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Wissenschaftliche Theologie

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Im 19. Jahrhundert erlebte die protestantische Theologie ihre allseitige Ausprägung zur Wissenschaft im modernen Sinn. Nunmehr konstituierte sich endgültig der Fächerkanon. Die Praktische Theologie nahm ihren Platz im Quintett der theologischen Disziplinen ein. Eine sechste Disziplin, die kirchliche Statistik als Kirchen- und Konfessionskunde, setzte sich nur zögernd durch. Sie rangierte sich im Laufe der Zeit in das Spektrum der kleineren theologischen Fächer ein, ebenso die Christliche Archäologie und die Kirchliche Kunst. Zentren der Verwissenschaftlichung waren die Theologischen Fakultäten in den Ländern deutscher Sprache.

Protagonist der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts war der Berliner Pfarrer und Professor an der neu gegründeten Universität Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Schon mit seiner aus der Frühromantik erwachsenen Schrift „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ aus dem Jahr 1799 und dann vor allem mit seinem dogmatischen Werk „Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt“ von 1821, das bereits 1830 wieder neu aufgelegt wurde, legte er einen weit ausgebreiteten Entwurf der Welt- und Lebensdeutung aus dem Geist eines nach Aufklärung und Revolution erneuerten Christentums vor. „Religion“ wurde definiert als „Anschauung und Gefühl“, später als „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“, das jedem Menschen zu eigen sei und das es neu zu erwecken gelte. Mit der „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums“ von 1810, neu aufgelegt im Jahr 1830, schrieb Schleiermacher die Gründungsurkunde für die moderne theologische Wissenschaft. Sie wurde als „positive Wissenschaft“ charakterisiert. Ihre Teile waren, wie es im § 1 heißt, „zu einem Ganzen nur verbunden … durch ihre gemeinsame Beziehung auf eine bestimmte Glaubensweise“. Die Theologie folgte nicht einer abstrakten Idee. Ein „systemisch“ gereinigter Wissenschaftsbegriff war der Theologie nicht angemessen. Außerdem hatte sich die Theologie bewusst zu sein, dass sie der „Lösung einer praktischen Aufgabe“ diente, der „Kirchenleitung“. Im § 4 seiner „Kurzen Darstellung“ beschrieb Schleiermacher auch schon die Zukunft der Theologie: die nachgerade explosive Ausfächerung von theologischen Einzelentwürfen, von Schul- und Gruppenbildungen: „Je mehr sich die Kirche fortschreitend entwickelt und über je mehr Sprach- und Bildungsgebiete sie sich verbreitet, um desto vielteiliger organisiert sich auch die Theologie.“ Die Vielteiligkeit wurde zur Signatur der theologischen Epoche. Versuche, die Heterogenität der Entwicklungen unter verallgemeinernden Gesichtspunkten zu fassen, scheiterten. Der Reichtum trat über alle Ufer. Gegen Ende seines Lebens musste selbst Schleiermacher bekennen, er sehe sich außer Stande, noch allen Entwicklungen zu folgen.

Grosso modo kann man sagen, dass sich die Entwicklung der protestantischen Theologie in einem zweipoligen Spannungsfeld vollzog. Der eine Pol war die Kirche, der andere die Wissenschaft. In Schleiermachers Verständnis von Kirche und Wissenschaft war die Doppelpoligkeit aufgehoben in einer weiträumigen Ekklesiologie. Zuletzt waren Kirche und Welt identisch. Wissenschaftliche Theologie konnte gar nicht in Gegensatz zur Kirche treten, sofern sie der immer tieferen Erfassung und Darstellung des christlichen Bewusstseins diente. Anders sahen es die Wächter einer orthodoxen Kirchlichkeit. Nach ihrer Meinung zerstörte eine nach allen Seiten freigelassene Wissenschaft die Grundlagen von Glauben und Kirche. An dieser Kampflinie spaltete sich die protestantische Theologie in das Lager der Konservativen, der Liberalen und der Vermittlungstheologen.

Konservative, liberale und Vermittlungstheologie sind ungefähre Richtungsbegriffe. Sie sagen noch wenig über die verschiedenartigen Positionen. Eine Spielart der konservativen Theologie war z.B. der sogenannte ältere Supranaturalismus. Seine Anhänger hatten die Anschauungen der Orthodoxie preisgegeben, wollten aber an einem vorkritischen Verständnis der Offenbarung festhalten. Seine stärksten Bastionen besaß der ältere Supranaturalismus in Württemberg mit Gottlob Christian Storr (1746–1805). In Göttingen bewegten sich Karl Friedrich Stäudlin (1761–1826) und Gottlieb Jakob Planck (1751–1833) vermittelnd zwischen rationalem Supranaturalismus und supranaturalem Rationalismus. Konservativ war auch die pietistische Variante des älteren Supranaturalismus, repräsentiert durch August Neander, Gotttreu August Tholuck und Ernst Wilhelm Hengstenberg. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewann diese Richtung mit dem biblizistischen, doch kulturoffenen Martin Kähler (1835–1912) in Halle, dem Systematiker und Philologen Hermann Cremer (1834–1903) in Greifswald und mit Adolf Schlatter (1852–1938), der in Greifswald, Berlin und Tübingen wirkte, bedeutende Gelehrte hinzu. Kähler stellte sich als Konservativer allen Herausforderungen der historisch-kritischen Exegese. Nimmt man die neulutherische Theologie und die biblische Theologie des Tübingers Johann Tobias Beck (1804–1878) hinzu, dann erweist sich der Konservativismus als eine reich gegliederte Landschaft. In ihr finden sich manche Elemente, die man gemeinhin der liberalen Theologie zurechnet: subjektbezogene Ansätze, kritische Philologie und konfessionelle Toleranz. Insgesamt überwog freilich der Wille, angebliche Dammbrüche in der Kirche durch Betonung des historisch-kritischen Bewusstseins zu vermeiden.

Die liberale Theologie entfaltete sich im 19. Jahrhundert in mehreren Schüben. Am Anfang stand noch ein aus dem Zeitalter der Aufklärung ins neue Jahrhundert hinübergewachsenes „vernünftiges Christentum“, verkörpert in Kirchenmännern wie dem Weimarer Generalsuperintendenten Johann Friedrich Röhr (1777–1848) und dem hessischen Hofprediger Ernst Zimmermann (1786–1832) sowie in Universitätstheologen wie Julius August Ludwig Wegscheider (1771–1849) in Halle und Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761–1851) in Heidelberg. In seinen „Institutiones theologiae christianae dogmaticae“, erschienen 1815 und 1848, forderte Wegscheider noch immer, den christlichen Religionsglauben seiner zeit- und ortsgebundenen Hülle zu entkleiden, um ihn in seiner durchgängigen Vernunftgemäßheit zu erkennen. Dieses Programm vermochte vor dem historischen Denken des 19. Jahrhunderts nicht mehr zu bestehen. Ihre stärkste Kraft entfaltete die liberale Theologie seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts und von dort immer weiter in der historisch-kritischen Methode. Von langer Hand vorbereitet, nahmen die exegetischen Fächer und die Dogmen- und Kirchengeschichtsschreibung einen Aufschwung, von dem die wissenschaftliche Theologie noch heute zehrt. Die Reihe der großen Exegeten, Dogmen- und Kirchenhistoriker ist lang: Wilhelm de Wette (1780–1849), Wilhelm Gesenius (1786–1842), Hermann Hupfeld (1796–1866), Ferdinand Hitzig (1807–1875), Heinrich Ewald (1803–1875), Ferdinand Christian Baur (1792–1860), David Friedrich Strauß (1808–1874), Wilhelm Meyer (1845–1917), Bernhard Weiß (1827–1918), Wilhelm Vatke (1806–1882), Julius Wellhausen (1844–1918), Eduard Reuß (1804–1891), Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827), Adolf von Harnack und viele andere. Der Größte unter ihnen war Ferdinand Christian Baur in Tübingen. Sein Ruhm als Manichäismusforscher, Erforscher der christlichen Gnosis, Exeget des Neuen Testaments und Kirchen- und Dogmenhistoriker entfaltete sich in wahrhaft glänzender Weise. Schon bevor er Hegels Philosophie geschichtsdialektisch auf die Dogmenentwicklung anwandte, hatte er mit seiner dreibändigen „Symbolik und Mythologie oder die Naturreligion des Alterthums“ von 1824/25 Anerkennung erworben. Mit der Postulierung des Gegensatzes des „petrinischen und paulinischen Christentums“ zerstörte Baur 1831 das Bild von der Anfangsharmonie des Urchristentums. Mittels der Tendenzkritik reduzierte er die originären Schriften des Apostels Paulus auf die beiden Korintherbriefe, den Galater- und Römerbrief, während er alle weiteren Schriften des Corpus Paulinum als spätere Ausgleichsversuche der beiden „Systeme“ bewertete.

Selbst wenn manche der bedeutenden Exegeten des Alten und Neuen Testaments und manche der Dogmen- und Kirchenhistoriker sich positionell nicht direkt engagierten, so hatten doch die von ihnen angewandten wissenschaftlichen Methoden und deren Ergebnisse liberalisierende Wirkungen. Hart umstritten, doch von ungeheurer Wirkung war „Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet“ des Baur-Schülers David Friedrich Strauß, ein zweibändiges Werk aus den Jahren 1835/36. Mit dem Instrumentarium der historisch-kritischen Methode hebelte Strauß die noch von Schleiermacher festgehaltene Überzeugung aus, die Evangelien enthielten historisch haltbare Informationen über das Leben Jesu. Er charakterisierte die Überlieferung als bloßen Mythos und verband diese Auffassung mit der These, die neutestamentlichen Berichte über Jesus seien lediglich in einem idealen Sinne wahr: als Ausdruck einer auf die gesamte Menschheit zu beziehenden Verschmelzung des Göttlichen und Menschlichen. Damit ging Strauß den Weg von der Individual-Christologie zur Menschheits-Christologie. Die Menschheit sei Träger der Aussagen, die der christliche Glaube über Jesus mache. Durch die massive Verdichtung der bisherigen exegetischen Einzelkritik am überlieferten Jesusbild bei alsbaldiger Vorlage einer neuen dogmatischen Gesamtanschauung des Christentums in den zweibändigen „Christlichen Glaubenslehren“ von 1840/41 wurde Strauß zum Impulsgeber für eine ganze Flut humanitätsreligiöser Entwürfe. Ludwig Feuerbach (1804–1872) behauptete 1841 in seinem „Wesen des Christentums“, in der bisherigen Religion verlagere der Mensch sein göttliches Wesen in den Himmel, während es doch darauf ankomme, es sinnlich-konkret auf die Erde zurückzuholen. Die Kollektiv-Christologie von Strauß verwandelte sich bei Feuerbach zu einer säkularen Theologie der Vergottung des Menschen.

Das Beispiel von Strauß zeigte, welche kulturrevolutionären Kräfte die neutestamentliche Exegese und die theologische Dogmatik freizusetzen vermochten. In anderen Disziplinen verlief die Entwicklung unspektakulärer, was nicht heißt, dass sie weniger tief greifend war. In der „Exegese des Alten Testaments“ vertieften Hermann Hupfeld und Wilhelm Vatke, und vor ihnen schon Eduard Reuß, die Kenntnisse über den Entwicklungsgang der Religion Altisraels und gelangten von daher zu einer neuen Anordnung der Quellen. Ein Meister der kritischen Philologie war Heinrich Ewald in Göttingen, gleichermaßen ausgezeichnet als Grammatiker und Literaturgeschichtler des Alten Testaments durch sein Werk „Die Dichter des Alten Bundes erklärt“ aus den Jahren von 1835 bis 1839, wie auch als Historiker durch die fünfbändige „Geschichte des Volkes Israel bis auf Christus“, die in den Jahren 1843 bis 1845 erschien und 1951/52 neu aufgelegt wurde. Die konsequente Historisierung des Alten Testaments eröffnete neue Möglichkeiten zum Verständnis der Geschichte Israels und des Judentums, zog aber auch Trennlinien, die die Erkenntnis des gesamtbiblischen Zusammenhangs von Altem und Neuem Testament erschwerten. Julius Wellhausen, der in der Nachfolgegeneration Hupfelds, Vatkes und Ewalds wirkte und als exzellenter Semitist die alttestamentliche Wissenschaft im 19. Jahrhundert zu ihrem philologisch-historischen Gipfel führte, wollte als theologisch wertvoll für das Christentum im Wesentlichen nur noch die Propheten und die Psalmenfrömmigkeit gelten lassen. Durch Wellhausens Schule, mit der sich weitere klangvolle Namen von Alttestamentlern verbinden wie Bernhard Stade (1848–1906), Emil Kautzsch (1841–1910), Karl Budde (1850–1935) und Carl Steuernagel (1869–1958), wurden unbeschadet aller sonstigen Verdienste Barrieren auf dem Gebiet der inner- und gesamtbiblischen Arbeit errichtet.

Die dritte Kraft im protestantischen Bereich, die Vermittlungstheologie, bewegte sich zwischen den Fronten der Konservativen und der Liberalen. Ihre große Zeit hatte sie in den 1830er Jahren, als noch viele Übergänge zwischen den Positionen möglich waren. Die Vermittlungstheologen, gelegentlich auch als Konsensustheologen firmierend, strebten den Ausgleich auf allen Ebenen an: bekenntnispolitisch durch ihr „Ja“ zur Union von Lutheranern und Reformierten, kirchenpolitisch durch ihre Anlehnung an die Institutionen der Kirche, wissenschaftspolitisch durch Anerkennung der Forderung nach Freiheit der Theologie. Den Grundstamm bildeten „rechte Schleiermacherianer“, ergänzt durch erwecklich geprägte Pektoraltheologen und durch spekulative Theologen, die nach Auflösung der Hegel’schen Schule philosophisch heimatlos geworden waren. Hauptvertreter waren der Nachfolger Schleiermachers auf dessen Lehrstuhl in Berlin, August Twesten (1789–1876), der Bonner Professor und Mitglied des Evangelischen Oberkirchenrats in Berlin Carl Immanuel Nitzsch (1787–1868), der aus Schwaben stammende, zuletzt in Berlin lehrende Theologe und Kirchenmann Isaac August Dorner (1809–1884) sowie Richard Rothe (1799–1867), preußischer Gesandtschaftsprediger in Rom, später Professor in Bonn und Heidelberg. Überdauernde Wirkungen unter den Vermittlungstheologen erzielte als einziger Richard Rothe. Bereits in seiner ersten bedeutenden Schrift „Die Anfänge der christlichen Kirche“ von 1837 prägte Rothe jene Vision, die ihn berühmt machte: Die Kirche habe sich dereinst, nämlich im Zustand der Vollendung, in den Staat aufzulösen. Rothe sah in der Leiblichkeit der Welt das Ende der Wege Gottes. In seiner „Theologischen Ethik“, die in den Jahren 1845 bis 1848 zunächst dreibändig, später dann von 1867 bis 1872 in fünf Bänden erschien, gab er seiner Vision umfassende Gestalt. In die Arena des kirchenpolitischen Lebens trat dieser von Schleiermacher, Neander und Hegel (1770–1831) geprägte Theologe allerdings erst am Ende seiner Laufbahn. Als Vermittlungstheologe hingegen beliebt, ja regelrecht gefeiert war unter den Zeitgenossen der Jenaer Kirchenhistoriker Karl von Hase. 1883 erschien bereits in der 12. Auflage sein heute vergessenes, damals jedoch erfolgreiches Buch „Hutterus redivivus“ aus dem Jahr 1829, das experimentellen Charakter trug. Hase versuchte sich in einer modernen Darstellung altprotestantischer Dogmatik. Dieser literarische Akkommodationsversuch war zu kurz gegriffen, zeigte aber, worum es Hase ging: Ausarbeitung eines Systems der Theologie im Horizont der Zeit.

Das 19. Jahrhundert gilt als klassisches Zeitalter der protestantischen Theologiegeschichte. Die Übergänge Alteuropas zur bürgerlichen Gesellschaft, die kulturellen, die technischen und naturwissenschaftlichen Innovationsschübe warfen in immer kürzeren Abständen immer weiter reichende theologische Probleme auf. Dieser Druck war produktiv, erzeugte allerdings erhebliche Unübersichtlichkeit. Instanzen der Lehr- und Bekenntnisregulierung (dem Protestantismus nicht fremd, aber ihn in seiner Freiheit nicht bindend) traten in den Hintergrund. In postabsolutistischen Staatsverhältnissen war die Regulierung der Lehre außerdem kein Gegenstand der staatlich-gesellschaftlichen Interessenpolitik mehr. In Preußen war es in den 1890er Jahren der Staat, der gegen falsch verstandene Kirchenautorität die Freiheit der Theologie als Wissenschaft schützte.

Rebellionen gegen eine Theologie, die über ihren Wissenschaftscharakter den existenziellen Atem verlor, blieben nicht aus. Eine Brandfackel in den Wissenschaftsbau der Theologie warf in Dänemark Søren Kierkegaard (1813–1855). Er publizierte zahlreiche seiner Schriften pseudonym. Die unter seinem bürgerlichen Namen veröffentlichten Texte verstand er als einem fingierten Kierkegaard zugehörig. Kierkegaards literarische Rollenspiele machten die Theologie zum Essay, zum Versuch aus changierenden Perspektiven. War schon das Antiwissenschaft, so dann vollends das Anliegen. Kierkegaard hielt gegen das systema, das nach einheitlichem Plan Zusammengesetzte, das konkretum hoch: das Individuum. Das Individuum war eine durch niemanden und nichts verrechenbare Entität, als solche einsam, deshalb tragisch. Was der Mensch in der Welt war, war er als Rolle: Geschäftsmann, Priester, Assessor. Gut und Böse waren gesellschaftliche Konventionen, das Schicksal des Menschen Verzweiflung. Wie kam das Individuum von seiner sozialen Außenleitung zur Authentizität, anders ausgedrückt zur Aufhebung seiner Verzweiflung? Kierkegaard sah keinen anderen Weg als das Gleichzeitigwerden mit Jesus Christus. Alles historische Verstehen des Christentums, seine Einholung in Denksystemen und Begriffen fand der christliche Sokrates von Kopenhagen abgeschmackt. Man konnte das Christentum nicht verstehen und deshalb auch nicht lehren, sondern immer nur verkündigen. Losgerissen von der Existenz des Menschen war das Christentum nur ein Gebräu aus zweifelhaften Geschichten und kuriosen Behauptungen. Kierkegaards Antiwissenschaft machte freilich ihrerseits Wissenschaftsgeschichte, wenn auch erst einige Jahrzehnte später. Sie wurde zur unerschöpflichen Quelle der modernen Existenzphilosophie und -theologie. Sein Leben verbrachte Kierkegaard, vom Vermögen des geschäftstüchtigen Vaters zehrend, als Privatier und Sonderling. Die erste Ausgabe von Kierkegaards „Samlede Vaerker“ in 14 Bänden erschien erst in den Jahren 1901 bis 1906.

Seine bis heute nachwirkende Prägung erhielt der dänische Protestantismus nicht durch Kierkegaard, sondern durch den Theologen, Dichter und Historiker Nicolai Frederik Severin Grundtvig (1783–1872). So reich Grundtvigs Werk als Pfarrer, Politiker, Vortragsredner, Lyriker und Prosaist war, so unübersehbar waren seine Wirkungen auf die dänische Kultur und Kirche. Kierkegaard warf Grundtvig 1846 in seiner „Abschließenden wissenschaftlichen Nachschrift“ naiven Objektivismus vor. Man könne die Dialektik der Wahrheit nicht haben, sondern sich zu ihr nur verhalten. Vom Standpunkt des radikalen Subjektivismus mochte die Kritik zutreffen, gerecht war sie kaum. Grundtvigs Leistung bestand vor allem in der An- und Ausgleichung des dänischen Selbstverständnisses und des Christentums. Theologisch prinzipieller formuliert hieß das: Grundtvig betrieb die Integration des Menschlichen und Christlichen. „Mensch ist man erst – dann wird man Christ.“ Bei Grundtvig kamen die Schöpfungstheologie des Irenäus von Lyon sowie die Botschaft des Johannesevangeliums zur Geltung, dass Christus „in sein Eigentum“ kam. Die realistische Welt- und Menschenauffassung ermöglichte es Grundtvig, die Dinge zu nehmen, wie sie waren: in der Wissenschaft, der Kunst, der Politik, der Pädagogik. Die Frage nach der theologisch-kirchlichen Bedeutung des Menschlichen blieb aufbewahrt in einem weiten Horizont des Verständnisses von Humanum und Christianum.

Ein nochmals verändertes Element in die Vielteiligkeit der protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts brachte in Großbritannien der Anglikaner Frederick Denison Maurice (1805–1872) ein. Einer Gruppe von Theologen der englischen Staatskirche zugehörig, die zwischen dem antiliberalen Kirchenprinzip der „Traktarianer“ im Umkreis von Henry Newman (1801–1890) mit ihren „Tracts for the time“ aus den Jahren nach 1833 sowie der liberalen „Broad Church“ neue Wege suchte, wollte er nicht der Vertreter einer Schule oder Richtung sein. Theologie als System zu denken lag ihm fern. Er sprach von seiner system phobia. Maurice besaß angesichts der so vielen Systeme der Theologie ein lebendiges Empfinden dafür, dass die Verbindlichkeitsansprüche der Systeme sich gegenseitig neutralisierten. Die Totalität des Systems war Partialität, ein durchaus nach vorn weisender Gedankenimpuls. Auf Integration angelegt, führte jedes System zur Ausschließung, sowohl in seiner inneren Faktur als auch in der Konkurrenz mit anderen Systemen. Die theologische Wahrheit war nur als Teil zu haben. Totale Qualität nahm sie erst im persönlichen Zeugnis und im praktischen Tun an. Diese wissenschaftsmethodische Weichenstellung verband sich mit Maurice’ theologischer Kernthese: „Christ is the Head of every man“ (Welch, Thought Bd. 1, 247). Christus war nicht allein das Haupt einer potenziellen Menschheitszukunft oder das Haupt der an ihn Glaubenden. Die Menschheit stand „not in Adam but in Christ“. Eine vielgestaltig-operative Theologie war das Ergebnis. Sie ließ strukturell jeden theologischen Entwurf unter der für alle geltenden Voraussetzung der particula veri zu. Diese Theologie war christologisch, und sie war pluralistisch. Maurice, der seine Laufbahn als Seelsorger für Medizinstudenten begonnen hatte, war von 1840 bis 1853 Professor am King’s College und in den letzten Jahren seines Lebens Professor für Moralphilosophie in Cambridge. Sein Hauptwerk „The Kingdom of Christ“ erschien 1838.

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