und Naturkosmologien, Zusatzqualifikationen in Aufstellungsarbeit und körperorientierter Psychotherapie, Gründung und Leitung der Terra Sagrada (2006), seit 1994 Mitarbeit in der Wildnisschule, seit 2002 Mitbegründung und Leitung der Nachfolgeinstitution planoalto, Lehrtrainerin und Begleiterin in allen planoalto-Weiterbildungen, Autorin und Herausgeberin von sieben Büchern und zahlreichen Artikeln.

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