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Reiner Strunk

Zwang zur Entscheidung. Beobachtungen zum Roman „Die Pest“11 von Albert Camus

Camus malt in seinem Roman ein Szenario des Bösen, in grellen Farben und mit Lust am realistischen Detail. Aber sein Interesse gilt trotzdem nicht den Phänomenen des Bösen selber, sondern den möglichen Energien zum Widerstand dagegen.

Er schildert das Böse in der Maske einer Pestepidemie. Wie die Ratten kriecht sie unvermittelt aus Kanälen und Kellerlöchern, wirkt anfangs nur „abstoßend“, bald aber „bedrohlich“ (S. 22). Vorbereitet darauf ist niemand. Darum wird bagatellisiert, was nicht richtig eingeschätzt wurde, man torkelt in eine Katastrophe, ohne es zu merken. Das schreckliche Geschehen, das Camus lokal begrenzt nach Oran, einer Stadt an der algerischen Küste, verlegt, gewinnt gleichwohl exemplarischen Charakter und universale Gültigkeit. Die Pest ist das Böse, das Menschen treffen kann, wie der Weltkrieg sie – zeitlich nah – getroffen hat in unerbittlichem Zugriff. Keiner kann sich entziehen. Dabei schlägt die Pest völlig wahllos zu. Es ist reiner Zufall, wer ihrem Atem erliegt und wer, wenigstens vorübergehend, verschont bleibt.

Camus legt selber Spuren, die das Phänomen der Pest mit Erfahrungen des Krieges in Verbindung bringen. Heute liegt es auf der Hand, eher Erscheinungen des internationalen Terrors zu assoziieren. Das Irrationale daran, das sich jenseits aller gängigen Vorstellungen von Moral abspielt; das Unkalkulierbare und Kaltblütige, das einen lähmenden Schrecken auszulösen vermag und sich für eine Stadt, eine Region zur traumatischen Alltagskulisse verdichtet - dies alles sind Kennzeichen und Begleitumstände der Pest wie des Terrors. Sie sind erbarmungslos real und sogar trivial; aber sie kommen auch daher mit allen Schatten des Unheimlichen und Verstörenden.

Über mögliche Ursachen des Bösen stellt Camus keine Überlegungen an. Er lastet sie auch keinem menschlichen Triebhaushalt an, der irgendwo und irgendwie in heillose Turbulenzen geraten ist. Bezeichnend, dass er als „hoffnungslosestes Laster“ des Menschen seine „Unwissenheit“ nennt: „Die Seele des Mörders ist blind, und es gibt keine wirkliche Güte oder wahre Liebe ohne die größtmögliche Klarsichtigkeit“ (S. 150). Dieses Urteil wirkt unmittelbar einleuchtend, wenn man sich die Selbstmordattentäter aus religiöser Verblendung vor Augen führt, die „blind“ zu Werke gehen, weil ihre „Unwissenheit“ zum Handlungsprinzip erhoben wurde.

Man möchte daraus schließen, dass eine Bekämpfung der Pest vor allem beim Kampf gegen die „Unwissenheit“ anzusetzen hätte, mit Strategien einer möglichst umfassenden Aufklärung, die für unkontrollierte anarchische und atavistische Eruptionen keinen Raum mehr ließe. Doch Camus verfolgt diese Linie nicht weiter. Vermutlich, weil Unwissenheit der Menschen als Erklärungsgrund für die regellosen Erscheinungen des Bösen nicht ausreichen kann.

Er konzentriert sich stattdessen auf denkbare Formen des Widerstands gegen das Böse. Und da rücken nun zwei Figuren des Romans in den Mittelpunkt des Interesses: der Arzt Rieux und der Pater Paneloux. Sie bilden in gewissem Sinne reine Gegensätze, aber nicht, wie man vermuten könnte, in der Weise, dass der Arzt fürs Aktive und der Pater fürs Passive stünde, der eine für den moralisch begründeten Widerstand und der andere für ein religiös begründetes Stillehalten. Denn Paneloux steht, nach anfänglichem Zögern, genauso auf der Seite des riskanten Kampfes gegen die Pest wie der Arzt Rieux. Beide finden sich vereint im entschlossenen Widerstand gegen das Böse: „Wir arbeiten zusammen“, sagt Rieux, „aber für etwas, was uns jenseits von Gotteslästerung und Gebet vereint. Nur das ist wichtig“ (S. 248).

Wichtig also erscheint die Tat in einer Situation extremer Herausforderung zum Handeln. Doch jede Bereitschaft zur Tat bedarf der leitenden Motivation, die sie überhaupt in Gang setzt und den Handelnden nicht alsbald ermüden und aufgeben lässt. Dem sinnt Camus intensiver nach und das führt ihn zur Gegenüberstellung von Rieux und Paneloux, ohne dass er seine Sympathien einseitig verteilt.

Das Ereignis, das innerhalb des lokalen Pestdramas wie ein Kulminationspunkt wirkt, ist der qualvolle Pesttod eines Kindes. Er wird minutiös geschildert, und er erschüttert die Anwesenden, die das Kind in seinem Todeskampf begleitet haben. Was sie erlebten, bezeichnet der Dichter mit einem Begriff, den Paulus für seine Botschaft vom Gekreuzigten verwendet, dem Begriff des „Skandals“ (S. 242). Und im selben Zusammenhang hält Camus, sicher nicht von ungefähr, fest, das Kind habe „in dem zerwühlten Bett die groteske Haltung eines Gekreuzigten eingenommen.“

Im Erleben dieses unsäglichen Kindersterbens vollzieht sich eine Radikalisierung, bei Rieux ebenso wie bei Paneloux. Beide sehen sich gezwungen, nach dieser menschlichen Tragödie ihren inneren Kompass fürs Handeln neu zu justieren. Beide müssen sich entscheiden. Und beide tun das durchaus im Rahmen ihrer bisherigen Lebensorientierung und nicht etwa im Protest dagegen. Paneloux trifft seine Entscheidung religiös, Rieux hingegen radikalisiert seine Irreligiosität. Und beide treffen sich wieder im erklärten und praktisch aufgenommenen Widerstand gegen das Böse.

Für Rieux wirft der Pesttod des Kindes ein Schlaglicht auf die Beschaffenheit der Schöpfung. Er hatte vorher schon im Gespräch mit Tarrou, einem zweiten Chronisten der Ereignisse, den Glauben an einen „allmächtigen Gott“ verworfen. Gäbe es ihn, würde er „aufhören, die Menschen zu heilen und würde diese Sorge ihm überlassen.“ Wenn er damit noch eine sehr plakativ-vordergründige Auffassung von der Allmacht Gottes wiederzugeben scheint, argumentiert der Arzt gleich anschließend profunder: „[…] da die Weltordnung durch den Tod bestimmt wird, ist es für Gott vielleicht besser, dass man nicht an ihn glaubt und mit aller Kraft gegen den Tod ankämpft, ohne die Augen zu diesem Himmel zu erheben, in dem er schweigt“ (S. 146). Gott und der Tod; Gott und das Böse – es ist die Theodizeefrage, die Camus ins Spiel bringt, und für den Arzt Rieux ist diese Theodizeefrage nach allem Erlebten entschieden: gegen Gott nämlich und für einen moralischen Atheismus. Seine Lebensregel lautet jetzt: „kämpfen und nicht auf die Knie fallen“ (S. 152), wobei ihm diese beiden Möglichkeiten bloß als unvereinbare Alternative vor Augen stehen. – Nach seiner Begegnung mit dem pestkranken Kind verstärkt sich diese Position: In einer sinnwidrigen Wirklichkeit gibt es neben der schieren Verzweiflung nur den moralischen Imperativ. Er schafft das Böse nicht aus der Welt, aber er bewahrt die persönliche Integrität. Tarrou gegenüber, der sich von der Frage bewegt zeigt, wie man „ein Heiliger ohne Gott“ werden könne, vertritt Rieux die Ansicht: „Wissen Sie, ich empfinde mehr Solidarität mit den Besiegten als mit den Heiligen. Ich glaube, ich habe keinen Sinn für Heldentum und Heiligkeit. Was mich interessiert, ist, ein Mensch zu sein“. (S. 290)

Es ist auffallend, dass Camus für die Figur des Paneloux und dessen Entscheidung einen deutlich höheren Aufwand betreibt als bei dem Arzt Rieux.

Paneloux hält zwei Predigten im Lauf der Pestepisode, die eine anfangs in der von Menschen überfüllten Kathedrale, die zweite nach dem Pesttod des Kindes vor reduziertem Publikum. Religiöse Bindungen hatten sich inzwischen gelockert in der Stadt, und alter „Aberglaube“ hatte sich breit gemacht. In seiner ersten Predigt vertritt Paneloux, was man von einem Geistlichen in einer außerordentlich bedrohlichen Situation erwartet. Er redet den Menschen ins Gewissen und bestimmt die Pest als göttliches Instrument der Heimsuchung. Sie sei „Gottes Geißel“ (S. 109) und mahne zur Abkehr von allem Bösen. Das markiert sozusagen die traditionelle kirchliche Antwort auf die verheerenden Anzeichen des Bösen.

Die zweite Predigt des Paters, nach dem furchtbaren Pesttod des Kindes gehalten, zeigt ein deutlich anderes Gesicht. Der Chronist versäumt darum auch nicht zu erwähnen, „dass die Worte des Paters an Ketzerei grenzten“ (S. 254). Was er jetzt vorträgt, ist nicht herkömmlich christliche Lehre, sondern sein persönliches Bekenntnis. Die Stellungnahme eines Christen, der sich dem Grauen der Pest und dem Abgründigen des Bösen in der Welt ausgesetzt sieht. Bewusst verzichtet Paneloux auf illusionäre Ausblicke, nach denen „die Wonnen der Ewigkeit, die auf das Kind warteten, […] sein Leiden ausgleichen“ könnten (S. 254). Keine Flucht also in ein trostreiches Jenseits hinüber. Stattdessen bleibt dieser Paneloux der Erde treu, samt allem Elend, das auf ihr anzutreffen ist, „Auge in Auge mit dem Leiden eines Kindes“. Und exakt an diesem Punkt, wo der erlebte „Skandal“ des Bösen einem Mann wie Rieux seinen entschiedenen Atheismus bestätigt, erinnert Paneloux an den Christus, der selber „den Schmerz in seinen Gliedern und in seiner Seele empfunden“ habe, und bleibt in seiner persönlichen Existenz „jener Zerrissenheit getreu, deren Symbol das Kreuz ist.“

Was Camus an dieser Stelle anspricht, ist die überraschende Skizze einer Kreuzestheologie, wie sie in der theologischen Wissenschaft erst Jahre später in Angriff genommen wurde. Die laute Proklamation einer göttlichen „Allmacht“, die sich Paneloux noch in seiner ersten Predigt erlaubt hatte, ist jetzt einer leisen, von „Zerrissenheit“ geprägten Rede über Gottes Ohnmacht und Leiden gewichen. Und an diesen Gott zu glauben, sich ihm nah und verbunden zu wissen, das ist nun wirklich nicht das Selbstverständliche einer bürgerlichen Alltagsreligiosität. Es ist vielmehr das klare und zugleich paradoxe Ergebnis einer äußerst dramatischen Entscheidung. Der Entscheidung nämlich für Gott – im Angesicht des Bösen. Man müsse, so verdeutlicht Paneloux, „mitten in dieses Unannehmbare (sc. der Pest) hineinspringen, das uns dargeboten wurde, eben damit wir unsere Wahl träfen. Das Leiden der Kinder sei unser bitteres Brot, aber ohne dieses Brot würde unsere Seele an ihrem geistigen Hunger zugrunde gehen“ (S. 256) – Anklänge an den Charakter der Glaubensentscheidung bei Kierkegaard sind unverkennbar: Der Christus erwartet nicht laue und folgenlose religiöse Bewunderung, sondern den radikalen Akt der Nachfolge im Leiden. Und wer diesen Akt nicht vollzieht, hat seine Entscheidung noch gar nicht getroffen.

Rieux und Paneloux. Rieux ist Vertreter der irreligiösen Existenz, Paneloux Vertreter einer Existenz im Glauben. Rieux entscheidet sich, ohne Gott gegen das Böse zu kämpfen. Paneloux entscheidet sich, mit Gott gegen das Böse zu kämpfen. Im Roman stehen sie sich gegenüber und arbeiten doch praktisch zusammen und in dieselbe Richtung. Camus entwirft damit zwei Existenzweisen und vermeidet es, Zensuren zu verteilen. Für ihn ist offenbar maßgebend, dass Rieux und Paneloux in ihren Motivationen auseinandergehen mögen, aber in ihrem Handeln einig sind.

Dem Entsetzen täglich in die Fratze sehen

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