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Mephisto und andere. Über das Böse in der neueren Literatur

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In seinem Buch „Das Lachen der Täter“ (2015) versucht der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit die Persönlichkeit des Amokläufers Anders Breivik zu erklären. Aus letztlich unerfindlichem Grund erschoss Breivik 2011 auf der norwegischen Insel Utoya lachend innerhalb von 90 Minuten 69 Menschen. Nach der Tat ergab er sich sofort. Breivik sei, so Theweleit, ein Revenant jenes Kriegers, der als männlicher Funktionstyp über Jahrhunderte hin existierte, mit kalkuliertem Vernichtungsrausch noch Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ und die SS-Wehrmachtsberichte des Dritten Reichs durchgeisterte, nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa geächtet und verdrängt wurde, aber heute in den Dschihadisten des Islamischen Staats fortlebt. Spekulativ interessant, aber beweiskräftig ist die These nicht, ebenso wenig wie die wissenschaftlichen Gutachten, die in ihrer Uneinigkeit über Breiviks Geisteszustand nur die Unfassbarkeit des Mörders und seiner Tat dokumentieren.

Für Gestalten wie Breivik hat die Religion einst die Kategorie des moralisch Bösen gefunden, ein metaphysischer Begriff, der in den Ernüchterungen der Aufklärung schwand und doch unabweisbar blieb. Utoya, die Twin Towers, Kambodscha, Ruanda, Srebrenica, Syrien, nicht zu vergessen Auschwitz – wie könnte man sie anders bezeichnen denn als Orte des Bösen. Im Kulturdiskurs wurden sie jedenfalls zu Synonymen radikal bösen Handelns. Offenbar widersteht die Abgründigkeit und Unbegreiflichkeit des dort Geschehenen allen Verstandeskategorien und kann nur in einer voraufklärerisch-archaischen Bildvorstellung gebannt werden, als Hölle, Limbus und Sündenpfuhl, als die sieben Todsünden, als der Teufel in Schlangengestalt, als Satan, Beelzebub, Dämon oder Luzifer. Wie aber vermag sich daraus Erkenntnis ergeben – Erkenntnis dessen, was sich aller Erkenntnis zu entziehen scheint?

Ist das moralisch Böse, so legen die genannten, aus der Theologie rührenden Allegorien nahe, ein Gegenentwurf des moralisch Guten? Hier der Paradiesgarten – dort die teuflische Schlange, hier die Lichtgestalt, Gottes Lieblingsengel – dort die Rebellion gegen Gott und der Sturz in die Hölle. Die erkenntnistheoretische Spannung zwischen dem Guten und dem Bösen umriss Augustinus, als er dem Bösen die positive Qualität verwehrte, es als substanzlos bezeichnete und als bloßen Mangel des Guten bestimmte, so wie die Kälte die Abwesenheit von Wärme oder die Blindheit den Verlust an Sehkraft meint. Auf die These von der Nichtigkeit des Bösen pochte im christlichen Mittelalter auch Thomas von Aquin: „Keine Wesenheit ist in sich böse. Das Böse hat keine Wesenheit.“ Erkennbar sei das Böse also nur in Relation zum Wesenhaften, d.h. zum Gottgeschaffenen, zum Guten. Dergestalt ist in der Rede vom nichtigen Bösen das Gute gleichsam mitgedacht, oder mit Goethe: „Das, was wir ‚bös‘ nennen, ist nur die andere Seite vom Guten“. Damit gewinnt das Böse eine Ambivalenz, mit der es sich aus den archaischen Mythen der Religion zu einem bevorzugten Gegenstand der Literatur entwickelte. Sind doch ihre mehrdeutige Bildersprache und ihr Abstand zur Rationalität des Begriffs zugänglich für jenes Zwiespältige, Ungewisse und Fragwürdige, mit dem sich das unerklärlich Böse umgibt – in seiner Koexistenz zum Guten. Die Höllenglut von Dantes Inferno bemisst sich an der Strahlkraft des Paradiso, und Miltons „Paradise Lost“ überkreuzt im Schicksal von Adam und Eva die Listen des Satans mit Gottes Fürsorge – der Paradies-Verheißung am Jüngsten Tag. Goethe am Ende des 18. Jahrhunderts pointiert geradezu die Relation des Guten und des Bösen, wenn er beide zur dialektischen Fügung verknüpft. „Ich bin“, bekennt sein Teufel-Imitat Mephistopheles, „ein Teil von jener Kraft,/Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ In der Tat: das Böse, Fausts Teufelspakt, erzwingt, jedenfalls klassisch – idealistisch, das Gute, Fausts Erlösung.

Das Mephisto-Zitat aus Goethes „Faust I“ ist aufschlussreich für die innovative Bestimmung des moralisch Bösen um 1800. Wo Gott nicht mehr die beste, sondern „die beste aller möglichen Welten“ gegründet hat – ein relatives Optimum, in dem folglich auch das Böse als Übel, d.h. als Unvollkommenheit, Leiden und Sünde inkludiert ist –, da ist das Böse nicht länger höllischer Gegenentwurf zum Schöpfungs-Guten, sondern ist in ihm eingeschlossen. Mit Leibniz‘ Theodizee wird das Böse innerweltlich, wird zur dunklen Seite der von Gott geschaffenen Welt. Mephisto, der sich als Teil der Teufelskraft weiß, die in der göttlichen Kreation aufgehoben ist – das Böse im Guten –, hat zweifellos seinen Leibniz gelesen. Aber er hat ihn auch gleich beiseitegelegt. Denn der „Theodicée“ von 1710, Leibniz‘ Rechtfertigung Gottes gegenüber dem Malum der Welt, ist unter dem Eindruck säkularer Sinnzerstörungen wie des Erdbebens von Lissabon und des Blutbads der Französischen Revolution jene metaphysische Gewissheit abhandengekommen, die vordem das Böse in Satansgestalt mitsamt Schlange und Pferdefuß, Hexe und Katzengetier glaubhaft machte. Goethes Mephisto möchte daher lieber als „Kavalier“, als „edler Junker“ in „goldverbrämtem Kleide“ erscheinen, denn als Teufelsgestalt mit „Hörnern, Schweif und Klauen“. Hat doch „die Kultur, die alle Welt beleckt“, so klagt er, längst „auf den Teufel sich erstreckt.“ Obgleich im 18. Jahrhundert das metaphysisch Böse sich selbst unglaubwürdig wird, verschwindet es keineswegs aus der Welt. Mit der Aufklärung wird das Böse zwar der Objektivierung in den Höllenvisionen eines Dante oder Milton entzogen, aber dafür den menschlichen Individuen selbst zur Last gelegt, den Robert Lovelace (Richardson, „Clarissa“), Vicomte des Valmont (de Laclos, „Les Liaisons dangereuses“), den Desportes (Lenz, „Die Soldaten“) und Gröningseck (Wagner, „Die Kindermörderin“). Der Teufel „ist schon lang‘ ins Fabelbuch geschrieben“, gesteht Mephisto, „Allein die Menschen sind nicht besser dran,/den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben.“

Schlecht für die Menschen, gut für die Literatur. Vorbereitet durch die pietistischen Innenschauen Herrnhutscher und Wesleyanischer Prägung, durch Moritz‘ ‚Erfahrungsseelenkunde‘, Schuberts Spekulationen über die ‚Nachtseite der Naturwissenschaft‘ und die ‚Symbolik des Traums‘, durch die Befreiung der Wahnsinnigen im Bicetre und in der Salpetrière sowie durch Kants Einsicht vom „radikal“ Bösen als einer der menschlichen Natur eingewurzelten Neigung („Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, Erstes Stück; 1793/94) erweitert sich das Inventar der Literatur um die Seelentiefe und Abgründigkeit ihres Figurals und daraus folgend um die Komplexität der Handlungen und die Differenziertheit der Darstellung. Gegen die Abziehbilder des Absolutismus, gegen die plakativ menschenverachtenden Bösewichter Marinelli (Lessing, „Emilia Galotti“) oder Präsident Walter (Schiller, „Kabale und Liebe“) treten nach der Französischen Revolution um 1800 authentischere Personifikationen des Bösen und führen den Leser zu neuen, existenziellen Fragen und Erkenntnissen.

Zunächst beteiligen sie ihn am romantischen Interesse für die psychologische Recherche, für den Blick auf die Brüchigkeit der Vernunft und in die Abgründe der Seele. Jetzt erst wird, so Ludwig Tieck, zum eigentlichen Erkenntnisziel, was schon Shakespeare in seinen monströs handelnden und zugleich ihrer eigenen Monstrosität ausgesetzten Bösewichtern Richard III., Shylock, Jago und Macbeth aufgedeckt hat: „das ganze verborgene Triebwerk“ des Menschen. Um den schurkischen Wahnsinn aus dieser Verborgenheit buchstäblich vor das Publikum zu zerren, weigert sich der Schauspieler Ludwig Devrient, Richard III. zu spielen – er ist selbst der irrwitzig Böse und bricht an manchen Abenden unter Krämpfen auf der Berliner Iffland-Bühne zusammen. Pathologisch wahnsinnig, von destruktiven Kalkülen und einem entfesselten Verstand getrieben, sind sie alle, die das Erbgut des metaphysisch Bösen in sich tragen, de Sades Juliette, aber auch Schillers Franz Moor und Kleists Nicolo, Hoffmanns Medardus und Poes Mr. Hyde, Lewis‘ Mönch und Shelleys missgestaltete Frankenstein-Kreatur. Ein klassisches Exempel der narrativen Psychologie dieses bösen Wahnsinns ist E.A. Poes berühmte Erzählung „The Black Cat“ von 1843: Am Vorabend seiner Hinrichtung versucht sich der Ich-Erzähler an der Analyse seiner ihm selbst unerklärlichen Verbrechen. Obgleich tierlieb, stach er seinem Kater „mit teuflischer Bosheit, […] ich kannte mich selbst nicht mehr“, ein Auge aus und erhängte ihn, um nicht an die eigene Schandtat erinnert zu werden. Aber getrieben vom Gedanken an das geliebte Tier, erwarb er einen zweiten Kater, mit leerer Augenhöhle dem ersten gleich, jedoch unterschieden mit einem Fleck am Hals, dem beängstigenden Abbild eines Galgens. Eines Tages schlug der Erzähler mit der Axt nach dieser Inkarnation seines schlechten Gewissens, traf jedoch tödlich seine eigene Frau. Gepackt von Grauen, Reue und Angst mauerte er die Leiche in die hohle Kellerwand ein, der Kater aber blieb verschwunden. Als die Polizei das Haus durchsuchte, drang plötzlich aus der Wand ein unsägliches Gejammer. Hinter den Steinen entdeckte man auf dem Kopf der Leiche den höllenschwarzen Kater.

Sein Name, wie auch der seines Vorgängers, ist ‚Pluto‘ – in der griechischen Mythologie der Gott der Unterwelt und zugleich ein Hinweis auf die Abgründigkeit des Geschehens. Es sei, ringt der Erzähler nach einer Erklärung, wohl der „Geist der Perversität“ gewesen, der ihn wider besseres Wissen und Wollen getrieben habe, „das Böse zu tun um des Bösen willen“. Aber warum gerade das Böse – das Böse als Selbstzweck? Schockierend eingebunden in das Rätsel der Erzählung sind die Logik ihrer Handlungsführung, die Rationalität der Erzählerreflexion, die moralischen Skrupel und Ängste des Täters und die banale Konvention des bürgerlichen Milieus mit Haustieren, Wohnung, Ehe und polizeilicher Ordnungsmacht. Die Herrschaft der Vernunft, die damit aufgerufen wird, ist haarsträubend verquickt mit dem rätselhaft „Dämonischen“ und „Teuflischen“ – dem Menschen als einem Ungeheuer aus Rationalität und anarchischem Trieb. Der schwarze Kater, von Poes Erzähler als ebenso „intelligent“ wie als „Untier“ bezeichnet, „dessen Bosheit mich zum Mord verführt hatte“, erscheint als Spiegel seines ebenso intelligenten wie boshaften Mörders. Aber auch der Kater selbst ist eine Doppelfigur, aufgeteilt in zwei Gestalten: die eine spiegelt sich in der anderen mit dem Galgenzeichen. Unter ihrem Zwang, das Böse zu sein oder zu tun, bleiben Mensch und Tier in ihren Spiegelungen gefangen. Aus der Sicht des reuigen Täters, der nicht weiß, wie ihm geschah, ist das Böse eine infernalische Macht seines Ichs, der er leidend erliegt.

Dies also ist die Sicht des Täters. Aber aus der Sicht von Poes narrativer Konzeption, die das teuflische Geschehen aus der Ratio des bürgerlichen Alltags aufsteigen lässt, erscheint das Böse als deren conditio sine qua non. Ist das Böse das andere der Vernunft, ihre geheime Kehrseite? Poes Erzählung lässt die Frage offen. Es ist eine Frage, die den Ort des Bösen nicht mehr im Ideenhimmel vermutet oder davon abgespiegelt in der Repressionsstruktur der Gesellschaft, sondern im Menschen selbst. Das Böse, im 18. Jahrhundert, in Leibniz‘ Theodizee, noch ein Teil von Gottes Schöpfung, entfernt sich in der Literatur der Romantik, bei Poe, E.T.A. Hoffmann und in Kleists „Zwillingen“ erneut weiter vom Jenseits der Hölle. Gewiss, Poes schwarzer Kater namens Pluto ist ein allegorisches Residuum der theodizeehaft gedachten Welt. Aber gleichzeitig ist das Böse bei Poe nicht mehr nur innerweltlich – es wird auch innerseelisch. Das geschieht parallel zur Begründung der Psychiatrie als medizinischer Wissenschaft nach 1800. Philippe Pinel, Jean-Étienne Esquirol, Johann Christian Reil, William Tuke – sie trennen das Böse vom mythenbildenden Bereich der Theologie ebenso wie von der Moralphilosophie und Kriminologie und pathologisieren es als Krankheit der Seele. Was bedeutet das in der Folge für die Literatur?

Charles Baudelaire, dessen „Les Fleurs du Mal“ um die Mitte des 19. Jahrhunderts das Böse in der kalten Rationalität und seelischen Ödnis der urbanen Wirklichkeit aus Technik, Dampf und Elektrizität entdeckt, hat den verfemten Bürgerschreck E. A. Poe für sich entdeckt und übersetzt. Der eine Outcast ohne Geld, Anerkennung und Lebensglück, der andere Poète maudit, verfolgt wegen Gotteslästerung und sittenlosem Lebenswandel, der eine Alkoholiker, der andere Morphinist – als Außenseiter besaßen sie beide den Blick für die Nachtseite der Zivilisation, für das Ekelhafte und Böse, das sie – ein Sehnsuchtsideal – gleichwohl mit den Vorzeichen der Schönheit brachen und wie in einem Kaleidoskop zu einem irritierenden Faszinosum verwandelten. Die lippenlosen Gesichter, die abgestandenen Parfums, die verwelkten Dirnen, kurz, der Kehricht der Großstadt Paris als Abbild der Entfremdung ist bei Baudelaire der gleiche Reizstoff wie bei Poe der bürgerliche Privatalltag mit seinen Usancen, seiner scheinbaren Vernunft und Ordnung. Und so wie Poes Spiegelfigur, der schwarze Kater als Widerpart seines Mörders und Abbild des Bösen, mit „feurig glühendem Auge“ „schön“ und „hexenhaft“ die eigene Natur um ein Bizarres und Groteskes steigert, ebenso erfüllt auch Baudelaire das ‚Subjekt‘ Paris, die pflanzenlose Großstadt, die öden Straßenschluchten und fahlen Gaslichter mit betäubendem Blumenduft und phosphoreszierendem Mondschein. Hegels 1835 posthum publizierte Vorlesungen über die Ästhetik verbannten noch das Böse aus der Kunst: „Das Böse“, so Hegel, „ist im allgemeinen in sich kahl und gehaltlos, weil aus demselben nichts als nur Negatives, Zerstörung und Unglück herauskommt, während uns die echte Kunst den Anblick einer Harmonie in sich darbieten soll.“ Dieses seit Kant favorisierte Ideal aus Harmonie und Regel durchkreuzen nicht nur Poes Perhorreszierungen des Alltags, sondern auch Baudelaires gebrochene Bilder des Bösen von 1857 und geben einen Vorgeschmack auf die Ästhetik des Hässlichen und des Grauens in der Moderne. Mit ihrer Faszination des Bösen werfen sie einen Vorschein auf Rilkes Malte-Roman, auf Benns Morgue-Gedichte oder Jüngers „In Stahlgewittern“ – wo die Feuerwand der Kanonen als „flammender Vorhang“ über die Schützengräben hochfährt und die Schlacht von Cambrais wie ein satanisches „Schauspiel“ eröffnet.

Das Böse – Tod, Mord, Entfremdung, Ödnis und Leere: Ist es Wahnsinn, ein perverser Ausbruch der Vernunft, zynische Bizarrerie und das hässlich Schöne einer nachklassischen Zeit? Jedenfalls ist das Böse nichts Objektives mehr, ist nicht mehr der Satan mit dem Hinkebein und auch nicht Mephisto, der den Schenkel schamhaft verdeckt. Nein, das Böse ist jetzt eine subjektive Zuschreibung, die sowohl den psychologischen als auch den ästhetischen Spielraum der Literatur erweitert. Was dabei zu Tage kommt, zeigt neben Poes vernunftkritischer Triebanalyse und Baudelaires Ästhetik des Hässlichen Joseph Conrads Erforschung des Unterbewusstseins.

Conrads Novelle „Heart of Darkness“ von 1899 ist die Ich-Erzählung des Kapitäns Marlow über seine Expedition ins Innere Afrikas. Von einer belgischen Handelsgesellschaft erhält er den Auftrag, den am Oberlauf des Kongo erkrankten Elfenbein-Jäger Kurtz zurückzuholen. Aber je tiefer Marlow mit seinem maroden Raddampfer in die geheimnisvolle Dschungelwelt vordringt, umso deutlicher wird ihm die Fahrt zu einer alptraumhaften Reise in das eigene Ich. Der Dschungel, der sich an das Boot drängt, erscheint ihm als unerforschliche, als dunkle und mitleidlose Urwelt voller Schweigen, manchmal jäh durchbrochen von einem Kreischen und Klagen, als sei das Ufer ein Irrenhaus verfluchter Geister. Die Panik, die ihn erfasst, ergreift auch seine Erzählform, die zwischen Reflexion, Wahrnehmung, Assoziation, Zuhöreranrede, Erinnerung und Vorausblick unstet schwankt und die Erfahrung auf keinen Punkt zu bringen weiß.

Das misstönend Böse, das Marlow in der dunklen Wildnis zu vernehmen glaubt, ist freilich nichts anderes als der symbolische Widerhall jener Schreie und Klagen, mit denen, so beobachtet Marlow, die schwarzen Sklaven unter den Peitschenhieben seiner eigenen Spezies, der weißen Zivilisatoren, dem Urwald die Schätze entreißen und sich selbst zu Tode schuften müssen. Am Ende stößt Marlow vor den zerfallenen Hütten einer Urwaldstation auf den Elfenbein-Agenten Kurtz. Er begegnet einem Menschen, der im Wissen um seine waffengeschützte Allmacht und mit der Gier nach Elfenbein als Herr über Leben und Tod alle Fassaden der Moral und Menschlichkeit verloren hat. In schaurigen Riten lässt er sich von den Eingeborenen als Gottheit verehren und erweist sich als Repräsentant einer Zivilisation, hinter deren Bekenntnis zur Humanität nur Hab und Machtgier erkennbar sind. In Marlows brüderlicher Fürsorge um den Todkranken und seinem Versuch, Kurtz zum Eingeständnis seiner Schuld zu bringen, verrät sich des Erzählers Einsicht in die eigene Gefährdung. Ja, auch er, Marlow, könnte dem Bösen verfallen. Aber die Distanz des Außenseiters und Beobachters ist sein Glück. Die peinvollen Schreie in der Stille des Waldes ebenso wie Kurtz‘ Scheitern an der Macht der Finsternis umreißen den Schicksalsraum des Bösen, dem Marlow auf dem als Schlange bezeichneten Lauf des Kongo entkommt.

Der pensionierte Kapitän Joseph Conrad, der hier Autobiografisches mit Fiktivem verbindet, hat in die realistische Wirklichkeit der Kongo-Erschließung zwei historische Modelle des Bösen eingearbeitet: Sein Erzähler Marlow entwirft in die Wildnis die Atmosphäre der kolonialen Brutalität, die er unter seinesgleichen entdeckt, bis er im Dschungel das Böse als eine eigene fatale Möglichkeit zu erkennen glaubt. Der im Urwald verschollene Kurtz dagegen, ehedem hochfliegender Philanthrop und Musiker, ist passiv zurückgeworfen auf das Böse als eine mythische Macht, auf ein Widerfahrnis, ein sinnloses Nichts, in das er hilflos stürzt: „[…] the horror, the horror“ sind sterbend seine letzten Worte. Kurtz ist der gescheiterte Idealist, der in das Böse als schicksalshafte Macht wie in einem Teufelspakt verstrickt ist und in ihm geistig und körperlich zugrunde geht. Der andere, Marlow, ist der skeptische Aufklärer, dem das Böse nicht als objektiv Seiendes, sondern als subjektive Gefahr begegnet. Der eine stirbt, der andere überlebt – womit Conrad ein Fazit über die Bewusstseinsgeschichte des Bösen zieht. Mit Kurtz‘ Untergang und Marlows Überleben hat das Böse als Mythos und Metaphysik endgültig ausgedient. Es ist nunmehr der Ausdruck eines mentalen Zustands, der als Trieb, Mangel an Empathie und Selbstkritik dessen verlustig wird, was Kant einmal so umschrieben hat: Kant sagte, nur Gott und die Engel bräuchten keine Moral („Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“). In der Tat, die Menschen brauchen moralische Regeln – sonst regieren Mord und Totschlag. Oder anders: Im Diskurs über das Böse dominieren am Ende nicht mehr die mythischen Dämonen oder Teufel, und auch die absolutistischen Leviathane und deren Hofstaat sind nur noch historisch von Belang. Das Böse sind im Laufe der Begriffsgeschichte auch nicht mehr die kranken Seelen wie Poes Mörder und Conrads Elfenbein-Jäger. Nein, die Figur Marlow deutet es an: Das Böse sind – potenziell – wir selbst.

Kein Autor hat diese Einsicht beunruhigender ausgedrückt als Franz Kafka. Seinen 1925 posthum veröffentlichten Roman um den Jedermann, den Bankbeamten Josef K., der eines Morgens „ohne dass er etwas Böses getan hätte“ verhaftet, in eine undurchschaubare Gerichtsmaschinerie hineingezogen und am Ende von zwei Schergen in einem Hinterhof umgebracht wird, hat man oft als Vorausspiegelung der willkürlichen und unbegreiflichen Vernichtungsbürokratie des Dritten Reichs verstanden. Aber Kafkas Proceß-Roman relativiert das Gericht. Er stellt die Gerichtsmaschinerie fast durchwegs aus der Perspektive seiner dezidiert durchschnittlichen Alltagsfigur Josef K. dar. Überspitzt formuliert: Das Gericht ist in Kafkas Roman nicht objektive Wirklichkeit, sondern eine Projektion von Josef K.s Bewusstsein. Es gibt Ereignisse im Roman, die mehr von der Subjektivität des Helden abhängen als von den Umständen des faktisch Gegebenen. K. erkundigt sich bei der Suche nach dem Gerichtssaal aufs Geradewohl nach jemandem, den er sich nur ausgedacht hat, nach einem Tischler Lanz und es wird ihm der Weg gewiesen. K. setzt sich willkürlich den Gerichtstermin – und wird vom Richter genau zu dieser Zeit erwartet. Als K. am Ende feierlich schwarz gekleidet in seiner Wohnung Besuch vom Gericht vermutet, klopfen auch wirklich die Henker an die Tür. Bei alledem entspricht das Bewusstsein der Perspektivfigur Josef K. auffällig dem Verhalten des Gerichts und seiner Beamten. K.s moralische Defizienz ist mit Händen zu greifen: Realitätsblind und überheblich negiert er lange Verhaftung und Prozess, er pocht auf seine berufliche Position und fachliche Kompetenz, misshandelt gleichzeitig seine Untergebenen, lässt die Bankkollegen seine Macht spüren, demütigt mit Lust seinen vermeintlichen Konkurrenten, den Direktor-Stellvertreter, verachtet den Kaufmann Block als gesellschaftlich unterlegen, umgarnt Leni, die Haushälterin seines Advokaten, nur ihrer Gerichtskenntnisse wegen, schmeichelt dem bei Gericht einflussreichen Maler Titorelli in Hoffnung auf Fürsprache bei den Richtern und verwendet die untreue Frau des Amtsdieners ebenso für seine Gelüste wie für seine Rache am Gericht: „[…] die Frau verlockte ihn wirklich […]. Und es gab vielleicht keine bessere Rache an dem Untersuchungsrichter und seinem Anhang, als daß er ihnen diese Frau entzog und an sich nahm.“ So überrascht es nicht, dass die Perspektivfigur K. gerade jene Charakteristika des Gerichts entdeckt, die K.s eigene Persönlichkeit bestimmen – die Unterwerfungs- und Machtdoktrin zwischen den Advokaten und Richtern, die Korruption der Richter, die heimlich mit dem Publikum paktieren, sich Rangpositionen anmaßen, die sie nicht innehaben und sich die Gerichtsdienerin gefügig machen sowie die Willkür bei der Behandlung seines Falls pflegen, der nicht mit einem klärenden Urteil, sondern mit einem brutalen Mord beendet wird: „An K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herren, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte.“ Indes, bei alledem darf Kafkas Aphorismus über das Böse nicht vergessen werden. „Das Böse“, so heißt es dort, „ist eine Ausstrahlung des menschlichen Bewußtseins.“ Daher die perspektivische Gestaltung des Romans, des Romangeschehens als Bewusstseins-Projektion des Bankbeamten Josef K., der – auf diese Weise gleichsam identisch mit dem Gericht – über sich selbst das Urteil gesprochen hat. Und nur so ist zu verstehen, dass K. sich der Einsicht in die radikale Strafe unterwirft: „K. wußte jetzt genau, daß es seine Pflicht gewesen wäre, das Messer […] zu fassen und sich einzubohren.“ In einer Tagebuchnotiz vom 30. September 1915 hat Kafka selbst Josef K. als „Schuldigen“ bezeichnet. Weshalb schuldig? Darauf gibt Kafka keine Antwort. Und doch wissen wir sie. Josef K.s Bewusstsein, als dessen Projektion die Züge des Gerichts erscheinen, weist jene Mängel auf, über die Jahrzehnte später ein wirkliches Gericht urteilte. Es sind die gleichen Mängel, die Hannah Arendt dem ‚Schreibtischtäter‘ und SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann zugeschrieben hat: Gewiss, so Arendt, Eichmanns Mangel an Selbstkritik und Urteilskraft, an Realitätsbewusstsein, an Vorstellungskraft, an Einfühlungsvermögen und daher die Bereitschaft zur Dehumanisierung anderer ist „bar teuflisch-dämonischer Tiefe“ und nicht „radikal“ im Sinne Kants. Nein, das Böse ist nichts anthropologisch Verwurzeltes, sondern im Gegenteil ohne „Tiefe“ – ein „Oberflächenphänomen“, kurz: es ist „banal“, es ist alltäglich und damit, so wäre zu ergänzen, wie im Fall des Beamten Josef K., eine durch entsprechende Verhältnisse beförderte Bewusstseins- und Handlungsmöglichkeit, die auch anderen zukommt. Hannah Arendts zugespitzter Begriff von der Banalität des Bösen steht am vorläufigen Ende einer Begriffsgeschichte, die seit dem Hinfall der Theodizee und dem Beginn der westlichen Säkularisierung das Böse nicht mehr als Seiendes oder dessen Abbild versteht, sondern zunehmend als subjektive Zuschreibung. Für die Subjektzentrierung der neueren Literatur wird deshalb das Böse zum Fundus psychologischer Recherchen nach dem verborgenen „Triebwerk“ Einzelner und zur Begründung für eine Ästhetik des Hässlichen mit den Handlungszügen des Absurden und den Stilformen des Grotesken und Bizarren. Wie archaische Zitate erscheinen da die Teufelsheimsuchung des abgründigen Sünders Stawrogin in Dostojewskijs „Bessy“ („Die Dämonen“, „Böse Geister“, 1872) und Leverkühns Teufelsgespräch in Thomas Manns „Doktor Faustus“ (1947). Aber da von Poe über Conrad bis Kafka das Malum unbegreiflich ist, ja als Unbegreiflichkeit ästhetisch ausgestellt wird, erscheinen solch haltstiftende Mythisierungen des Bösen als kompensatorische Konsequenz – insbesondere angesichts der Erschütterung von „Revolution“ (Dostojewskij) und „Totalem Krieg“ (Mann). Weil hier das Böse wie einst im „Volksbuch von Johann Fausten“ (1587) letztlich dem Teufel angelastet wird, entfallen freilich auch die Erzählaspekte der Ich-Reflexion und des Sinnzweifels, der Absurdität und der perspektivischen Relativierung, die seit der Romantik mit der Subjektivierung des Bösen verbunden sind. Doch ist damit noch nicht das letzte Wort über das Böse in der Literatur gesprochen.

Bei all der Nähe zwischen dem Bösen und der Literatur kann es gar nicht anders sein, als dass auch der eingangs genannte Fall des Anders Breivig zum literarischen Gegenstand avanciert. 2013 erschien in Norwegen ein Buch mit dem Titel: „En av oss. En fortelling om Norge – Einer von uns. Eine Erzählung aus Norwegen“. Die Autorin Asne Seierstad hat mit Überlebenden und Zeugen der unfassbaren Tat gesprochen, sie hat die Verhörprotokolle gelesen, hat Breivigs früh geschiedene Eltern interviewt, sie hat die Berichte des Jugendamts und der Pflegeeltern des späteren Mörders studiert, sie hat auch die 1000 Seiten von Breivigs Internet- „Manifest“ ausgewertet, und sie hat dabei den Täter in allen Lebensstationen und Äußerungen als Scheiternden, als stets abgewiesenen Möchtegern und Außenseiter erkannt. Gleichwohl bleibt auch ihr seine Tat im Grunde unerklärlich. Was also ist der Sinn des Buchs? Er liegt in der Kunst des Erzählens. Zum einen montiert Seierstad Breivigs fatale Biografie mit den hoffnungsvollen Lebensgeschichten seiner jungen Opfer. Breivik hat sie wie anonyme Gegenstände mit gleichgültiger Wahllosigkeit erschossen und damit nicht nur getötet, sondern auch entmenschlicht. Mit dem Leben hat er ihnen zugleich ihre Individualität und Würde genommen. Die Erzählerin aber widmet einen Großteil des Buchs diesen unverwechselbaren Opfern, ihren von Erwartungen und Träumen geprägten Geschichten, und konfrontiert sie an den Bruchlinien der Montagen mit der Sinnleere des Täters, der sein Leben jahrelang auf xenophoben Internetseiten verbrachte. Dies zum einen. Zum anderen setzt Seierstad gegen das Böse als den Inbegriff destruktiver Verneinung die narrative Ordnung ihres Buchs. Die „Erzählung aus Norwegen“ folgt einer ästhetischen Form, die durch Truman Capotes „In Cold Blood“ (1966), der dokumentarischen Geschichte eines Familienmordes, vorgeprägt ist. Es ist die Form des nichtfiktionalen Romans, des Doku-Romans. Mit erlebter Rede und inneren Monologen, mit Verben der Wahrnehmung, des Fühlens und Denkens, mit dem Erzähltempus des epischen Präteritums und der Inszenierung dialogischer Partien vermittelt sie den realen Figuren jene subjektive Tiefe und dem faktischen Geschehen jene Präsenz, die beide das dokumentarische Material zum Leben erwecken. Gewiss, auch Seierstad kann das Böse nicht erklären – sie kann es so wenig wie Goethe, Poe, Conrad und Kafka. Aber so wie diese kann sie es kraft ihrer Gestaltung in all seiner Unerklärlichkeit vorstellbar machen. Derart, mit der Empfindung der Autorin und mit der Form der Darstellung, widersteht der Text dem Bösen, von dem er erzählt. Nietzsche sagte: „Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.“

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