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Die Schrift an der Wand

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Aber so etwas geschieht nicht über Nacht. So etwas bereitet sich von langer Hand vor. Naturschützer und Schriftsteller, Philosophen und Filmemacher haben seit Langem schon die Menetekel an der Wand gesehen und vor den fatalen Wandlungen des Menschen und der Menschheit gewarnt. Sie wurden freilich kaum gehört oder als Apokalyptiker und Schwarzmaler abgetan: Ingmar Bergman zum Beispiel oder Andrej Tarkowskij, Theo Angelopoulos oder Sebastião Salgado.

„Das Kind starb“, heißt es in einem Kommentar zu Sebastião Salgado, bevor es getauft werden konnte. Es liegt in einem Meer aus Blumen. Und in einem kleinen weißen Sarg. Die Augen sind noch offen. Kinder, die nicht getauft werden, hätten kein Anrecht auf das Paradies, glauben die Brasilianer. Doch die, die mit offenen Augen sterben, werden ihren Weg dorthin finden.

Sebastião Salgado hat das tote Kind Anfang der 80er-Jahre in Brasilien fotografiert. Salgado hat viele weitere tote Kinder aufgenommen, auch tote Frauen und tote Männer, überall auf der Welt. Die Mehrheit von ihnen starb nicht natürlich. Sie wurden abgeschlachtet.

Natürlich, ‚abschlachten‘ ist ein hartes Wort, aber es passt zu dem Bild, das Salgado, einer der renommiertesten Fotografen der Welt, von den Menschen hat. ‚Wir sind bösartige, schreckliche Tiere, wir Menschen […] Überall sind wir extrem gewalttätig […]‘ sagt er.

Seit mehr als 40 Jahren hält der Brasilianer mit seiner Kamera fest, was niemand sehen will oder kann, jeder aber sehen sollte: die Opfer des Völkermords in Ruanda, verdreckte Feuerwehrmänner, die gegen brennende Ölfelder in Kuweit kämpfen, Männer, die sich in den Schlund einer brasilianischen Mine stürzen, um nach Gold zu suchen. Hunderttausende Flüchtlinge, die mit zerschlissener Kleidung durch die Wüsten irren und die vielen Hungertoten der Sahelzone …“2

Mag sein, dass die Schilderung solcher Szenen im ersten Augenblick etwas scharf, vielleicht sogar zu scharf erscheint, sozusagen mit den Augen eines ambitionierten Fotografen und Filmemachers gesehen. Aber selbst Schilderungen aus der Feder von hochkarätigen Journalisten und Redakteuren unseres Landes klingen nicht weniger dramatisch.

„Woher“, fragte zum Beispiel vor einiger Zeit schon Jasper von Altenbockum in einer großen Tageszeitung, „woher kommen dieser Hass, die Verachtung, die Verrohung? Es vergeht kaum eine Woche, in der sich die deutsche Gesellschaft nicht im Spiegel betrachten müsste – sie könnte sich kaum wiedererkennen […] Das alles habe es in der einen oder anderen Form schon immer gegeben, wird es heißen. Die Bundesrepublik hat schließlich schon ganz andere Wutausbrüche und Gewaltexzesse erlebt. Aber es fühlt sich so an, als laufe etwas grundverkehrt. Wie ein schleichendes Gift sickern eine Feindseligkeit, ein Bürgerkrieg der Worte und manchmal auch schon der Taten in unser Leben, die sich gegen alles richtet, was unseren Staat und unsere Gesellschaft ausmacht […] Obwohl der Wohlstand noch nie so groß war, sind die Zeiten günstig für irrationales Treiben: Die Angst geht wieder um in Deutschland – vor dem Euro, vor dem Krieg, vor der Technik, vor der großen weiten Welt, vor der Zukunft […]“3

Und der Hass und die Verachtung, die Verrohung und der Abscheu sind seit dem Aufkommen von Facebook und Twitter keineswegs weniger geworden.

Dem Entsetzen täglich in die Fratze sehen

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