Читать книгу Toleranz - Группа авторов - Страница 15

Wie intolerant sind Moralität und Liberalismus?

Оглавление

Eingangs war angekündigt worden, dieser Abschnitt werde sich der Rechtfertigung der Toleranz selbst widmen. Da diese im Verlauf der Begriffsklärung auf das Prinzip universalistischer Moralität selbst, auf die Forderung nach wechselseitiger Achtung der Autonomie und nach der unparteilichen Berücksichtigung aller zurückgeführt wurde, impliziert die Frage nach der Rechtfertigung der Toleranzforderung nach der hier angestellten Überlegung die Frage nach der Allgemeingültigkeit dieser Moralität. De facto finden sich ja nun einmal moralische Wertesysteme, in denen die Menschen nicht prima facie als gleich berücksichtigenswert, auch nicht als autonom angesehen werden – wohl auch gar nicht autonom sein wollen. Nicht selten finden sich entsprechend Anklagen gegen die als „westlich“ deklarierte universalistische Moralität, die angeblich die Besonderheit und Identität anderer Kulturen nicht zu achten weiß und aufgrund dieser „differenz-blinden“ Haltung immer wieder intolerant wird. Außer Taylor kritisiert auch Nussbaum mangelnden Respekt vor der Sichtweise anderer Traditionen: „Amerikaner und Europäer müssen aber offen der Tatsache ins Gesicht sehen, dass manche Menschen in der Tat ein Leben wählen, das Autorität und Zwang bedeutet.“36 Sie nennt als Beispiel die Armee; es ließen sich auch die diversen Klöster für Menschen beiderlei Geschlechts anführen, die freilich seit jeher akzeptiert werden, für die aber bereits im Mittelalter das Eintrittsalter der Theorie nach auf mindestens 18 Jahre festgelegt wurde, eben weil die Entscheidung zum Gehorsam freiwillig geschehen sollte. Selbstverständlich gebietet die Achtung vor der Autonomie der anderen Menschen gerade den Respekt vor ihren Entscheidungen, solange diese als annähernd freiwillig angesehen werden können. Dass es in manchen Fällen Anlass zum Zweifel an deren Authentizität geben mag, weil z.B. die Inhalte repressiver Erziehung ohne eigene Reflexion reproduziert werden, gibt niemandem das Recht, sich über diese Entscheidungen hinwegzusetzen.37 Es gibt also durchaus Gründe, bei der Umsetzung universalistischer Grundsätze vorsichtig zu sein – Seyla Benhabib etwa propagiert einen interaktiven, die faktischen Menschen berücksichtigenden, statt eines substitutiven Universalismus, den sie Kant und Rawls zuschreibt38 – um nicht intolerant gegen die Menschen zu sein, mit denen man es zu tun hat, indem man ihnen die eigenen, für allgemeinverbindlich gehaltenen Werte aufzwängt. Doch ist dies eine Frage nach dem Umgang mit dem Moralprinzip, nicht des Prinzips selbst.

Kritik an den im letzten Abschnitt vorgestellten, in den Formulierungen an Rainer Forst angelehnten Grundsätzen erfolgt indessen nicht nur unter dem Aspekt der Konfrontation unterschiedlicher Kulturen. In einer voluminösen und kämpferisch ausgerichteten Arbeit aus dem Jahr 2013 wendet sich Christoph Schefold offenbar aus einer christlichen Perspektive besonderer, naturrechtlich inspirierter Art gegen das „Regime verkehrter Toleranz“ bei Rawls und Forst.39 Insbesondere die „Entgegensetzung des diversen ‚Guten‘ und des einen ‚Rechten‘ […] beirrt heute als gängiges Vorurteil“.40 Nicht ganz klar wird von Beginn bis Ende des Werks, ob sich der Autor nun mehr an der „leichtgläubigen Duldsamkeit“ gegenüber angeblichen Versionen des Guten stört oder an der „harmonisierenden Einheitstoleranz“, daran, dass diese „Pauschaltoleranz das überstrenge Pendant praktisch einer Null-Toleranz für Abirrendes“ enthält.“41

Nun ist es sicherlich ein nicht unerhebliches theoretisches Problem der attackierten Ansätze, derart heterogene Begründungsstrukturen wie die individuelle Suche nach dem geglückten Leben, religiöse Glaubensinhalte und althergebrachte Traditionen und Gebräuche unter der Rubrik „das Gute“ bzw. „Ethos“ zu subsumieren und dem Rechten bzw. der Moral gegenüberzustellen,42 die sich allein auf die wechselseitigen Beziehungen, die Freiheiten, Rechte, Güterverteilungen etc. beziehen. Entsprechend empört sich Schefold, es sei „entlarvend“, wie man vom Guten nichts übriglasse als die Glückseligkeit (389), wie durch die damit verbundene Subjektivierung die „Objektivität von Lob und Tadel“ verloren geht (393), wie „alle erdenklichen Weltanschauungen und Lebensführungsweisen als Bemühungen um eigene Identität hingestellt und zu ‚existenziellen‘ aufgewertet“ werden, während das „Entweder/Oder von gut und böse […] außen vor“ bleibe (387). Er lässt auch erkennen, was er an die Stelle der „konsequent orientierungslos gelassene(n) Freiheit“ (397) zu setzen gedenkt, denn „Freude an Lobenswertem“ gilt als das „denkbar Schönste […] nur in Gesellschaft mit Lebensweisheit und Frömmigkeit“ (394f.). Als Orientierung diene dabei ein „wahrhaft Unbedingtes rein prinzipieller Natur namens ‚Naturrecht‘, auf das jahrhundertelang vornehmlich die von Unrecht Betroffenen sich eindrucksvoll berufen konnten“ (591).

Deutlicher wird es noch in einem „Ausblick“ mit dem Titel „Vermeintlich ‚gerechte‘ Toleranz an der Wahrheit vorbei“ (593ff.), dass es um eine Ausrichtung an Wahrheit in sehr spezifischem Sinne geht; konnte doch früher „ein Konsens nach Maßgabe des elementar Wahren […] vorausgesetzt werden. Von selbst verstand sich, daß Entscheidungen, welche die Heilige Schrift und das religiöse Bekenntnis betreffen, ‚nicht ohne weiteres Gegenstand beliebiger Abstimmungen in beliebigen Gremien sein können‘“.43

Zwar kam „das Naturrecht“ bei all seiner Bedeutung für die Herausbildung modernen Rechts keineswegs vornehmlich den Unterprivilegierten zu Hilfe, sondern u.a. der Krieg gegen die Indianer wurde mit naturrechtlichen Mitteln gerechtfertigt und die Sklaverei war, sei es bei Thomas von Aquin, sei es bei Francisco de Vitoria, sei es bei Francisco Suárez, vom Naturrecht zwar nicht geboten, wohl aber erlaubt.44 Zwar hat keiner der Kritisierten einen Verzicht auf die Bemühung um Wahrheit propagiert, noch sie der Abstimmung beliebiger Gremien überantwortet, sondern allenfalls die Ansicht geteilt, dass die Bemühung um Wahrheit nur in offener rationaler Diskussion stattfinden kann.

Dennoch ist diese Auseinandersetzung insofern hilfreich, weil sie – auch ohne Rückgriff auf den heute für diese Zwecke gerne verwendeten Islam – zeigt, dass Toleranz besonders da gefragt ist, wo Menschen nicht bereit sind, ihr religiöses Bekenntnis hinter Rawls’ Schleier des Nichtwissens verschwinden zu lassen, sondern auf der unbedingten Wahrheit ihrer Positionen insistieren. Allerdings ändert dies nichts an der Brauchbarkeit der von Forst vorgeschlagenen Differenzierung des Toleranzkonzepts. Wir sind nach wie vor zu einer Toleranz gemäß der Respektkonzeption aufgefordert, auch zur Achtung vor der Person derer, die z.B. aus intolerantem Fanatismus straffällig wurden. Wer sich zu diesem Respekt nicht in der Lage sieht, in der Überzeugung, seine/ihre Religion verbiete es, wird sich auf die Koexistenz-Konzeption zurückziehen müssen, also auf eine gemeinsame Friedenswahrung. Gegen diejenigen, die den Frieden aufkündigen, weil sie ihre Wahrheit mit Gewalt durchsetzen wollen, möglicherweise unter Vernichtung Andersdenkender, werden sich die anderen mit den angemessenen Mitteln zur Wehr setzen müssen. Dies bedeutet innerhalb eines Staates, dass sich alle Beteiligten an rechtsstaatliche Regeln zu halten haben. In politischen Systemen mit rechtspluralistischen Strukturen gilt für alle Beteiligten die Forderung nach Bewahrung des Friedens und der Menschenrechte.

Toleranz

Подняться наверх