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Matthias Delbrück: Morgenlicht

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Der Abend des 16. Dezember 2015 begann früh und dunkel. Stefanie Stamitz, 39 Jahre alt, stand vor der dunkelbraunen Tür ihrer Wohnung im dauergelüfteten Treppenhaus in der Mannheimer Neckarstadt. Sie war Altenpflegerin, seit vielen Jahren Chorsängerin und seit einigen alleinstehend. Eine Woche zuvor hatte das Time Magazine Angela Merkel zur Person of the Year gemacht, noch eine Woche früher waren bei einem Anschlag auf eine Weihnachtsfeier in San Bernadino/Kalifornien 16 Menschen einschließlich der beiden Täter ums Leben gekommen. Am späteren Abend dieses Tages würde die letzte Ausgabe von TV total laufen. Vorher jedoch, um 19 Uhr, probte Stefanies Kirchenchor. Weswegen sie jetzt noch einmal überprüfte, ob ihre Wohnungstür auch zweimal abgeschlossen war, und dann durch das grünlich gestrichene Treppenhaus, wo es nach Kümmel roch, hinunter zur Straße ging. Draußen– links schauen, rechts schauen, links schauen– überquerte sie die Fahrbahn in Richtung des Gemeindezentrums gegenüber. Rissiger Schnee nieselte auf zu glattes Kopfsteinpflaster. Die Klinkerfassade des kirchlichen Gebäudes glänzte nicht sehr im gelben Natriumlicht der Straßenlaternen, da der viel zu hohe Kirschlorbeer zwischen Grünstreifen und Eingangsbereich fast alles abschattete. Drinnen, im großen Mehrzwecksaal, brachte Stefanie sich mittwochs und freitags in das Sangesleben ihres Stadtteils ein. Denn Singen war das eine, was sie wirklich von Herzen gerne tat.

Heute stand die Generalprobe für das alljährliche Weihnachtskonzert am vierten Advent an. Das Programm listete »Brich an, du schönes Morgenlicht« von Johann Sebastian Bach und ein Chorwerk von Mendelssohn auf, dazu die drei Weihnachtslieder, die nun wirklich jeder kennt. Stefanie sang Alt, sie bildete eine, ja eigentlich die Stütze des weiblichen Klangkörpers. Dennoch oder eher deswegen stand sie nie vorne, sondern immer in der letzten Reihe. Um die übrigen, weniger begabten Altistinnen vor ihr auf Linie zu halten. Einige von ihnen trafen sich mit den Frauen vom zweiten Sopran zum Kartenspielen oder Kochen, wozu sie dann keine Stütze benötigten.

Von ihrem Platz am hinteren Ende der Bühne blickte Stefanie auf die schon gestellten, aber heute noch leeren Stuhlreihen. Und auf den überdimensionierten, bunt geschmückten Weihnachtsbaum. Ihre Nachbarinnen in der Altstimme, Frau Wohlgelegen und Frau Piqué, erschienen neben ihr, beide hatten offenbar bis gerade eben Weihnachtseinkäufe gemacht. Sie murmelten etwas wie »‘n Owwend« und nahmen links neben Stefanie Platz. Dabei sahen sie wie immer kurz an ihr hinauf und hinunter, als erwarteten sie, etwas anderes zu sehen. Stefanie war groß und nicht gerade hager, sie kleidete sich sorgfältig und unauffällig: der graugrün gemusterte Rock und eine dazu sehr passende Bluse mit Dreiviertelarm. Fußfreundliche Schuhe. Das etwas arg bunte Halstuch in den Chorvereinsfarben. Alles in allem eher ein Aussehen als ein Look.

Erst einige Minuten nach dem offiziellen Probenbeginn füllte sich die Bühne mit den Sängerinnen und Sängern, die in der Regel mehr Termine im Kalender hatten als Stefanie. Als das Geraschel und Getuschel verebbte und alle wie gewohnt im großen Halbkreis standen, beugte sich auf ihrer rechten Seite Herr Kranich vom Bass herüber. Er roch nach Butterbrot mit Blutwurst und trug ein rotnasiges Rentier auf seinem Pullover:

»Frau Stamitz, guten Abend. Wie geht’s dem geschätzten Rücken? Ich sag’s Ihnen gern noch mal – der Doktor Stehgreif mit seinen Knierettern und dem neuen MRT hat mir so geholfen!«

»Danke, Herr Kranich.« Stefanie mochte ihn nicht sehr, aber immer noch lieber als die meisten anderen Männerstimmen. »Wissen Sie, als ich klein war, haben mich meine Eltern immer zum Ballett geschickt. Wegen meiner Haltung …«

In diesem Moment klopfte Friedrich Feld, der korpulente Chorleiter, mit seinem Plastiktaktstöckchen auf das Pult und rief ohne weitere Begrüßung die Bässe und Tenöre auf, das erste Weihnachtslied anzustimmen, Takt 17 beim Segno-Zeichen. Kranich weitete seinen Mund zum Singen und wandte sich ab.

»Geholfen hat mir das Geturne damals kein bisschen«, überlegte Stefanie für sich. »Ebenso wenig das Tai-Chi an der Altenpflegeschule. Ich bin halt einfach kein Rückenmensch.«

Vielmehr hielt sie sich einfach immer irgendwie aufrecht. Auch jetzt ignorierte sie ihre quengelnden Muskeln und Nerven. Das konnte sie, denn sie ging innerlich bei den Tenören mit und war allein davon wie gebannt. Hätte sie in Saallautstärke mitgesungen, wäre das für die hohen Herrenstimmen hilfreich gewesen. Das wusste sie selbst, aber auch, dass es am Ende doch keinen Unterschied machen würde.


Dörte Schmidt: drei und heilig

Nach dem ersten Durchgang mit Tenor und Bass rief Herr Kranich, während die Wohlgelegen und die Piqué angestrengt nach vorne blickten: »Gut klingt’s, nicht wahr? So wird es himmlisch am Sonntag!« Er war sich offenbar keiner sanglichen Schwächen bei seinen Männern bewusst.

Friedrich Feld fiel die vergessene Begrüßung ein: »Ja, ‘n Abend dann auch allerseits. Glauben Sie nicht, dass das heute noch nicht zählen würde. Generalprobe ist Pflicht, Auftritt ist Kür. Jetzt Bach.«

Stefanie trug diesen Choral seit Langem im Herzen. Sie brauchte die Noten eigentlich gar nicht, dennoch hielt sie die Blätter pflichtschuldig in ihren selten gestreichelten Händen.

»Brich an …« –

Die Töne formten sich zwischen Stefanies Stimmlippen, strichen durch die Ansatzräume unter dem Gaumensegel hindurch und schwangen sich schließlich zwischen Zunge und Zähnen ins Freie hinaus. Alles in ihr fand plötzlich seinen Platz: Bandscheiben, Hormone, Kopf, Seele und Kehle verschmolzen in eine intakte integrale Klangtraumfigur, strahlend klar …

»… du schönes Morgenlicht!«

Beim Singen hörte sie neben sich, wie Wohlgelegen und Piqué stimmlich an ihr hingen, mit Abstand, aber nicht abgehängt. Stefanies Augen blickten auf den farbenflirrenden Schal herunter und nahmen dann ganz andere Dinge wahr: leichtlebige Zitronenfalter, wohlriechende Sommerfrüchte und schluchzende Nachtigallen, Eisblumen und Bratäpfel, den Holzschlitten ihrer Kindergartenzeit. Jukka, den chaotischen Eisenbahner aus Finnland, der sie manchmal seine »Filifjonka« genannt hatte. Der irgendwann in sein Heimatland verschwand, weil Stefanies Zug nie abfahren würde. Aber jetzt fühlte sich selbst das stimmig an …

Zumindest bis Friedrich Feld unzufrieden abbrach und Kranich seinem Nachbarn laut vernehmlich zubrummte: »Der Sopran hätte ja Zeit genug zum Üben gehabt … also wirklich.«

Tatsächlich nahm sich Feld als Nächstes die erste und zweite Frauenoberstimme vor, während zwischen Stefanies Schläfen Jukkas Bild verblich und Platz für ihr beziehungsloses 2015 machte. Sie lernte schon seit Jahren keinen Mann mehr so kennen, dass sie sich zu ihm in Beziehung fühlte. Friedrich Feld ganz gewiss nicht, Kranich ebenso wenig. Bei ihrer Arbeit im Heim hatte sie ausschließlich mit Pflegefällen und desinteressierten Betreuungsassistenten zu tun, in ihrem Mehrparteienmietshaus wohnten bloß Hipster mit einer unerklärlichen Vorliebe für Kümmelmarinaden.

»Und die anderen Chormänner?«, dachte Stefanie weiter. »Die sind alle entweder nicht unglücklich genug verheiratet, schwul oder an Frauen interessiert, die mindestens zehn Jahre jünger aussehen als ich.« Dieser Gedanke war alles andere als neu für sie. »Zum Beispiel da vorne, die zierliche Sopranistin.« Stefanie seufzte leise. »Nadine Matin oder wie die heißt. Soll an der Pop-Akademie studieren. Sieht irgendwie älter aus als Anfang zwanzig, vielleicht zweiter Bildungsweg. Oder Flickenbiografie.«

Tatsächlich starrten viele Tenöre und Bässe immer wieder zu der Studentin hinüber, wohl weniger auf ihre sorgfältigen Mund- als ihre Brustbewegungen. Wo das knappe Kleid die Brust bedeckte, reflektierten merkwürdige Appliqués das Licht der Bühnenbeleuchtung. Eifersüchtig oder gar empört war Stefanie deswegen nicht. Solange der Chorklang nicht litt, war sie leidenschaftslos, was sexuelle Ausstrahlung und Begehrlichkeiten anging. Und der Klang litt ganz sicher nicht: Seit Nadine mit ihrer erstaunlichen Stimme vor ein paar Monaten dem Sopran beigetreten war, ging es dort Schritt für Schritt aufwärts. Stefanie selbst hatte ihren Alt im Griff und Kranich war zugegebenermaßen musikalisch genug, um die tiefen Lagen mitzunehmen. Und die Tenöre, na ja, selbst die wurden allmählich besser. Was für ein Glück war das eigentlich, andere bei dem zu unterstützen, was einem selbst das Schönste und Wichtigste überhaupt ist: Singen.

In der Probenpause ging Stefanie an den vor ihr stehenden Sängerinnen vorbei, um die Toilette aufzusuchen. Dabei stolperte sie jedoch über die pinken Weihnachtseinkaufstüten der Piqué und fiel nach vorne– ausgerechnet die schmale Nadine fing sie auf.

»Vorsicht, Frau, ähm, Stamitz! Ich hab’ Sie … ist alles okay?«

Das klang und war geistesgegenwärtig. Die kleine Pop-Studentin musste erstaunlich kräftig sein, denn es wurde gar kein richtiger Sturz. Sie half Stefanie auf, ihre Finger fühlten sich an Stefanies Unterarmen rau und warm an. Einen kurzen Moment waren sie sich mit ihren Gesichtern so nahe, dass Stefanie direkt durch Nadines starkes Make-up hindurchsah: Blaue Augen, für die verheult kein verstörend neuer Ausdruck war. Gut kaschierte Flecken, weder Akne noch Allergie. Lippen, die ganz leicht zitterten.

Stefanie richtete sich auf. »Ja, alles gut, so ziemlich, danke!« Der nächste Satz sprach sich wie von selbst aus ihr heraus: »Nadine, du hast eine Stimme, so schön, dass es ein Grund zu leben ist.«

Nadine blickte sie überrascht an, öffnete den Mund, wandte sich dann aber ab. Stefanie fühlte, wie ihr eigenes Gesicht rot wurde– was war das denn gewesen?–, und ging schnell zur Damentoilette im Keller.


Dörte Schmidt: beschert

Nach der Pause arbeitete Friedrich Feld zunächst konzentriert mit den einzelnen Stimmen am letzten Schliff für die übrigen Weihnachtslieder. Als sie danach, und für eine Generalprobe erstaunlich unfallfrei, den Mendelssohn durchsangen, verfing sich Stefanies Blick immer häufiger in Nadines verspiegeltem Kleid. Als wäre Stefanie einer der Anfang fünfzigjährigen Familienväter auf der Männerseite des Chores. Schließlich ließ Feld nach der einstudierten Zwangszugabe– »Last Christmas« auf Kurpfälzisch– noch einmal den Bach anstimmen, von Anfang bis Ende und mit allen Stimmen:

»Brich an, du schönes Morgenlicht, und lass den Himmel tagen!«

Stefanies Stimme flog auf kräftigen Schwingen durch den Saal. Weihnachtszeit und Einsamkeit gingen auf im funkelnd klaren Klang. Trotz der ziemlich sparsam verteilten Bühnenstrahler fühlte sie sich in taghelles Licht gebadet. Auch die übrigen Stimmen fanden zueinander und strahlten fast genauso vielfarbig, wie Bach es in seine Notensysteme eingewoben hatte. Sogar Friedrich Feld entspannte sich und schien wieder an ein erfolgreiches Weihnachtskonzert zu glauben.

Als die Probe vorbei ist, strömen die Chorleute zügig nach draußen und mit Straßenbahn, Rollator, E-Bike oder SUV in ihre Mannheimer Wohnzimmer. Stefanie erreicht aus Gewohnheit als Letzte den Ausgang, so gerät sie in keine unangenehm ungewollten Gespräche. Zu ihrer Überraschung wartet vor den geriffelten Glastüren des Gemeindehauses Nadine – auf sie? Natriumgelbes Licht und Graupel tropfen von den Straßenlaternen auf sie beide herab.

»Frau Stamitz, Stefanie, darf ich Sie etwas fragen?«

Stefanie nestelt an ihrer Regenjacke. »Mich? Also – es tut mir leid … wegen vorhin, wenn es darum geht«, sagt sie stockend.

Nadine sieht ihr mit leicht geneigtem Gesicht direkt in die Augen. »Stehen Sie auf Frauen?«

»Also Nadine, ich meine, habe ich zu sehr herüber …« Stefanie wird fröstelig und überraschend warm zugleich, als sie den Rest des Satzes verschluckt.

Nadine lächelt sacht: »Herübergestarrt? Kein Problem, nicht wichtig. Ich kann das aushalten.« Sie atmet kurz, aber tief durch. »Ich hatte vorhin so ein Gefühl. Es dich zu fragen. Ist ›du‹ okay?«

»Es ist … alles okay. Ja, wirklich alles.« Mehr bekommt Stefanie nicht heraus.

Nadine schüttelt ihren Kopf, eine dunkle Strähne rutscht an ihrem Mund vorbei. »Alles nicht. Nein, es ist nicht alles okay. Aber singen hilft. Über alles hinweg. Immer.«

Dann schwingt die Studentin den ausgebleichten Eastpak-Rucksack, den sie in der Hand gehalten hat, über ihre schmale linke Schulter und schaut Stefanie in die Augen.

»Ich würde gern Duette mit dir singen. Stefanie. Deine Stimme ist so überirdisch genial. Hab’ ich noch nicht erlebt, Hammer. Das ist wie Weihnachten zum Hören.« Nadines ganzes Gesicht strahlt jetzt. »Wir könnten sogar zusammen auftreten. Du hast die Literatur drauf von Bach bis Schönberg und ich den ganzen Rest. Barock und Roll!«

Stefanies Brust wird mit einem Mal so weit wie der Himmel. Sie lacht in Nadines grüne Augen hinein, dann ruft sie in die Neckarstädter Nacht: »Brich an, du schönes Morgenlicht, lass uns den Himmel rocken!«

Tja. So hat es also vor sechs Jahren angefangen mit dem Erfolgsduo »Matin & Stamitz – #BarockandRoll«. Bereits am Weihnachtsabend 2015 sangen sie erstmals gemeinsam vor einem kleinen, aber einflussreichen Publikum, der Auftritt wurde ein sensationeller Erfolg. Konzerte in der Region, dann im In- und Ausland folgten, ein Streamingportal und seit Pandemiebeginn Onlineformate. Sind Sie neugierig geworden? Dann buchen Sie noch heute das exklusive Weihnachtskonzert »Morgenlicht 2021«. Und genießen Sie online oder mit Abstand im Stamitzsaal des Mannheimer Rosengartens die Musik dieser beiden ungewöhnlichen Frauen, die auch außerhalb der Bühne ein Paar geworden sind.

Haller 18 - Weihnachten

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