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Nur wenige Wochen verbrachte Jean-Jacques Rousseau auf der ­St. ­Petersinsel im Bielersee. In seinen «Träumereien eines einsamen Spaziergängers» wird sie zum Paradies.

«Mein Herz kann sich nicht halb geben», gesteht Jean-Jac­ques Rousseau im zwölften Buch seiner «Confessions» (Bekenntnisse). Immer war der Denker Feuer und Flamme, ob in Liebe oder Hass. Preisgesang und Pamphlet reihten sich nahtlos, und manchmal galten sie dem gleichen Gegenstand, etwa der Vaterstadt Genf, die bald beispielhafte Republik, bald Heimat finsterster Laster war. Nie aber hat Rousseau seine Meinung über die St. Petersinsel im Bielersee geändert, auf der er am 12. September 1765 Zuflucht fand – für sechs Wochen.

«Die kleine Insel, auf der ich mich befinde, schien mir passend für meinen Rückzug», schrieb er zwei Wochen nach der Ankunft, «sie ist sehr angenehm; man findet hier weder Kirchenleute noch von diesen aufgehetzte Gauner». Zwar klagte der 53-jährige über Krankheiten, das Alter, und manchmal störte ihn die Betriebsamkeit der Ernte. Aber die Abende seien ruhig, berichtet er Briefpartnern, und auf den einsamen Winter freue er sich schon jetzt. Rousseau richtete sich insgeheim darauf ein, auf der Insel den Lebensabend zu verbringen, wie er bei seiner Ausweisung dem Berner Magistraten und Schlossherrn Emmanuel von Graffenried gestand.

Im Rückblick wuchs die Begeisterung noch. 1777, zwölf Jahre nach dem Verlassen der Petersinsel, erinnerte sich der Flüchtling in seinem letzten Werk noch einmal an sie. Die Cinquième Promenade, der fünfte Spaziergang, in den «Rêveries d’un promeneur solitaire» (Träumereien eines ein­samen Spaziergängers) ist einer von Rousseaus schönsten Texten. Die Nöte sind nicht vergessen, aber weggerückt. Was in der Erinnerung zählt, ist die neue Erfahrung, die der Verfolgte in seinem Inselexil machte: «Ich halte diese zwei Monate für meine glücklichste Zeit.»

Rousseau, der umstrittenste Philosoph der Aufklärung, spaltete seine Zeit. Seine Anhänger und vor allem Anhängerinnen verehrten ihn wie einen Popstar, bedrängten ihn mit Briefen und Besuchen, noch auf der Petersinsel, die damals nur per Schiff erreichbar war. Zahlreicher noch waren die Feinde. Konkurrenten wie Voltaire gehörten dazu, vor allem aber Obrigkeiten aller Art. In Paris hatte man 1762 von Staats wegen Rousseaus Erziehungsroman «Emile» verbrannt, der – drei Jahrzehnte vor der Französischen Revolution – «ein Jahrhundert der Revolutionen» ankündigte und Zweifel am allein selig machenden Christentum vorbrachte. Genf folgte dem Pariser Beispiel und erliess ebenfalls einen Haftbefehl gegen den Autor. Zuflucht fand dieser im Neuenburgischen, das damals unter der Herrschaft des aufgeklärten Preussenkönigs Friedrich des Grossen stand.

Doch die erhoffte Ruhe hatte Rousseau auch im kleinen Môtiers im Val de Travers nicht. Voltaire verbreitete in einem anonymen Pamphlet, dass Rousseau seine fünf Kinder ins Findelhaus gegeben hatte, und der Pfarrer von Môtiers hetzte von der Kanzel gegen den Ungläubigen. Schon äusserlich war Rousseau ein Fremder: Er trug nur noch, was er sein «habit arménien» nannte, einen langen, kaftanähnlichen Rock, dazu eine Pelzmütze, wie er es bei einem Schneider aus Armenien gesehen hatte.

Die Dörfler rüsteten zur Hatz auf den unheimlichen Kauz. Als eines Nachts Steine gegen seine Wohnung flogen, fühlte sich Rousseau des Lebens nicht mehr sicher. Selbst die ausdrückliche Protektion des preussischen Königs konnte ihn offenbar nicht schützen, und die von der Polizei einvernommenen Zeugen wussten von nichts oder gaben zu verstehen, Thérèse Levasseur, Rousseaus Lebensgefährtin und Mutter seiner Kinder, die er als seine Haushälterin ausgab, habe die Steine wohl selbst geworfen.

Am Tag nach der «Steinigung», wie Rousseau den nächtlichen Angriff nannte, verliess er Môtiers. Die St. Petersinsel, auf der es ein einziges Haus gab, ein ehemaliges Kloster, schien das ideale Exil zu sein – hätte sie nicht den gnädigen Herren von Bern gehört, die Rousseaus Schriften ebenfalls verboten und den Autor zur Persona non grata erklärt hatten. Rousseau wusste es, hoffte aber auf stillschweigende Duldung.

Trotz ständig drohender Ausweisung war es Rousse­aus «glücklichste Zeit». Sicher prägt Selbststilisierung den Rückblick des «Fünften Spaziergangs». Abgeschieden von der Aussenwelt, in bewusstem Verzicht auf Arbeit, auf Bücher und Schreibzeug, will der Asylant einzig seinen neuen Leidenschaften, der Botanik und den Träumereien, gelebt haben. Die Briefe zeigen, dass er nicht ganz so radikal war; selbst die Zeitung liess sich Rousseau übers Wasser bringen. Und durch eine Bodenklappe, die heute noch im Rousseauzimmer auf der Insel zu sehen ist, soll er sich vor Besuchern gerettet haben.

Aber die «Rêveries» wollen nicht als Dokument, sondern als literarischer Text gelesen werden. Rousseau schildert sich als Traumwandler einer neuen Art, als ein Träumer mit gesteigert wachem Bewusstsein, der nichts weiter tut als Pflanzen sammeln oder auf der kleinen Nachbarinsel Hasen aussetzen, im Übrigen aber die Unschuld des Farniente geniesst: «Solange dieser Zustand dauert, sind wir uns selbst genug, wie Gott.»

Allerdings, die Gesellschaft, wie sie ist, macht die «süssen Ekstasen» des Wachträumens nicht erstrebenswert. «Vita activa», ein rastloses, auf Erwerb gerichtetes Leben, ist angesagt. Nur «ein Unglücklicher, der aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen ist», einer wie Rousseau also, mag in diesen Träumereien eine Entschädigung für entgangene Freuden finden.

Der Preis ist hoch. Das Exil muss zum Paradies (v)erklärt werden. «Die Verfolgung scheint einem geheimen Wunsch Rousseaus zu entsprechen. Sie enthebt ihn des Handelns und seiner Folgen», schreibt Jean Starobinski in seinem Rousseaubuch. So erbittet der Flüchtling folgerichtig von den Berner Herren lebenslängliche Einschliessung. «Ich wag­te den Wunsch auszusprechen und vorzuschlagen», be­richtet er in den «Confessions», «dass man mich eher zu ständiger Gefangenschaft verurteilen möge, als mich ständig auf der Erde herumirren zu lassen». Der Wunsch wurde abgelehnt, die Berner haben Rousseau am 25. Oktober 1765 vertrieben. Die St. Petersinsel aber blieb sein Traumge­fängnis.

Peter Müller

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