Читать книгу Dem Entsetzen täglich in die Fratze sehen - Группа авторов - Страница 13
„Und erlöse uns von dem Bösen“
ОглавлениеDie Generationen zuvor, die trotz Bombennächten und Gefangenschaft, Vertreibung und Flucht überleben konnten, mussten das Ende des Krieges 1945 geradezu wie ein Geschenk des Himmels empfinden. Richard von Weizsäcker sprach vielen aus dem Herzen, als er in seiner Rede vor dem Bundestag am 8. Mai 1985 das Ende dieser unseligen Zeit eine „Befreiung“ nannte – eine lang ersehnte Befreiung und Erlösung von so vielem Bösen. Rückblickend erschien nun alles wie ein einziger Spuk. Wäre da nicht – wie eingebrannt bis in die Knochen, die Seelen und das Gedächtnis der Menschen – dieses Meer an Leid und Trauer, Verbrechen, Wunden, Ruinen und Asche gewesen – Traumata „bis ins dritte und vierte Glied“.
Doch nun konnte – Gott sei Dank – wieder das Leben, die Freude am Leben mit all seinen Facetten einen Anfang nehmen: ein Aufatmen allenthalben, der Aufbau der Häuser, der Aufbruch in neue Welten, der Austausch an Geist, Kultur und den Dingen des Alltags und eine geradezu sinnliche Ahnung davon, was „Befreiung“, „Freiheit“ und „eine zweite Chance“ bedeuten. Es war wie der Gang über die Schwelle in eine neue Zeit.
Eine andere, von Grund auf andere Mentalität, ein „gereiftes Bewusstsein“, begann im Lauf der Jahre nunmehr Platz zu greifen: Selbstbestimmung, Weltoffenheit, Dialog, Pluralität, Demokratisierung, der Blick nach vorne, Zukunft. In den verflossenen Jahrzehnten waren wie selbstverständlich und in wachsendem Maße Bilder vom Menschen, von der Gesellschaft, von den demokratischen Strukturen des Staates und den Spielregeln der globalen Welt entstanden. Allenthalben festigte sich – nach dem Fall der Mauer zumal und dem Ende des Kalten Krieges – der Eindruck, als lebte man jetzt tatsächlich in der besten aller Welten.