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Vom Ende der Unschuld

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Der Roman „Der Fall“, für den Albert Camus 1957 den Nobelpreis erhalten hat, besticht durch seine unaufdringliche Ästhetik, seine unmittelbare Aufrichtigkeit und – nicht zuletzt – seine überzeugende Analyse des Lebensgefühls und der moralischen Leitbilder der modernen Welt. Zwei Aspekte seien an dieser Stelle eigens festgehalten:

Da ist zum einen die Auffassung, dass keine Gesellschaft ohne eine Absprache über das, was gilt und was nicht gilt, auf Dauer auskommen wird – ohne Spielregel, ohne Weltanschauung und ohne jegliches Ethos. Also auch nicht ohne Auswirkungen von Norm und Moral: von Verfehlung, Urteil und Veränderung. Mögen christlich-kirchliche Vorstellungen und Sprachspiele wie Sünde und Gnade, Schuld und Vergebung, Buße und Umkehr heute weithin verbraucht erscheinen, mit Vorsicht zu verwenden oder sogar für eine Weile aus dem Verkehr zu ziehen sein – einen Abschied von der „Schuld“ wird es trotz allem nicht geben. Eher noch kehrt sie in der Gestalt von unerbittlicher Abrechnung durch die Hintertür in die Häuser zurück:

„Keine Entschuldigung“, so der Buß-Richter, „nie und für niemanden, das ist der Grundsatz, von dem ich ausgehe. Ich lasse nichts gelten, weder die wohlmeinende Absicht noch den achtbaren Irrtum, den Fehltritt oder den mildernden Umstand. Bei mir wird nicht gesegnet und keine Absolution erteilt. Es wird ganz einfach die Rechnung präsentiert […]“. (S. 123)

Zum anderen aber tut Albert Camus auf seine Weise sehr viel dafür, dass wir – sagen wir, womöglich die Erben eines aufgeklärten Protestantismus oder eines weltoffenen Katholizismus – nicht unsere Erbschaft für ein Linsengericht an herrschende Mächte, Ideologen und selbsternannte Propheten der modernen Welt verscherbeln. Es mutet schon merkwürdig an, ausgerechnet von einem Agnostiker wie Albert Camus auf die Spur des Jesus von Nazareth gesetzt zu werden, genau genommen eine Gegenfigur zu dem Buß-Richter. So finden wir bei ihm unvergessliche Sätze, geradezu Kostbarkeiten, persönliche Bekenntnisse, voll von Weisheit, Hochachtung und Sympathie – Sätze wie diese:

„Ja, man kann auf dieser Welt Krieg führen, Liebe äffen, seinen Nächsten martern, sich in den Zeitungen groß tun oder einfach beim Stricken wider seinen Nachbarn Übles reden; aber in gewissen Fällen ist das Weitermachen, das bloße Weitermachen etwas Übermenschliches. Und er war kein Übermensch, das dürfen Sie mir glauben. Er hat seine Todesangst herausgeschrien, und darum liebe ich ihn, meinen Freund, der da starb mit der Frage auf den Lippen.“ (S. 107)

Doch sollte man seine Lektüre niemals nur auf geistige oder kulturelle Wahlverwandte, Insider oder Gleichgesinnte begrenzen – obgleich diese keineswegs geringzuschätzen sind. Oftmals entdecken wir auch außerhalb der eigenen Horizonte ganz unerwartet Äußerungen einer Literatur, einer Ästhetik und einer Kunst, von der her einem eine Fülle von Hoffnung, Licht und Trost entgegenleuchtet.

„Aber wenn man sein eigenes Leben nicht liebt“, fragt der Buß-Richter an einer Stelle, „und weiß, daß man ein anderes anfangen muß, bleibt einem ja keine Wahl, nicht wahr? Was tun, um ein anderer zu werden? Unmöglich. Dann müßte man schon niemand mehr sein, sich für irgend jemand selbst vergessen, wenigstens ein einziges Mal. Aber wer? Tadeln Sie mich nicht zu hart. Ich gleiche jenem alten Bettler, der eines Tages in einem Café meine Hand nicht loslassen wollte. ‚Ach, wissen Sie, Monsieur‘, sagte er, ‚man ist ja nicht eigentlich ein schlechter Mensch, aber man verliert das Licht‘. So ist es, wir haben das Licht verloren, die Morgenröte, die heilige Unschuld dessen, der sich selbst vergibt […]“ (S. 135f.)

In der Tat. Es gibt Ahnungen, die hängen über dem Leben wie ein böser Traum. Nicht nur dass eine Frau sich in der Mitte der Nacht in den Fluss stürzt, und du tust nichts und gehst davon. Sondern dass du das Licht verlierst und die Morgenröte und die heilige Unschuld dessen, dem vergeben wird und der (nicht weniger wichtig) sich auch selbst vergibt.

Dem Entsetzen täglich in die Fratze sehen

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