Читать книгу Dem Entsetzen täglich in die Fratze sehen - Группа авторов - Страница 27
Über das Böse – im 20. Jahrhundert des Thomas Mann
ОглавлениеAls die Nazis mit ihren Stiefeln erst auf den Straßen und dann auch in den deutschen Wohnzimmern herumtrampelten, da war Thomas Mann klar, dass etwas Böses hochgekommen war, Urböses, Teuflisches, etwas, das auf Vernichtung, Auslöschung, Tod und Zerstörung aus war, auf den Triumph der Lüge und Gewalt hinauslief. Und in seinem Roman vom Doktor Faustus hatte dieses Böse auch eine Örtlichkeit: Es war der Gestapokeller; in ihm herrschten „Lautlosigkeit“, „Vergessenheit“ und „Rettungslosigkeit“.
Erklärbar ist das Böse offensichtlich nicht mehr – weder im Roman noch für den Autor selbst. Um es zu beschreiben, gibt es nur sprachliche Annäherungsversuche in vielfacher Variation: das Böse, das sind irrationale und dämonische Kräfte des Lebens, die hochgekommen sind, das ist das Antirationale, das sind „letzterreichbare Unmoral und Brutalität“; das Böse ist die Entartung alles Menschlichen zum Unmenschlichen, und Ekstase und Fanatismus sind deren Begleiter. In seinen Radiosendungen für Deutsche Hörer spricht Thomas Mann vom „bösen Traum des Großraumreiches der Deutschen“, vom Triumph des „schlechthin Bösen“, von der Macht, „das Böse zu tun“, und die Rede ist vom „bösen Geist, von dem Deutschland zurzeit beherrscht ist“. Das Böse: das sind die „Wellen von Hass, Elend, abgründiger Verzweiflung“, das ist „Satanismus“; das ist „die Bestialität der Nazis, ihr Vandalismus, ihre stupide und lasterhafte Grausamkeit“. Und was Thomas Mann im August 1941 wie nichts anderes fürchtet, ist „der endgültige Triumph des schlechthin Bösen“.
Die Deutschen sind nicht unschuldig. Sie sind als eine „ursprünglich biedere, rechtlich gesinnte, nur allzu gelehrige, nur allzu gern aus der Theorie lebende Menschenart in die Schule des Bösen“ gegangen. Am Ende des Romans vom Doktor Faustus heißt es nicht weniger deutlich, dass das „seelisch abgebrannte Volk“ der Deutschen dastehe „als ein Abscheu und als Beispiel des Bösen“. Aber was das Böse letztlich war, das entzog sich auch dort der Fixierung nur umso stärker, je mehr es sprachlich dingfest gemacht werden sollte. Und im Roman findet sich denn auch das Bekenntnis, dass die Sprache nicht an das Böse herankommt, dass sie nicht bezeichnen kann, „was nimmermehr zu bezeichnen und in Worten zu denunzieren ist“. Das Böse: Es kann nicht „vom Worte zur Rechenschaft gezogen“ werden, es verweigert sich dem „anzeigenden Wort“. Eigentlich ist es der Bankrott der Sprache: Gegenüber dem Bösen ist ihr das abgesprochen, was sie bedeutsam macht: ihre Fähigkeit zur Identifikation, zur Benennung und damit auch zur Bewältigung eines Phänomens – das, um was es geht, das Böse also, entzieht sich jeder verbal zureichenden Darstellung und Erklärung.
Was blieb, war nur ein Schritt in Metasprachliches hinein, und so bot sich die Hölle an, wenn es darum ging, das zu benennen, was sich der Beschreibung eigentlich entzog. Von der Hölle ist immer wieder die Rede, wenn vom Bösen die Rede ist. Mag der Wunsch, dass die deutschen Führer mit ihren Spießgesellen zur Hölle fahren möchten, auch noch redensartlich verstanden werden können – schon im November 1941 heißt es: „Die Hölle, Deutsche, kam über euch, als diese Führer über euch kamen“. Der „Geruch von Ekel und Hölle“, die „Bosheit der Hölle“ in Hitler und seiner Bande, die Schurken, die nicht allein zur Hölle fahren, sondern immer möglichst viele mit sich reißen wollen, das Hohngelächter von Erde, Himmel und Hölle, die „gegenwärtige Hölle“ in Deutschland: Höllenvorstellungen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Thomas Mann’schen Radiosendungen. Der Weg Deutschlands: ein Höllensturz, auf jener „körperstrotzend übervölkerten Wand, auf welche Engel hier in die Posaunen des Untergangs stoßen, dort Charons Nachen sich seiner Last entlädt, die Toten auferstehen, die Heiligen anbeten, Dämonenmasken den Wink des schlangengegürteten Minos erwarten, der Verdammte, üppig in Fleisch, von grinsenden Söhnen des Pfuhls umschlungen, getragen, gezogen, grässliche Abfahrt hält, indem er ein Auge mit der Hand bedeckt und mit dem anderen entsetzensvoll ins ewige Unheil startet, nicht weit von ihm aber die Gnade zwei Sünderseelen noch aus dem Falle ins Heil emporzieht“.
Michelangelos Bild vom Jüngsten Gericht als Bild von Hölle, Höllensturz und endgültigem Untergang ist das kulturelle Äquivalent, das für den Untergang des Bösen steht. Am Ende des Romans wird das Bild aus der Sixtina noch einmal erscheinen, wenn wieder von Deutschland die Rede ist: „Heute stürzt es, von Dämonen umschlungen, über einem Auge die Hand und mit dem andern ins Grauen starrend, hinab von Verzweiflung zu Verzweiflung.“ Bilder des Bösen. Es bleibt auch nicht bei Michelangelos Jüngstem Gericht. In dem Oratorium „Apocalypsis cum figuris“ findet als musikalisches Gegenstück zu Dürers Apokalypse ebenfalls ein Höllensturz statt. Im Hintergrund steht auch noch Dantes Gedicht.
Um über etwas schreiben zu können, was eigentlich nicht darstellbar und noch weniger erklärlich war, nämlich über das Böse, verfiel der Romanautor aber zugleich auf noch eine ebenso simple wie geniale Lösung: Er ließ den Teufel auftreten, als Sinnbild und Ausdrucksfigur dessen, was verbal nicht eingefangen werden konnte. Das Böse: Das war hier der Böse. Damit bekam das eigentlich weder Darstellbare noch Erklärliche eine Erscheinung und ein Aussehen, und damit war der Autor des Romans zunächst einmal all jener Schwierigkeiten enthoben, die sich ihm stellten, als es darum ging, zu sagen, was das Böse sei. Im Teufel figuralisiert sich das Böse; es ist Gestalt geworden, damit auch beschreibbar und der Anschauung vermittelbar. Und so erscheint der Teufel denn in seinem Roman vom Doktor Faustus als das personifizierte Böse; was dieses war, das blieb weiter ungesagt, aber es ließ sich mithilfe des Teufels wenigstens ersatzweise und stellvertretend verdeutlichen.
Im XXV. Kapitel des „Doktor Faustus“ tritt der Böse auf: Und seine Erscheinung zeugt von außerordentlicher Variabilität. Der Teufel ist im Roman von Doktor Faustus confident und Vertrauensmann, Zuhälter und Gelehrter, Theologe und Arzt, Geschäftsmann und Verbrecher. Er spricht mit geschulter Stimme und lacht wie ein Schauspieler, seine Stärke sind Mummenschanz und Mimikry; seine Verwandlungsfähigkeit ist unbegrenzt. Wenn er einmal als Mannsluder erscheint, so kurz darauf als Psychologe, aber auch als Marktschreier und Theoretiker, als Intelligenzler und Schauspieler, als Strizzi und als schnurrbärtiger Kerl mit kleinen scharfen Zähnen, schließlich als käsiger Ludewig, aber durch alle Verwandlungen und Verkleidungen hindurch bewahrt er seine Identität bei fließender Erscheinung, wie es im Roman einmal heißt, er ist sich darin gleich, dass er sich ständig wandelt in einer fast schon unendlichen Reihe von Metamorphosen, ohne dass das Eigentliche, das Böse in ihm, dabei zugedeckt oder aufgegeben worden wäre. Er verändert sich ständig und ist doch stets derselbe: Der Teufel hat vielfältigste Gestalt, aber er bleibt immer der Teufel.
Das war alles andere als Thomas Manns Erfindung. Von mehrfachen Veränderungen der Gestalt ist schon im „Volksbuch von Doctor Faust“ die Rede, aber im Hintergrund dieses Metamorphosenreichtums steht natürlich vor allem Goethes Faust, als Subtext den ganzen Roman hindurch gegenwärtig. Bereits in Goethes Faust kann das Böse, kann der Teufel wunderlichste Gestalt annehmen: Er ist ebenso präsent als „des Pudels Kern“ wie auch als fahrender Scholast, er ist „Herr der Ratten und der Mäuse,/Der Fliegen, Frösche, Wanzen, Läuse“, doch er erscheint auch als edler Junker „in rotem goldverbrämten Kleide,/Das Mäntelchen von starrer Seide,/Die Hahnenfeder auf dem Hut“; bei den Studenten stellt er sich als Reisender vor, bei der Hexe trägt er wieder seine Hahnenfeder und sein rotes Wams; Frau Marthe gegenüber tritt er als fremder Herr auf, wird aber zum „vermaledeiten Rattenfänger“, als er Valentin, Gretchens Bruder, trifft, doch am Hof des Kaisers ist er wieder „anständig nicht auffallend nach Sitte gekleidet“. So geht das weiter. Auch in Goethes Faust ist Mephistopheles‘ Wandlungsfähigkeit nahezu unendlich. Der Böse kann überall und in jeglicher Gestalt begegnen: Niemand ist sicher, nicht auf ihn hereinzufallen.
Auch Leverkühn, Thomas Manns Doktor Faustus, fällt auf ihn herein, der Teufel begegnet auch ihm in unterschiedlichster Verkleidung. Er ist anfangs nur ein jemand, der in einer Sofaecke sitzt, „kein rechter Herr“. Er hat eine Sportmütze übers Ohr gezogen, rötliches Haar steht von der Schläfe hinauf, käsig ist sein Gesicht, und über einem quergestreiften Trikothemd trägt er eine karierte Jacke mit zu kurzen Ärmeln. Ein sonderbarer Zeitgenosse. Aber er sieht auch aus wie ein frecher Abschaum, ein Mannsluder, ein blutiger Ludewig. Er übt Mimikry, treibt Mummenschanz und Vexierspiel, aber dann ist er wieder „was Besseres, hat einen weißen Kragen um und einen Schleifenschlips, auf der gebogenen Nase eine Brille mit Hornrahmen“: ein Intelligenter, Theoretiker und Kritiker. Aber schließlich geht es zurück „ins „Altvertraute“: Als „Kerl“ reitet er „legèrement im Halbsitz auf der gerundeten Seitenlehne des Sofas, die Fingerspitzen im Schoße durcheinander gesteckt und beide Daumen starr davon wegstreckend. Ein geteiltes Bärtchen am Kinn ging ihm beim Reden auf und ab, und überm offenen Munde, drin kleine scharfe Zähne sich sehen ließen, stand ihm das spitzgedrehte Schnurrbärtchen stracks dahin.“ Metamorphose ins Bekannte, und doch mehr: Plötzlich spricht der Teufel Goethes Sprache, und Mephistopheles lugt hervor. Verwandlungskunst. Nur der Böse beherrscht sie so vollkommen. Das alles aber geschieht im Roman in einem Gespräch, das an Unwirklichkeit nichts zu wünschen übrig lässt: Leverkühn, Thomas Manns Faustus, erlebt als Vision, was sich ihm im Zustand abgehobener Bewusstheit als Wirklichkeit darbietet. Dafür hat Thomas Mann Vorbilder genutzt: In „Die Brüdern Karamasow“ (11. Buch, 9. Kapitel) gibt es bereits das Motiv des auf einem Sofa sitzenden Mannes, der „dabei aber überhaupt gar nicht vorhanden ist“, eine Albtraumgestalt, die allerdings nicht sonderlich einfallsreich auftritt; er ist irgendein Herr, etwas heruntergekommen, nur „ein bestimmter Typ von russischem Gentleman“. Ein Strizzi ist er freilich auch: Schon bei Dostojewski hat der Böse allzu enge Hosen an wie später der Teufel bei Thomas Mann eine „widrig knapp sitzende Hose“: dort also auch eine Erscheinung, die nicht vorhanden ist und dennoch im Erleben des Betroffenen allzu präsent. Von mehrfachen Veränderungen der Gestalt des Teufels ist bei Dostojewski freilich keine Rede – das Motiv der unermüdlich changierenden Gestalt hat Thomas Mann aus Goethes „Faust“ übernommen, und seine Darstellung des Teufels steht der Goethe’schen an Einfallsreichtum gewiss nicht nach. Einen Unterschied freilich gibt es: Goethes Mephistopheles ist nicht ein Traum Fausts, sondern steht ihm tatsächlich gegenüber, während bei Thomas Mann der Teufel ein nicht mehr als ein halluzinatorisches Gegenüber ist. Das hat er von Dostojewski übernommen: Iwan schwört, was den Auftritt seines Gegenübers angeht, zwar „Das war kein Traum! Das war doch soeben alles wirklich!“, er nimmt sogar plötzlich ein Teeglas vom Tisch und schleudert es auf den Redner, nennt ihn einen „Betrüger“. Doch am Ende war da niemand, der ihm gegenübersaß, vielmehr: Er saß sich selbst gegenüber. Das aber haben Thomas Mann und Dostojewski gemeinsam – und das gibt schließlich eine Antwort auf die Frage, wo denn das Böse lokalisiert sei. Iwan sagte in „Die Brüder Karamasow“: „Du bist ich, du bist ich und sonst nichts!“, und: „mein Traum bist du, selbständig existiert du überhaupt nicht!“. Eben das hat Thomas Mann Dostojewski abgeschaut: In jenem berühmten Teufelsgespräch des XXV. Kapitels sitzt auch Leverkühn sich selbst gegenüber. Das Böse also nichts anderes als Teil des eigenen Inneren, ein Seelenphänomen.
Der Roman von Doktor Faustus demonstriert aber nicht nur das; in ihm ist zugleich die Geschichte des Bösen als Seelengeschichte beschrieben, die sich seit Jahrhunderten in Deutschland abgezeichnet hat. Das Böse ist keine Individualerfahrung, sondern ist nicht weniger der Zeit verhaftet; es wurzelt offensichtlich in der Psyche ganzer Generationen und Völker, es hat mit Dämonie zu tun, die schon im Mittelalter aufkam und die sich in der Teufelsverschreibungsgeschichte des noch mittelalterlichen Doktor Faustus konkretisiert; es findet sich in der Kinderkreuzzugsmentalität des ausgehenden Mittelalters, später dann in der Vorliebe für das Antiintellektuelle, wie es sich in der deutschen Romantik abzeichnet, schließlich in den wildgewordenen Nationalisierungsideen der Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Dabei ist das Böse nicht Folge eines irregulären seelischen Verhaltens, nicht Ausdruck einer nur leicht anomalen psychischen Verfassung, die zu Unbändigkeiten neigt, schlimmstenfalls zur Unverständlichkeit: der Roman lässt erkennen, dass neben den seelischen Gefährdungen und Irregularien auch eine Intelligenz, die seit 1933 zur satanischen Intelligenz geworden ist, zur Geschichte des Bösen gehört.
Was das Böse sei, hat die Menschheit seit Jahrtausenden bewegt – und sie ist sich darüber bis heute nicht einig geworden. „An sich“ ist das Böse nicht zu definieren; es ist zunächst einmal nur eine Korrelationsgröße, die ihre Substanz allein aus dem Gegensatz bekommt: Das Böse setzt das Gute voraus. Die Kontrafraktur von Gut und Böse hat ihre lange Geschichte und ist schon alttestamentarisch belegt; das Böse galt bereits bei den Juden als Gottes Widersacher und der Teufel als dessen Inkarnation. Der Widerspruch: „Gott ist gut, aber das Böse existiert“ fand im Neuen Testament eine Auflösung: Das Böse verkörperte sich zwar im Teufel, doch weil der ein gefallener Engel war, gehörte auch er noch in den Machtbereich Gottes, blieb ein Geschöpf Gottes, auch wenn er dessen wichtigste Gegenspieler war: Der Herr war und blieb Schöpfer aller Dinge, und das Böse erschien allenfalls als Gegenmythos zur Schöpfungsgeschichte, war ein Versuch, sie zu degradieren, als Täuschung hinzustellen.
Es gab auch andere Erklärungsversuche: Sie kamen aus der Optik. Schon der Manichäismus lehrte, dass das Gute mit dem Reich des Lichtes identisch sei, und so wurde das Böse der Finsternis zugeordnet. Das findet sich auch in Goethes „Faust“: Dort ist die Finsternis als Reich des Bösen gedeutet, Mephistopheles spricht von ihr als allem Anfang, sieht sich als Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar. Die Vorstellung von der Finsternis als dem Ursprünglichen war in der Goethe-Zeit durchaus verbreitet. Das hatte freilich nicht nur mit antiken Schöpfungsvorstellungen zu tun, sondern auch mit dem Johannesevangelium, wo Licht und Finsternis ebenfalls einander gegenübergestellt sind; Goethe nimmt darauf Bezug, wenn bei ihm von der Finsternis die Rede ist, die sich das Licht gebar. Dass Mephistopheles, der Geist, der stets verneint, ein Teil der Finsternis sei, ist eine Überlegung, die sich auch in Goethes Beiträgen zu Optik findet: Dort heißt es über die Finsternis: „Wir denken sie abstract ohne Gegenstand als eine Verneinung“. Aber auch das sind letztlich vage Verdeutlichungen dessen, was offenbar nicht zu definieren und ersatzweise allein aus dem Gegensatz zum Guten bestimmbar ist.
Was das Böse sei, blieb anderswo ebenfalls undefiniert. Wenn Kant vom natürlichen Hang zum Bösen sprach und diesen, weil er sich als Produkt einer freien Willkür zeige, moralisch böse nannte, sogar ein Radikal-Böses annahm, dem nur durch „gute Maximen“ begegnet werden könne, so hatte er das Böse zwar als letztlich vom Menschen zu Verantwortendes bestimmt, da dieser ein frei handelndes Wesen sei, aber eine Bestimmung des Bösen an sich ist das auch nicht. Erst Schelling hat das Böse quasi als etwas individuell zu Verstehendes so definiert, dass es nur „im innersten Willen des eignen Herzens“ entstehen könne und „nie ohne eigne That vollbracht“ werde. Damit war vom Bösen an sich nicht mehr die Rede.
Für Goethe aber war die Feststellung, dass das Böse sich vom Guten her definiere, ausschlaggebender. Dass das Böse mit dem Guten zusammenhänge, das Gute mit dem Bösen, ist schon ein Thema in seiner frühen Rede „Zum Shakespeare Tag“ von 1771. Dort hieß es: „Das, was wir bös nennen ist nur die andre Seite vom Guten, die so nothwendig zu seiner Existenz, und in das Ganze gehört, als Zona torrida brennen, und Lapland einfrieren muss, daß es einen gemäsigten Himmelsstrich gebe“. Im Juni 1774 schrieb er Ähnliches an Sophie von La Roche: „Das Gute und das Böse, rauscht von den Ohren vorbey die nicht hören. Und ist das böse nicht gut und das gute nicht bös?“ Und später wird Mephistopheles das eine vom anderen nicht klar trennen können, bis zu jenem Satz, dass er ein Teil von jener Kraft sei, „die stets das Böse will und stets das Gute schafft“.
Das Böse also theologisch gesprochen letztlich im Kontext des Guten. Diese Überlegung ist auch in Thomas Manns „Doktor Faustus“ präsent. Er hat, was die Deutschen und deren Schicksal anging, (und dafür steht ja weiträumig auch der Lebenslauf des Doktor Faustus), das Böse und das Gute nicht so voneinander getrennt, dass das Böse mit dem Guten auf keinen Fall vereinbar sei und dass das eine nichts mit dem anderen zu tun habe. Das ist Goethe-Nähe, und im Roman wird diese noch wiederholt sichtbar – so, wenn der Privatdozent Schleppfuß lehrt, dass es eine dialektische Verbundenheit des Bösen mit dem Heiligen und Guten gebe. Das Böse trage sogar bei zur Vollkommenheit des Universums; die Rechtfertigung Gottes bestehe in dem Vermögen, aus dem Bösen das Gute hervorzubringen. Dass zwischen dem guten und dem bösen Deutschland nur schwer zu trennen sei, hatte sich bei Thomas Mann schon länger vorbereitet: Bereits in „Lotte in Weimar“ gibt es Annäherungen an diese Feststellung, und an die zumindest partielle Identität von Gut und Böse im Deutschen erinnert auch die Princetoner Vorlesung Thomas Manns über Goethes „Faust“. Und in seiner Rede über Deutschland und die Deutschen wird bei aller Wortgewalt dem Bösen gegenüber noch deutlicher, dass das gute Deutschland auch das böse ist, das böse hinwiederum auch das gute. Die Gründe für dieses Neben- und Ineinander sah Thomas Mann in der deutschen Geschichte, in dem fatalen Eindringen irrationaler und dämonischer Kräfte in das, was für ihn deutsche Innerlichkeit war; schließlich habe die Romantik mit ihrer Hingabe an das Irrationale zu irisierenden Doppeldeutigkeiten geführt, die dann in hysterische Barbarei ausgeartet seien, und das alles sei die Geschichte der deutschen Innerlichkeit – aber sie lehre, dass es nicht zwei Deutschland gebe, ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausgeschlagen sei; das böse Deutschland, das sei das fehlgegangene gute, das Gute im Unglück, in Schuld und Untergang. Darum sei es für einen deutsch geborenen Geist auch so unmöglich, das Böse, das schuldbeladene Deutschland ganz zu verleugnen und zu erklären: „Ich bin das gute, das edle, das gerechte Deutschland im weißen Kleid, das böse überlasse ich euch zur Ausrottung“. Also eine „dialektische Verbundenheit des Bösen mit dem Heiligen und Guten“: Das ist Faust-Nachfolge, darin kehren die Worte der Shakespeare-Rede wieder. Zu definieren war das Böse nicht – zu beschreiben sehr wohl, auch wenn die Beschreibung an den Rand dessen rückt, was die Sprache zu leisten vermag. Der Roman gibt davon Zeugnis.