Читать книгу Ökumenische Kirchengeschichte - Группа авторов - Страница 11
1. Kapitel: Der Protestantismus im Zeitalter der Französischen Revolution (1789–1815) Protestantismus und Revolution
ОглавлениеNach katholischer Auffassung galt der Protestantismus vom 16. bis zum 18. Jahrhundert und darüber hinaus als illegitimer und unbotmäßiger Spross der Ecclesia Catholica. Man warf ihm Aufruhr, Rebellion und Zerspaltung der christlichen Wahrheit in viele widerstreitende Meinungen vor. Jacques Bénigne Bossuet (1627–1704), Bischof von Meaux und Berater des Sonnenkönigs Ludwig XIV. (1638–1715), hatte diese Ansicht in seiner „Histoire des variations des églises protestantes“ von 1688 noch einmal breit dargelegt. Im Jahr 1789 nahmen einige Bannerträger der Französischen Revolution das Erbe des Rebellen aus Wittenberg, Martin Luther (1483–1546), für sich in Anspruch. Luther gehörte für sie an die Seite der Revolution. In umgekehrter, also polemischer Richtung rechneten Zeitgenossen des revolutionären, später des nachrevolutionären Zeitalters Luther ebenfalls zu den Wegbereitern der Revolution in Frankreich. Der Autor des berühmtberüchtigten Werks „Restauration der Staatswissenschaft“ aus den Jahren nach 1815, Carl Ludwig von Haller (1768–1854), ein Konvertit, schrieb in einem Rechtfertigungsbrief über seine Wende zur katholischen Kirche: „Die Revolution des 16. Jahrhunderts, die wir die Reformation nennen, ist in ihrem Prinzip, in ihren Mitteln und in ihren Ergebnissen das vollständige Abbild und der Vorläufer der politischen Revolution unserer Tage“ (Lettre à l’église catholique, Paris–Lyon 1821, 12).
In Wahrheit stand der Protestantismus des ausgehenden 18. Jahrhunderts der Französischen Revolution größtenteils ablehnend gegenüber. In den deutschen Territorien erhielt sie anfangs zwar viel Zustimmung, weil man glaubte, die Revolution verwirkliche eigene Ideale des aufgeklärten Absolutismus, wenn auch auf ungewöhnlichen Wegen. Die Zustimmung schlug jedoch nach den Septembermorden 1792 und während der Jakobinerdiktatur in ein „Nein“ um. Unter dem Eindruck der terreur setzte sich eine konservative Haltung durch. „Historia non facit saltus“, sollte mehr als hundert Jahre später der Dogmen- und Kirchenhistoriker Adolf von Harnack (1851–1930) sagen. Veränderungen des politischen Systems hatten sich nach protestantischer Auffassung gewaltfrei und ohne Blutvergießen zu vollziehen.
Der protestantische Konservativismus als Reaktion auf die Ereignisse in Frankreich besaß, und das ist entscheidend, viele Farben und Gesichter. Er gliederte sich in einen regressiven, einen Status-quo- und in einen progressiven Konservativismus. Vertreter des regressiven Konservativismus wie der Bremer Erweckungsprediger Gottfried Menken (1768–1831) sahen in jeder noch so kleinen Veränderung das Gespenst des Umsturzes heranschreiten. Sie strebten in Verhältnisse zurück, die schon damals nicht mehr zeitgemäß waren. 1795 veröffentlichte Menken seine antirevolutionäre Flugschrift „Über Glück und Sieg der Gottlosen“. Die Status-quo-Konservativen waren bestrebt, die Balance durch Bewahrung des aktuellen Zustandes zu halten, während die progressiven Konservativen die Notwendigkeit von Veränderungen anerkannten. Sie lehnten die Revolution als Mittel der Politik ab, nicht aber die Ideen der Freiheit, der Menschenrechte und der Gewaltenteilung. Die Revolution bildete für sie eine Mahnung, die von Gott eingesetzten Herrscher nicht zu beseitigen, wohl aber eine größere Teilhabe der Bürger an der Gestaltung von Staat und Gesellschaft zu fordern. Einblicke in die widerstreitenden Auffassungen gewährten ganze Serien von Flugschriften der 1790er Jahre. Sehr bekannt wurden Johann Gottlieb Fichtes (1762–1814) „Beiträge zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution“ von 1793 und Karl Leonhard Reinholds (1757–1823) Sendschreiben „Ueber die teutschen Beurtheilungen der französischen Revolution“ aus dem gleichen Jahr.
Ein anderes Bild bot Frankreich. Die französischen Protestanten fühlten sich trotz des Toleranzedikts Ludwigs XVI. (1754–1793) von 1787, das ihnen den état civil, die Vollbürgerschaft, brachte, von der Vormundschaft des katholischen Absolutismus erst wirklich befreit durch die Deklaration der Menschenrechte 1789 und die Anerkennung ihrer uneingeschränkten Kultusfreiheit 1791. Jean-Paul Rabaut (1743–1793), der als Rabaut-Saint-Étienne bekannte Prediger aus Nîmes, besaß Sitz und Stimme in der Konstituante. Am 15. März 1790 wurde er zum Präsidenten der Nationalversammlung gewählt. Maximilien de Robespierre (1758–1794) schickte Rabaut-Saint-Étienne 1794 auf die Guillotine. Dennoch zogen sich viele namhafte protestantische Familien vor der Revolution nicht zurück. Jean-Fréderic Perrégaux (1744–1808), Sohn eines schweizerischen Offiziers im Dienste Frankreichs, erwarb sich den Titel Banquier du Comité de salut public. Die bekannte Familie André kehrte aus dem Exil, in dem sie seit der Revokation des Edikts von Nantes 1685 gelebt hatte, im Jahr 1800 nach Frankreich zurück.
Im nordamerikanischen Protestantismus herrschten gegen Ende des 18. Jahrhunderts der strenge Calvinismus in der Tradition von Jonathan Edwards (1703–1758) und die Old Calvinists mit ihrem Akzent auf dem praktisch-tätigen Christsein, dazu die Formen des Aufklärungschristentums. Den Protestanten war, wie der Bevölkerung des nordamerikanischen Kontinents generell, ein wachsendes Bewusstsein der Eigenständigkeit eigen. Man wollte nicht mehr als Kolonialgebiet Europas betrachtet werden. Zwischen den Demokraten in Amerika und den Revolutionären in Frankreich gab es auf politischer und ideeller Ebene manche Verbindungen. Im protestantisch-kirchlichen Milieu führte der dérapage, die Entgleisung der Revolution, jedoch zu einer Verstärkung puritanischer Ziele, der Glaubensaneignung, außerdem zu einem Rückschlag des Enlightenment. Dem Zusammenhang von Glaubensidentität und politisch-demokratischem System in Amerika taten diese Entwicklungen keinen Abbruch. Kronzeuge dafür war ein Franzose, Alexis de Tocqueville (1805–1859), mit seinem Werk „Über die Demokratie in Amerika“. Der größere Teil des britischen Amerika, meinte er, habe in die Neue Welt eine Form des Christentums mitgenommen, die er nicht anders als eine „demokratische und republikanische Religion“ nennen könne.