Читать книгу Systemische Erlebnispädagogik - Группа авторов - Страница 11

Оглавление

Posteingang (1): Stuttgarter Betrachtungen

Andreas Bühler, Peter Thomas, Karin Wabersich

20.12. I Betreff: Was ich schon immer mal fragen wollte

Liebe Karin, lieber Andi, vor gut drei Jahren habe ich meine Ausbildung in Kreativ-ritueller Prozessgestaltung abgeschlossen. Ich erinnere mich noch immer gern an diese zwei außergewöhnlichen Jahre. Sie haben bei mir eine dauerhafte Wirkung hinterlassen in der Art und Weise, wie ich heute arbeite. Besonders in Erinnerung sind mir die emotional und spirituell berührenden Momente, wie zum Beispiel meine Ahnengalerie in Griechenland. Außerdem habe ich ein neues Verhältnis zu meinem Körper und zur Natur gewonnen. Als „Kopfmensch“ ist mir das Lernen über den Körper näher gekommen.

Bei meinen ersten Rückblicken sind mir natürlich einzelne Erlebnisse eingefallen, aber die sind nicht immer so leicht zu erzählen. Da bin ich auf eine interessante Einteilung gestoßen: Die Wirkung eines Lernprozesses lässt sich gut erklären, wenn zwischen beruflicher, fachlicher und persönlicher Rolle unterschieden wird. Die berufliche Rolle bezieht sich auf die berufliche Tätigkeit. Die fachliche Rolle meint die Ausbildung, die man im Studium oder in der Lehre bekommen hat und die persönliche Rolle ist das Private. Ist euch zum Beispiel aufgefallen, dass wir alle drei während unserer Fortbildung die berufliche Rolle verändert haben oder dass bei uns in der Institution mittlerweile aus fachlicher Sicht viel mehr systemisch gearbeitet wird?

Für mich selbst würde ich sagen, dass es die persönlichen und fachlichen Aspekte sind, die das größte Gewicht hatten in meinem Lernprozess. Im Zusammenspiel zwischen Körper und Kopf hat sich Entscheidendes verändert. Ich vermute, es sind die Wahrnehmung und die Philosophie, die sich heute deutlich von der Zeit vor der Ausbildung unterscheiden. Wenn ich früher vor allem auf den Kopf gehört habe, dann folge ich heute auch meinen Körperwahrnehmungen. Brauchte früher alles eine Erklärung, finde ich es heute reizvoll, manches offenzulassen.

Ihr beide habt die Ausbildung nach mir durchlaufen und seid nun auch schon eine Weile damit fertig. Welche Wirkung haben die zwei Jahre bei Euch hinterlassen?

Ich selber bin ja immer gut zu begeistern für grundsätzliche Themen wie die Philosophie, ebenso interessieren würde mich die praktische Ebene, zum Beispiel Fragen der Wahrnehmung und Handlungsorientierung. Ein lieber Gruß aus Sindelfingen. Peter PS: Wie geht es Dir in der Schwangerschaft, Karin?

30.12. I Betreff: Leicht und schwer liegen dicht beieinander

Lieber Peter, lieber Andi, die letzten Tage vor der Geburt meines ersten Kindes sind doch etwas schwerfällig, aber zugleich auch aufregend. Es ist so eine Art „Zwischenzeit“, in der ich mich immer wieder frage, ob ich denn schon bereit bin und was es überhaupt bedeutet, bereit zu sein. Ich fühle mich extrem schwanger und irgendwie gibt es kein Zurück mehr. Ich freue mich auf die Geburt, habe aber auch großen Respekt davor. Zudem kommt die Ahnung, dass gleichzeitig ein neues, noch völlig unbekanntes Leben für mich beginnt. Das finde ich schon alles ganz schön spannend!

Das erinnert mich an die von Campbell beschriebene „Heldenreise“ 1. Sie bezieht sich auf den immer gleich stattfindenden Zyklus bei Entwicklungsschritten. An einer Stelle in diesem Zyklus steht der Protagonist vor der großen Herausforderung, die Schwelle ins Unbekannte zu übertreten und sich ganz auf das einzulassen, was ihn dort erwartet. Mit diesem Bild der Heldenreise haben wir viel gearbeitet während der Ausbildung, so dass mir die einzelnen Schritte sehr vertraut geworden sind und sie mich seither nicht mehr losgelassen haben. Auch in den Bereichen meines Lebens spüre ich Auswirkungen und Entwicklungen, die ich auf die Zeit des Lehrgangs zurückführe, es war für mich im eigenen Erleben und durch die Anteilnahme am Erleben der anderen eine sehr erfahrungsreiche und schöne Zeit.

Am stärksten hat mich die Auseinandersetzung mit, und die Wahrnehmung von Prozessen und den Möglichkeiten ihrer Gestaltung beeindruckt. Ich versuche heute, unvoreingenommener an Situationen heranzugehen, und schaue auf das Gelingen eines Vorhabens, also auf die Lösung. Mein Verständnis von Verantwortung hat sich durch die Auseinandersetzung mit den systemischen Grundhaltungen sehr verändert. Ich erlebe dadurch in meinen Aufgaben eine größere Leichtigkeit und mehr Vertrauen auf das Gelingen.

Ich schicke Euch beiden herzliche Grüße, wünsche Dir, Peter, einen schönen Urlaub und melde mich, sobald es Neues zu berichten gibt. Karin

10.1. I Betreff: Man kann das alles auch anders sehen

Liebe Karin, lieber Andi, während ich schreibe, ist Karin vielleicht schon Mutter geworden. Da merke ich, wie schnell immer ein paar Wochen vergehen zwischen unseren Briefen. Wenn ich Karin richtig verstanden habe, hat sich für sie vor allem ihre Wahrnehmung von Prozessen verändert – bei mir hat sich eher die Wahrnehmung von Ergebnissen oder Zuständen verändert. Damit meine ich auch die viel zitierte Ressourcenorientierung: Nicht alles, was ich früher spontan als „Hindernis“ bezeichnet hätte, würde ich heute genauso sehen. Oft ist es wirklich ein Ausgangspunkt oder Impuls für positives Wachstum, eine Ressource eben.

Ich lese gerade das Buch „Der Glücks-Faktor“ von Martin Seligman2. In diesem verdeutlicht er beeindruckend, dass wir Glück – im Sinne von gutem Leben – in der Gegenwart vor allem dann empfinden, wenn wir beim Blick in die Vergangenheit Dankbarkeit und Vergebung walten lassen und zugleich beim Blick in die Zukunft dem Optimismus viel Raum geben. Erstaunlicherweise deckt sich das mit meinen Erfahrungen. Früher habe ich eher dazu geneigt, gerade nach den Schwierigkeiten und Verletzungen zu suchen, statt nach den Dingen, aus denen ich lernen kann und die mich stärken.

Ich verschwinde am Sonntag in den Urlaub. Dort will ich viel wandern. Wie ihr Euch sicher noch erinnern könnt, habe ich mich in vergangenen Zeiten eher am Schreibtisch oder in einem Sessel auf dem Balkon vergraben, wenn ich meine Gedanken sortieren oder wandern lassen wollte. Heute bin ich selber in Bewegung und merke, wie viel besser dies funktioniert. Ein lieber Gruß. Peter

22.1. I Betreff: Haltung und Anspruch

Liebe Karin, lieber Peter, vielen Dank für Eure Briefe.

Peter, bei Deinen Ausführungen zu Seligman und zu Deiner Hinwendung zu Ressourcen im Allgemeinen ist mir sofort das Buch „Es ist nie zu spät, eine schöne Kindheit gehabt zu haben“ von Ben Furman3 in den Sinn gekommen. Dabei wird sehr schön beschrieben, wie es gelingen kann, prägende Erfahrungen aus unserer Kindheit – positive wie negative – als Ressource zu betrachten. Auch negative oder gar traumatische Erfahrungen können nach Furman wertvolle Impulse für eine gute Weiterentwicklung geben. Der Titel sagt eigentlich schon alles – ich habe das Buch nahezu verschlungen.

Ich will heute versuchen, auf einen Zusammenhang einzugehen, der mich momentan am meisten beschäftigt. Dabei geht es um die Haltung, mit der wir anderen Menschen (nicht nur unseren Kunden bei der Arbeit) gegenübertreten. Während des Lehrgangs war ich immer wieder sehr beeindruckt davon, wie wertfrei und offen unsere Trainer bei Übungen und Gesprächen mit den Gruppenteilnehmern umgegangen sind. Bei mir selbst habe ich hingegen öfters entdeckt, wie schnell ich mich in meiner Rolle als Anleiter oder Gesprächspartner hinreißen lasse, über Zusammenhänge die Folie meines persönlichen Rasters zu legen. Damit nehme ich eine Bewertung von Aussagen oder Erfahrungen meines Gegenübers vor und gleichzeitig positioniere ich mich. Das kann hilfreich sein. Ich laufe dabei aber auch Gefahr, den Anspruch auf eine abstinente Leitung aufzugeben und damit mir und meinem Gegenüber Scheuklappen aufzusetzen, die den Blick auf gute Lösungsschritte erheblich einschränken können.

Solche Bewertungen stehen zudem in engem Zusammenhang mit einer Anspruchshaltung an mich selbst und an meine Umwelt. Es scheint mir das Wesen von Ansprüchen und Forderungen zu sein, dass ihnen nicht nachgekommen werden kann, zumindest dann nicht, wenn sie das Verhalten von Menschen oder gar ihre Biografien betreffen. Damit sind Unzufriedenheiten vorprogrammiert, die einen wie auch immer gearteten Prozess ins Stocken bringen und viele Lösungsansätze im Keim ersticken.

Was ich während meiner Krpg-Zeit in diesem Zusammenhang gelernt habe, ist zunächst, mein eigenes Wertesystem als eine riesige Ressource zu betrachten, die ich gewinnend nutzen kann und soll. Neu ist auch die Erkenntnis, dass eine solche Anspruchshaltung nicht zwangsläufig an ein funktionierendes Wertesystem angeschlossen sein muss. Um in diesem Sinne offen und vor allem frei mit meiner Umwelt umzugehen, muss ich jedoch selbst dazu in der Lage sein, ein stimmiges Verhältnis zwischen Anspruch und Leistung zu leben und hinsichtlich meiner Bewertungen gnädig mit meiner Umwelt und mir selbst umzugehen.

Ich betrachte es momentan als große Herausforderung, die Gestaltung meines Alltags, meine Handlungen und meine Bedürfnisse durch diese Brille zu betrachten. Ein äußerst spannendes Unterfangen, das mir bereits viele überraschende Einsichten beschert hat!

Lieber Peter, Dir wünsche ich einen erholsamen Urlaub und vor allem, dass sich Dein Anliegen erfüllt und sich Dir neue und inspirierende Perspektiven eröffnen. Karin, Dir drücke ich ganz fest die Daumen für die bevorstehende Geburt.

Ich grüße Euch herzlich aus Gündelbach. Andi

18.2. I Betreff: 2 Imperative

Hallo Andi, hallo Karin. Karin ist seit meinem letzten Brief Mutter geworden, und ich habe meine zwei Monate Auszeit hinter mir und werde mein Leben wohl gründlich umbauen. Während dieser drei Wochen auf Gran Canaria habe ich mehrfach die in der Fortbildung erworbene Technik der Naturerfahrung für meine eigenen Fragen genutzt. Ich habe eindrückliche Momente erlebt, bei denen mir die Natur manchen Impuls für weitere Überlegungen gegeben hat. Bei einer Tour durch einen Barranco bei starkem Regen habe ich mich entschieden, meine berufliche Karriere in ihrer bisherigen Form nicht fortzusetzen. Der Weg war fast wie eine Wanderung durch Symbole.

Ich will auf Andis Thema der Werte und des Be- oder Verurteilens anderer Menschen eingehen. Dazu habe ich im Urlaub ein paar spannende Zeilen gelesen: Aristid von Schlippe beschreibt vier ethische Grundpositionen systemischer Therapie:

1. Denke und handle ökologisch valide.

Oder: Es gibt immer einen größeren Kontext.

2. Achte auf die Definitionen und Bewertungen, die du vornimmst.

Oder: Es könnte auch alles ganz anders sein.

3. Besinne dich auf deine persönliche Verantwortung.

Oder: Es gibt kein Richtig und Falsch, aber du bist Teil des Kontextes und alles, was du tust, hat Konsequenzen!

4. Achte darauf, in respektvoller Weise Unterschiede zu schaffen.

Oder: Füge dem Bild des / der Klienten etwas Neues hinzu. 4

Das trifft doch ganz gut, was du formuliert hast, wie es besser sein könnte, wenn man nicht immer aus dem eigenen Wertesystem urteilen will, oder? Und noch kürzer schreibt das Heinz von Foerster (Ihr merkt, ich hatte mal wieder viel Zeit zum Lesen.):

„Der ästhetische Imperativ: Willst du erkennen, lerne zu handeln.

Der ethische Imperativ: Handle stets so, dass weitere Möglichkeiten entstehen.“ 5

Das gefällt mir auch sehr gut als Grundhaltung für systemisches Arbeiten. Vor allem, weil es meiner eigenen Spiritualität oder meinem Wertesystem nicht im Weg steht. Es mahnt in der Arbeit mit Menschen eben lediglich dazu, ihnen nicht das eigene System überzustülpen. Ich grüße Euch beide herzlich. Peter

02.3. I Betreff: Willkommen im neuen Leben

Lieber Andi, lieber Peter, hallo, hier bin ich wieder. Seit dem letzten Brief sind einige Wochen vergangen und mein Leben hat sich komplett umgekrempelt. Ich bin Mutter eines wunderbaren Kindes geworden, mein bisheriger Tag- und Nachtrhythmus ist einem „Aha! … das geht 24 Stunden und alle 2 – 3 Stunden machen wir das volle Programm“ gewichen. Ich trainiere meine Arme rund um die Uhr mit einem 3,5-Kilo-Paket und ich träume mit offenen Augen davon zu schlafen, einfach mal ein paar Stündchen zu schlafen. Besonders unglaublich an meinem momentanen Zustand finde ich die Vorstellung, dass Kinder zu bekommen und eine Familie zu sein, ja auch nicht direkt etwas Außergewöhnliches ist. Jeden Tag erblicken auf der ganzen Welt neue Menschenkinder das Erdenlicht und machen neue Eltern glücklich, stolz und müde. Es muss unzählbar viele sehr, sehr müde Menschen auf der Welt geben! Hoffentlich sind sie auch alle so glücklich wie ich es bin!

In den letzten Briefen habt Ihr über Ressourcenorientierung, Glück und wertfreie Haltung geschrieben. Das sind auch für mich wichtige Stichworte bezogen auf die Aufgabe, Menschen in Prozessen zu begleiten, oder bezogen auf eigene Entwicklungsprozesse. Sie fließen in meine Wahrnehmung mit ein.

Zum Thema Prozessgestaltung sind mir noch ein paar Veränderungen in meiner Vorgehensweise aufgefallen. Zum einen geht es dabei um Strukturelemente von Prozessen, die ich heute anders verstehe und anwende. Beispielsweise bei der Wahl des Settings habe ich die eigenen Möglichkeiten eines (Natur-) Raumes und die Platzgestaltung stärker im Blick. Auch bei der Zeitplanung habe ich erst durch die Krpg ein wirkliches Verständnis von „weniger ist mehr“ entwickelt. Themen und Handlungen brauchen Zeit zum Wirken.

Andererseits sind es weitere Ebenen: zum Beispiel beziehe ich mein Bauchgefühl oder spirituelles Erleben und Deuten jetzt viel bewusster in meine Wahrnehmung ein. Dadurch ergeben sich wesentlich mehr Handlungsmöglichkeiten.

Ganz besonders bemerkenswert in diesem Zusammenhang finde ich übrigens die Frage nach der Verantwortung vom Gelingen oder Misslingen von Prozessen. Ausgehend von der systemischen Sichtweise, leisten alle am System Beteiligten ihren Beitrag für das Gelingen einer Sache. Sie tun dies bewusst oder unbewusst. Es gibt für die Leitung also höchstens die Möglichkeit, ein Klima zu gestalten, in dem sich alle gern für eine bestimmte Sache einsetzen. Ob das aber letztlich gelingt oder wie das Ergebnis genau aussieht, liegt nicht allein in ihrer Hand. Das finde ich super und erlebe es darüber hinaus auch als große Entlastung.

So Ihr beiden, ich werde nun von meinem hungrigen Sohn an die Milchbar gerufen!

Bis bald, seid lieb von mir gegrüßt. Karin

18.3. I Betreff: Perspektivenwechsel

Liebe Karin, lieber Peter,

Mit einem Schmunzeln habe ich Deine Zitate Aristid von Schlippes gelesen, Peter. Die treffen natürlich genau das, was ich gemeint habe. Ernüchternd und erhebend zugleich. Von Schlippe formuliert hier kurz und bündig eine sehr gute Zusammenfassung von dem, was ich mühevoll formuliert hatte. Das ist ernüchternd. Erhebend ist aber, dass andere meine Erfahrung teilen und vergleichbare Schlüsse daraus ziehen.

Ich stelle ebenso wie Ihr beide fest, dass sich meine Wahrnehmung in den vergangenen Jahren deutlich verändert hat. Das wirkt sich bei mir vor allem darauf aus, wie ich Ereignisse und Eindrücke deute und wie ich sie in mein Welt- und Menschenbild einordne.

Ich bin eher in der Lage, das, was mir begegnet, als Ressource zu sehen und mich von der Frage leiten zu lassen, welche Hinweise ich darin für mein Handeln finde. Eine neue Deutung, die sich an Wachstum und Weiterentwicklung orientiert.

Diese Veränderung ist etwa so, als würde ich einen Schritt zurücktreten, um die Dinge mit etwas mehr Abstand zu betrachten. Dieser Abstand weitet nicht nur den Blick für vorhandene Ressourcen, sondern schafft gleichzeitig so etwas wie einen Sicherheitsabstand. Emotional betrachtet, nehme ich mir viele Dinge nicht mehr so zu Herzen und systemisch betrachtet bedeutet es, dass ich so eher in der Lage bin, einzelne Systeme neutraler wahrzunehmen und aktiv und reflektiert zu agieren, anstatt mich passiv darin verstricken zu lassen. Die Energien bleiben so dort, wo sie hingehören. Ich glaube, durch ein unbedachtes „Sich-in-Zusammenhänge-verstricken(-lassen)“ raube ich einem System Energie, die in ihm selbst benötigt wird.

Genau wie Du, Karin, fühle ich mich bezüglich der Frage nach der Verantwortung dadurch freier. Übertragen auf Situationen, in denen ich Verantwortung habe, beispielsweise in Leitungsfunktionen, heißt das auch für mich, dass ich nicht allein für den Verlauf von Prozessen verantwortlich bin, sondern dass es auf das Mittun aller am System Beteiligten ankommt.

Erstaunlicherweise entdecke ich immer mehr einen Zusammenhang zwischen dem, was ich Systemen zutraue, und dem, was sie zu leisten imstande sind. Je mehr ich auf diese Leistungsfähigkeit und vor allem darauf vertraue, dass alle Teile ihren Beitrag leisten, desto erfolgreicher verlaufen Prozesse, die ich initiiere und desto zufriedener bin ich. Offensichtlich hat allein meine innere Haltung einen wesentlichen Einfluss auf die Dynamik in Gruppen und Prozessen.

Zum Thema Veränderung will ich noch anmerken, dass ich interessanterweise auch Monate nach dem Ende des Lehrgangs noch immer das Gefühl habe, mich in einem Veränderungsprozess zu befinden. Ich bin zwar nicht sicher, ob meine Umwelt das genauso wahrnimmt, aber es fühlt sich an wie Unterwegssein, wie Wachstum mit viel Spannung und Vorfreude. Für mich macht dieses Unterwegssein einen großen Teil Menschsein aus.

So Ihr beiden, das waren meine Gedanken für heute (zumindest zu diesem Thema). Ich werde mich jetzt meinem Haushalt widmen (auch beim Bügeln kann man unterwegs sein) und grüße Euch ganz herzlich. Bis bald. Andi

30.3. I Betreff: Bewegung

Lieber Andi, lieber Peter,

Beim Weiterdenken am Thema Wahrnehmung bin ich auf das Stichwort Handlungsorientierung gestoßen. Den Auslöser gab Deine Beschreibung, Andi, dass Du die Dinge inzwischen mit einem gewissen Abstand zu betrachten in der Lage bist. Mir geht es auch so, dass ich oft einen Schritt zurücktreten und dadurch einen breiteren Blick auf die Geschehnisse werfen kann. Wenn wir es dabei belassen würden, wäre das aber zu wenig. An dieser Stelle muss etwas in Bewegung kommen. Und die beste Möglichkeit, in Bewegung zu kommen, ist handeln.

Nach der Betrachtung einer Situation gehen meine Gedanken schneller als früher in Richtung des nächsten Schrittes. Wie kann es weitergehen? Wie kommt Bewegung in festgefahrene, schwere und komplexe Situationen? Immer wieder mache ich die wohltuende Erfahrung, dass allein der Beginn des Handelns dabei das lösende Moment sein kann. Manchmal hilft es schon, aufzustehen, den Ort zu wechseln und ein paar Schritte zu laufen, damit sich neue Ideen einfinden können. Oder um ein ganz konkretes Mutter-Kind-Beispiel zu nennen: Wenn mein Sohn schreit und tobt und ich ihn beruhigen will, dann gehe ich mit ihm durch die Wohnung. In dieser Situation sitzen zu bleiben würde mich und wahrscheinlich auch ihn in den Wahnsinn treiben.

In meiner beruflichen Rolle verstehe ich meine Aufgabe darin, anderen neue Bewegung zu ermöglichen. Das geschieht dann mit den Möglichkeiten, die sich dafür eignen. Manchmal ist das körperliche Bewegung, aber es ist ebenso das Repertoire der sprachlichen Begleitung, also Fragen entsprechend zu stellen, um neue Perspektiven zu ermöglichen. Handeln beginnt auch im Kopf!

Wenn ich es genau überlege, hat die Krpg meine Geduld, in schwierigen Situationen endlos auszuharren sehr verringert. Darüber bin ich richtig froh. Im Grunde bin ich schon immer eine sehr lebensfrohe Person gewesen und trotzdem ist mir sehr viel klarer geworden, wie destruktiv es sein kann, ungute Situationen auszuhalten. Manchmal habe ich das Gefühl, es treibt mich richtig in die Bewegung, weil ich weiß, dass es nicht so sehr darauf ankommt, ob der nächste Schritt die Komplettlösung bringt, sondern dass zunächst einmal Bewegung ins Gesamte kommt.

Ich schicke Euch ganz herzliche Grüße. Karin

09.4. I Betreff: Ich vermisse das Handeln und ein Hauch Philosophie

Liebe Karin, lieber Andi, heute schreibe ich Euch aus dem ICE zwischen Heidelberg und Stuttgart. Ich befinde mich auf der Heimfahrt von meiner Ausbildung als „Systemischer Berater“. Diese ist für mich eine gelungene Vertiefung zu dem, was ich im Krpg-Lehrgang bereits gelernt habe, zugleich aber auch eine Art Trockenversion davon, weil es an Handlungsorientierung fehlt.

Wir haben heute drei Fälle aus unterschiedlichen familiären Milieus bearbeitet. Ein Fall wurde im Wesentlichen besprochen, zum zweiten gab es ein Rollenspiel und beim dritten Fall eine Aufstellung. Es wird Euch wenig verwundern: Für mich – und wohl für den größten Teil der Gruppe – war die Aufstellung das eindrücklichste Element des Tages. Hier hat sich wesentlich mehr verdichtet und geklärt als bei den anderen Methoden der Supervision.

Ganz oft genieße ich im Rahmen dieses Lernens, die Theorie weiter zu vertiefen. Wenn es dann aber an die Umsetzung geht, dann wünsche ich mir mehr Handeln. Auch wir arbeiten mit Aufstellungen, Bewegungsübungen, Rollenspielen und vielem mehr. Trotzdem fehlt es mir an kreativen und rituellen Elementen und vor allem an der Naturerfahrung, die ich so fruchtbar erlebt habe. Erst jetzt wird mir so richtig klar, wie wichtig diese Methoden für meinen Lernprozess waren.

Könnt Ihr Euch noch an das Kapitel aus den „Wagnissen des Lernens“ erinnern, in dem Astrid Habiba Kreszmeier und Hans-Peter Hufenus schreiben: „Schöpferisches Chaos und Wahrnehmung, beseelte Natur und Beziehung, tragender Lebensstrom und Verantwortung – das sind die zentralen Stichworte am ‚gewagten‘ Grund der Kreativ-rituellen Prozessgestaltung.“ 6

Für mich hat sich dieser gewagte Grund immer schön und reizvoll angehört, auch wenn ich ihn in manchen Punkten noch gar nicht vollständig verstehe oder auch nicht mit denselben Worten beschreiben würde.

Am Beispiel der beseelten Natur kann ich das gut verdeutlichen: Heute Morgen, es ist Sonntag, habe ich den Psalm 148 entdeckt, in dem davon gesungen wird, dass Engel, Sonne, Mond, Himmel, Wasser, Meeresdrachen, Feuer und Hagel, Schnee, Nebel, Sturmwind, Berge und Hügel, Fruchtbäume, Zedern, wilde Tiere und alles Vieh und der Mensch den Schöpfer loben sollen. Das ist doch auch eine wunderschöne Beschreibung für eine Natur, in der in jedem Teil etwas Göttliches steckt. Sicher ganz anders als die animistische Annäherung im oben genannten Buch, aber für mich mit derselben Konsequenz für den Umgang mit und das Lernen in der Natur.

Am meisten beeindruckt und getragen hat mich der Gedanke, dass „alle Menschen einen Platz haben und einen Weg beschreiten können, der ihren Möglichkeiten entspricht. Das Leben lädt uns ein, mitzufahren, einzusteigen in den großen Fluss, mitzuschwimmen.“ 7 Für mich ist das der Kern der Philosophie einer Kreativ-rituellen Prozessgestaltung. Und noch besser als in dem Buch von Seligmann, von dem ich euch geschrieben habe, steht das für mich in anderen Worten in meinem philosophischen Lieblingsbuch „Schönes Leben?“ von Wilhelm Schmid. Aus dem Buch mag ich Euch zum Schluss noch eine Passage zitieren, weil sie so trefflich formuliert, dass es im Leben nicht um dauerndes Glücklichsein geht, sondern um viel mehr:

„Lebenskunst kann (…) heißen, sich ein schönes Leben zu machen, im Sinne von: Das Leben bejahenswerter zu machen, und hierzu eine Arbeit an sich selbst, am eigenen Leben, am Leben mit Anderen und an den Verhältnissen, die dieses Leben bedingen, zu leisten. Die Selbstmächtigkeit, die kunstvolle Gestaltung der Existenz, der Akt der Wahl, die Sensibilität und Urteilskraft, die Realisierung von Schönheit: All diese Momente kommen darin überein, zu einem erfüllten Leben beizutragen, das bejahenswert ist. Dieses Leben besteht nicht nur aus Glücksmomenten, die Widersprüche sind aus ihm nicht ausgeschlossen, sondern bestenfalls zu einer spannungsvollen Harmonie zusammengefügt; es handelt sich nicht unbedingt um das, was man ein leichtes Leben nennt, eher um eines, das voller Schwierigkeiten ist, die zu bewältigen, ja sogar zu suchen sind, voller Widerstände, Komplikationen, Entbehrungen, Konflikte, die ausgefochten oder ausgehalten werden – all das, was gemeinhin nicht zum guten Leben und zum Glücklichsein zählt. Erst in der Bedrängnis leuchtet das Schöne.“ 8

Und damit schließe ich auch meinen kleinen philosophischen Ausflug und mache jetzt einen konkreten Ausflug hinaus in einen wunderbar sonnigen Tag.

Ein lieber Gruß. Peter

Literatur

Campbell, Joseph (1999): Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt am Main (Insel TB)

Seligman, Martin E. P. (2005): Der Glücksfaktor. Warum Optimisten länger leben. Bergisch Gladbach (Bastei-Lübbe)

Furman, Ben (1999): Es ist nie zu spät, eine schöne Kindheit gehabt zu haben. Basel (Borgmann)

Schlippe, A. v. (1991): Systemische Sichtweise und psychotherapeutische Ethik. In: Praxis der Kinderpsychologie und -psychatrie 40 (10)

Foerster, H. v. (1981): Das Konstruieren einer Wirklichkeit. In: Watzlawick, P. (Hrsg.) (1981): Die erfundene Wirklichkeit. München (Piper)

Kreszmeier, Hufenus (2000): Wagnisse des Lernens. Aus der Praxis der Kreativ-rituellen Prozessgestaltung. Bern (Haupt)

Schmid, Wilhelm (2000): Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst. Frankfurt am Main (Suhrkamp)

Fischer, Klawe, Thiesen (1985): (Er) leben statt reden. Weinheim (Juventa)

Andreas Bühler

Jahrgang 1969, lebt in Vaihingen / Enz (Deutschland)

Aus- und Weiterbildungen: Diplom-Sozialpädagoge (FH), Krpg

Derzeitige Tätigkeit: Projektleiter bei einem Bildungsprojekt für benachteiligte Jugendliche, Bildungsreferent bei einem kirchlichen Jugendverband

E-Mail: andi-buehler@t-online.de

Peter Thomas

Jahrgang 1969, lebt in Sindelfinden (Deutschland)

Aus- und Weiterbildungen: Diplompädagoge, Krpg, Systemischer Berater

Derzeitige Tätigkeit: Leiter des Bischöflichen Jugendamtes und Diözesanleiter des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend in der Diözese Rottenburg-Stuttgart

E-Mail: peter.thomas@t-online.de

Karin Wabersich

Jahrgang 1974, lebt in Filderstadt (Deutschland)

Aus- und Weiterbildungen: Diplom-Sozialpädagogin (BA), Krpg, Führen und Leiten Derzeitige Tätigkeit: Bereichsleiterin im Bischöflichen Jugendamt der Diözese Rottenburg-Stuttgart

E-Mail: karin.wabersich@gmx.de

1 Vgl. Campbell, Joseph (1999): Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt am Main

2 Seligman, Martin E.P. (2005): Der Glücksfaktor. Warum Optimisten länger leben, Bergisch Gladbach

3 Vgl. Furman, Ben (1999): Es ist nie zu spät, eine schöne Kindheit gehabt zu haben, Basel

4 Schlippe, Astrid von (1991): Systemische Sichtweise und psychotherapeutische Ethik. In: Praxis der Kinderpsychologie und -psychatrie 40 (10), S. 371

5 Foerster, Heinz von (1981): Das Konstruieren einer Wirklichkeit. In: Watzlawick, P. (Hrsg.) (1981): Die erfundene Wirklichkeit, S. 60

6 Kreszmeier, Astrid H., Hufenus, Hans-Peter (2000): Wagnisse des Lernens. Aus der Praxis der Kreativ-rituellen Prozessgestaltung, Bern, Stuttgart, Wien, S. 37

7 a. a. O., S. 36

8 Schmid, Wilhelm (2000): Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst, Frankfurt am Main, S. 179f.

Systemische Erlebnispädagogik

Подняться наверх