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ОглавлениеEin Bild im Kunstmuseum Basel spielt eine zentrale Rolle in dem Roman, den Dostojewski in der Schweiz 1867/68 begann: «Der Idiot».
Anna Grigorjewna war erst die Stenotypistin Dostojewskis. Sie half ihm, in 24 Tagen den Roman «Der Spieler» zu Papier zu bringen und so einen Knebelvertrag mit seinem Verleger zu vermeiden. Die gemeinsam durchgestandene Prüfung hatten den Autor und seine 25 Jahre jüngere Sekretärin zusammengeschweisst: Im Februar 1867 wurde in St. Petersburg geheiratet.
Zwei Monate später waren die Dostojewskis auf der Flucht vor den Gläubigern. Nach Berlin und Dresden war Baden-Baden die dritte Station ihres Exils. Nach entsetzlichen Verlusten im Spielcasino musste Dostojewski abreisen, ohne dass er die verpfändeten Kleider seiner Frau hatte auslösen können. Die Spielverluste und die immer häufiger werdenden epileptischen Anfälle ihres Mannes versuchte Anna Grigorjewna «mit philosophischer Kaltblütigkeit» zu ertragen, wusste sie doch seit einigen Wochen, dass sie schwanger war.
Ende August 1867 reisten die Dostojewskis von Baden-Baden über Basel nach Genf, wo sie für die nächsten Monate Wohnsitz nahmen. Warum gerade Genf? «Kann ich das wissen? Ist’s nicht ganz gleich?», kommentierte Dostojewski gegenüber Freunden die Wahl seines neuen Aufenthaltsortes.
Obwohl er sich am «wunderbaren» See mit seinen «malerischen» Ufern erfreuen konnte, wurde er kein Freund der Stadt Calvins. Wiederholt beklagt er sich in seinen Briefen über die Bise und die ständigen Wetterumschwünge. «Tagelang stürmt es hier, und selbst an den gewöhnlichsten Tagen wechselt das Wetter drei- und viermal. Und dies soll ich mit meinen Hämorrhoiden und meiner Epilepsie aushalten!»
Kaum zum Aushalten fand Dostojewski auch die Schweizer. «Wenn Sie eine Ahnung hätten, wie unehrlich, gemein, unglaublich dumm und unentwickelt die Schweizer sind!», schrieb er einem Freund. Auch Anna Grigorjewna ärgerte sich über die Selbstzufriedenheit und den «einfältigen Patriotismus» der Schweizer. Am schlimmsten empfanden die Dostojewskis aber die Unsauberkeit dieser «Barbaren», die sich mangels öffentlicher Bäder nur selten wüschen. «Der Kirgise in seiner Jurte wohnt sauberer!», berichtete Dostojewski «ganz entsetzt» nach Russland.
Trotz seiner Beschwerden konnte Dostojewski den Aufenthalt in Genf für die Arbeit an einem neuen Roman nutzen: Unterbrochen von einigen Abstechern in die Spielcasinos von Saxon-les-Bains nahm er in Genf den «Idiot» in Angriff, also jenen Roman, der damit beginnt, dass der Epileptiker Myschkin nach einem längeren Klinikaufenthalt in der Schweiz nach St. Petersburg zurückkehrt. Noch während der Zugfahrt lernt er Rogoschin kennen, der im Kampf um die ebenso schöne wie dämonische Nastassja Filippowna zu seinem Widersacher wird.
Von zentraler Bedeutung im Roman ist ein Bild, das Dostojewski während der Durchreise im Kunstmuseum Basel gesehen hatte: «Der Leichnam Christi im Grabe» (1521/22) von Hans Holbein dem Jüngeren. Zwei Meter lang und gerade mal dreissig Zentimeter hoch, zeigt dieses Gemälde im Extremformat einen geschundenen, von der Verwesung im Gesicht und an den Wundmalen bereits stark gezeichneten Christus. Dostojewski war von dem Bild derart fasziniert, dass er unerlaubterweise auf einen Stuhl stieg, um die Details des über Kopfhöhe hängenden Gemäldes besser sehen zu können.
Mit Faszination und Schrecken wird das Bild auch im «Idiot» betrachtet: «Vor diesem Bild kann manchem der Glaube verloren gehen», erklärt Myschkin, als er im Zimmer Rogoschins eine Reproduktion des Gemäldes entdeckt. Und der Student Ippolit stellt die provokative Frage, wie die Jünger angesichts des verwesenden Leichnams glauben konnten, dass Christus auferstehen werde?
Der Einzige, dem im Roman das Bild wirklich zu gefallen scheint, ist der Agnostiker Rogoschin. Gerade er macht sich am Ende des Romans daran, ein Gegenbild zu «erschaffen»: Er ermordet Nastassja Filippowna, entkleidet sie und bahrt sie christusgleich auf seinem Bett auf.
Den entstehenden Verwesungsgeruch bekämpft er erfolgreich mit einigen Flaschen «Schdanowscher Lösung», einem Mittel gegen üble Gerüche. Da er die Leiche zudem mit Tüchern bedeckt, deutet äusserlich nichts auf den Mord hin, und so glaubt Myschkin, als er von Rogoschin ins Zimmer geführt wird, Nastassja Filippowna schlafe.
Nachdem der Mörder gestanden hat, verbringen die beiden die Nacht am Bett der Toten, die mit ihrem scheinbar unversehrten Körper Hoffnung auf Auferstehung und ein besseres Jenseits zu geben scheint. Aber in einem Roman, den Walter Benjamin treffend mit einem «ungeheuren Kratereinsturz» verglichen hat, gibt es keine Hoffnung: Als am Tag darauf die Zimmertür von der Polizei geöffnet wird, ist Rogoschin im Fieberwahn, Myschkin in Apathie versunken.
Auf den Knien betend, verbrachte Dostojewski die Nacht vom 4. auf den 5. März 1868. Gegen fünf Uhr morgens wurde er durch den Schrei eines Kindes erlöst: Er war Vater eine Tochter geworden. Die Freude Dostojewskis war riesig: Ein Monat nach der Geburt berichtet er einem Freund, das Kind habe «bis hin zu den Stirnfalten» bereits alle seine Züge und liege in seinem Bettchen, «als schaffte es einen Roman!»
Acht Tage nach der Taufe, am 24. Mai 1868, starb Sonja «Sonetschka» Dostojewski an einer Lungenentzündung. Ausser sich über die Überheblichkeit des Arztes, die Unerfahrenheit der Kinderfrau und das ungünstige Klima, das er für den Tod seiner Tochter mitverantwortlich machte, verliess Dostojewski mit seiner Frau das «verdammte Genf» und siedelte nach Vevey, schliesslich nach Italien über. Hier schloss er im Januar 1869 seinen Roman ab und kehrte über Prag und Dresden im Juli 1871 nach St. Petersburg zurück.
In die Schweiz kam Dostojewski noch einmal: Im August 1874 reiste er nach Genf und besuchte das Grab seiner Tochter auf dem Friedhof Plainpalais, wo heute noch eine Gedenkplatte an sie erinnert.
Andreas Tobler