Читать книгу Grenze als Erfahrung und Diskurs - Группа авторов - Страница 13
Der „Grenzübertritt“ im Werk Heinrich Manns
ОглавлениеPolysemantik und Deutungsperspektiven
Hermann Gätje, Saarbrücken
Heinrich Mann gilt als Schriftsteller der Widersprüche und Spannungen, die Meinungen über ihn klaffen auseinander. Kaum ein Autor der deutschen Literatur polarisiert in dieser Weise. Das Spektrum der Urteile über sein Werk ruft das Bild eines Grenzgängers zwischen Kunst und Kitsch hervor. Einige Romane von ihm gelten als Meisterwerke, andere werden als Kolportage abgetan. In der Summe seiner politischen Aktivitäten und Positionierungen lassen sich einerseits humane Überzeugungen, frühe und kluge Einsicht in manche fatale Entwicklungen und andererseits verblendete Fehleinschätzungen sowie irrationales Wunschdenken pointiert gegenüberstellen. Heinrich Mann hat persönlich und in seinen Werken Grenzen zwischen den Nationen und Kulturen, zwischen den sozialen Klassen überschritten und thematisiert. Schon daher liegt es nahe, sein Schaffen und Wirken mit dem Begriff des „Grenzübertritts“ sinnbildlich zu charakterisieren. Zugleich hat er als Autor des Exils zahlreiche tatsächliche Grenzübertritte vollziehen müssen, die für ihn existenzielle Bedeutung hatten und die er in seinen Texten reflektiert hat.
Es überrascht daher kaum, dass vom Begriff „Grenze“ abgeleitete Topoi in der Literatur zu Heinrich Mann häufig auftauchen. Die Charakterisierung als Grenzgänger findet sich in Bezug auf zahlreiche Aspekte seiner Persönlichkeit. Doerte Bischoff sieht ihn und seinen Bruder Thomas als „Grenz-Gänger eines Europa-Diskurses“,1 Marcel Reich-Ranicki formuliert, dass Gottfried Benn Heinrich Manns Romantrilogie Die Göttinnen „als etwas gänzlich Neuartiges“ ansah, „einen Vorstoß, der weit über die Grenzen der am Anfang des Jahrhunderts dominierenden erzählenden Prosa (etwa vom ‚Stechlin‘ bis zu den ‚Buddenbrooks‘ von Paul Heyse bis zu Ricarda Huch und Eduard von Keyserling, Emil Strauss und Hermann Hesse) führe und somit den Bereich der Literatur kühn und kraftvoll ausdehne.“2 Reich-Ranicki selbst hingegen attestiert den Göttinnen Nähe zur Trivialliteratur, und da er nur ein paar Zeilen nach der eben zitierten Stelle in seinen Ausführungen schreibt, Heinrich Mann „haperte“ es an „Geschmack“,3 evoziert er unweigerlich die Wortassoziation, dass Heinrich Mann die Grenzen des guten Geschmacks häufig überschritten habe.
Gemäß der Thematik „Grenze als Erfahrung und Diskurs“ möchte ich im Folgenden die persönliche Erfahrung des Grenzübertritts bei Heinrich Mann mit dem Topos der „Grenze“ in seinem literarischen Schaffen im Hinblick auf seine zahlreichen Bedeutungsimplikationen in Beziehung setzen. Anhand von Textstellen aus verschiedenen Schaffensphasen soll exemplifiziert werden, dass in seinem Werk die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs „Grenze“ in den unterschiedlichsten Facetten auftauchen und sich dabei strukturelle Zusammenhänge aufzeigen lassen.
Inspiration und Ausgangspunkt meiner Ausführungen ist die Schilderung der Flucht über die Pyrenäen in seiner Autobiografie Ein Zeitalter wird besichtigt, die 1946 erstmals erschien. Die Textpassage ist eine Schlüsselszene in seiner Lebensbeschreibung und lässt sich sinnbildlich für seinen Lebensweg und seine Persönlichkeit deuten.
Mann beschreibt ausführlich den wagemutigen Fußweg über die Pyrenäen von Frankreich nach Spanien im Jahr 1940. Im autobiografischen Rückblick rekurriert er auf seine Kindheit, parallelisiert das Geschehen sinnbildlich einerseits als wiederkehrendes Muster seines Lebensnarrativs, als neuen Aufbruch, andererseits stellt er das Bedrohliche, Abweichende dieses Ereignisses heraus, indem er diese Flucht mit Bergwanderungen der Jugend kontrastiert:
Den frischen Wind dieses Morgens fühle ich noch. So kann ich die Luft verschiedener, sehr verschiedener Morgenstunden zurückrufen, wenn ich einst aufbrach und hatte vor Freude nicht geschlafen, oder vor Unruhe nicht, vor Sehnsucht. Oder ich war wundervoll ausgeruht, weil nur das Vertrauenswürdige bevorstand, ein grüner Berg, zweitausend Meter hoch. […] Der kalte Hauch meines Aufbruchs von Marseille befremdete eigentümlich. Ohne weiter zu insistieren, brachte er Nachricht aus künftigen Tagen, die nichts mehr von Belang zu melden hatten.4
Der mehrdeutige Kapiteltitel Über den Berg versinnbildlicht den Berg als Grenze und wirft die Frage auf, ob es im Werk Heinrich Manns raumsemantische Konstanten gibt, also Textstellen, in denen geografische Entitäten wie Berge oder auch Gewässer wie Meere, Flüsse, Seen Grenzen darstellen bzw. symbolisieren und Analogien zu der Textpassage aus seiner Autobiografie aufweisen. Die Rolle des Meeres in seinem Werk wurde von der Forschung bereits hervorgehoben, auch in dieser Passage erscheint es: „Wir ergingen uns am Meeresstrand, zehn Uhr vormittags, in der Meinung bis übermorgen hierzubleiben.“5
Die Erzählung des mühevollen Fußmarsches zur Grenze wird zur Reflexion über Alter und Jugend. Heinrich Mann kann diesen Weg nur mit Hilfe seiner Frau und seines Neffen Golo bewältigen. In der Reflexion über diesen nimmt er Bezug auf das Verhältnis der älteren zur jüngeren Generation und verknüpft den Grenzübertritt mit lebensphilosophischen Überlegungen. Die „Dornen“ auf den Pfaden verweisen nicht nur auf das unwirtliche Gelände, sie stehen in ihrer christlichen Symbolik für den Lebens- und Leidensweg des Exilanten.
Ich erging mich auf meinem Dornenweg noch immer wie Gott in Frankreich. Ob ich die Grenze des anderen Landes in zwei Stunden oder nie mehr überschritt, ich durfte es dem Lauf der Welt anvertrauen.6
In dieser Szene lässt sich die Polysemantik der Grenze im Chronotopos der Flucht über den Berg fassen. Einerseits schildert Mann einen tatsächlichen Grenzübertritt, andererseits verweist er auf die Aufbrüche seiner Jugend. Letztere versinnbildlichen im autobiografischen Kontext die eigenen Anfänge und Lebensziele als Mensch, Schriftsteller und Politiker, den Ausbruch aus bürgerlichen Konventionen, den Einsatz für die Republik, den Kampf gegen den Nationalsozialismus. So liegt es nahe, auch das Lebensmotto Manns als permanenten Aufbruch zu Grenzüberschreitungen zu begreifen. Doch die geschilderte Grenzüberschreitung von 1940 gelingt ihm nur noch mit letzter Kraft. Die Flucht aus Europa vor Hitler wird angesichts der militärischen Erfolge des Deutschen Reichs in einem resignativen Gestus erzählt, der durch die Reflexion über die Gebrechlichkeit des Alters unterstrichen wird.
Analogien zu dieser Textstelle finden sich in der frühen Romantrilogie Die Göttinnen, die Ende 1902 erschien. Die Protagonistin, die dalmatinische Herzogin von Assy, drängt wie der junge Heinrich Mann nach Taten und politischer Umwälzung. Sie zettelt eine politische Revolte an und muss über das Meer nach Italien fliehen:
Noch in der Nacht sollte der Staatsstreich geschehen; stattdessen fand die Nacht sie, mit Mühe der Verhaftung entgangen, weit draußen im Meer.
Ihr Tag hatte im Harem begonnen und in einer Volksrede gegipfelt; sie beschloß ihn auf dem Hinterdeck einer schwerfälligen Segelbarke, allein und flüchtig.7
Die Beschreibung der Fahrt übers Meer weist Ähnlichkeiten mit der Überwindung des Berges in der Autobiografie auf. Einerseits eröffnet das Meer den Weg der Flucht, andererseits birgt es Gefahren, die bewältigt werden müssen. Während der Überfahrt geht der Sohn des Begleiters der Herzogin Pavic spurlos über Bord. Die Bedrohlichkeit der See wird bildlich veranschaulicht:
Einmal, als sie die Augen öffnete, hatte das Meer die Finsternis durchbrochen, von der es gebannt gehalten war. Eine graue Schlange, krümmte es sich um sie her und wollte sie ersticken.8
Wie Heinrich Mann in der Autobiografie ruft die Herzogin während der Überfahrt das Vergangene zurück und zieht die Bilanz ihrer politischen Aktivitäten:
‚Wo die Sonne aufgeht, liegt das Land, das ich verlassen habe. […]‘9
‚Gestern abend beim Einsteigen habe ich noch gelacht. […] Ich weiß nicht einmal, ob ich Feste gab, um eine Revolution anzuzetteln, oder ob ich durch Verschwörung und Umsturz meine Geselligkeit beleben wollte. […]‘10
„Über Schönheit und Stärke ein Reich der Freiheit aufzurichten: welch ein Traum!“11
Die Überfahrt glückt schließlich:
In der Dunkelheit begegneten sie heimkehrenden Fischerbooten. Und endlich landeten sie.
„[…] in die Stadt dürfen wir uns nicht getrauen.“
„Warum nicht?“ meinte sie.
„Hoheit, wir sind politische Flüchtlinge.“
Sie standen ratlos am Strande. […]
Sie wanderten an einer Dorfmauer hin; es war ein Passionsweg darauf gemalt.12
Die Erwähnung des Passionswegs kann hier ähnlich interpretiert werden wie die Dornen in der Schilderung der Überquerung des Berges in der Autobiografie.
Die Flucht übers Meer und der symbolistische Schluss der Roman-Trilogie Die Göttinnen sind sinnhaft miteinander verknüpft. Das Sterben der Herzogin wird unterlegt von einem Bild, mit dem der Maler Jakobus ihren Tod antizipiert und künstlerisch stilisiert, eindeutig eine Anspielung auf Arnold Böcklins Gemälde Die Toteninsel:
Und in der weißen Helle, sah die Herzogin in das plötzlich entschleierte Bild ihrer letzten Verwandlung.
Sie stand im hohen Kahn auf dem Nebelmeer, die Brust flach unter dem fahl gleißenden Panzer, schwarzes Haar am Rande des Helmes, der matt herausschien aus Wolken, und die müde, blasse Hand auf den Schwertknauf gestreckt. Sie war die Jungfrau, die, von allen Gewalten des heißen Lebens verwüstet, im Glanze einer anderen, unangreifbaren Reinheit von dannen fuhr.
Ihr Maler hatte mehr gemalt als ihr Sein und ihr Vergehen. Aus diesem weißen Gesicht, das kühl erhoben über das Leben hinwegsah, grüßten im Verscheiden die großen Träume von Jahrhunderten.13
Die Überschreitung der Grenze zwischen Leben und Tod spielt auch in der 1905 entstandenen Novelle Heldin aus der Sammlung Stürmische Morgen eine zentrale Rolle. Der Text greift wie viele andere Werke des Schriftstellers den kulturellen Gegensatz zwischen nördlich-germanischem und südlich-romanischem Temperament auf. Die Handlung spielt in einer Stadt an einem See in Italien, der unmittelbar die Grenze zum Norden bildet. Der Ort bleibt ungenannt und ist daher als typologische Stilisierung, als Sinnbild der Grenze zu verstehen. Es wird auf die Nähe des Sees zur anderen Seite verwiesen:
„Sehen Sie, Fräulein Lina, am Ende dieser engen, wimmelnden Gasse den Turm, den stillen grauen Wachtturm am Hafen? Seit tausend Jahren steht er dort: hinter sich die Stadt, vor sich den See in seinen blauen Luftschleiern, worin der Umriß des Gebirges sich verstrickt, aus denen sonst, wie aus der Ewigkeit, Feinde auftauchten, und in die sie, abgeschlagen, zurücksanken. Wie viele Geschlechter haben dem alten Wachtturm ihr Heil verdankt. […]“14
Die Novelle unterlegt eine tragisch endende Dreiecksgeschichte zwischen den einheimischen Mädchen Grete und Lina, die unterschiedliche Frauentypen verkörpern, und dem deutschen Studenten Roland. Am Schluss steht der Selbstmord der sensiblen Lina. Der Handlungsort ist von seiner Grenznähe geprägt, „Lastträger, Zolleute, Schiffer“ bestimmen das Stadtbild, „die Finanzwache zerrte einen Schmuggler aus seiner Kajüte hervor“.15 Das hier im Zusammenhang mit der Grenze angesprochene Gebirge weist motivische Ähnlichkeiten zu den Pyrenäen in Ein Zeitalter wird besichtigt auf. Auch ein Gewässer, hier der See, stellt eine Grenze dar. Die Kulisse des Ortes, seine Grenznähe ist in der Komposition nicht zufällig:
Der Scheinwerfer, der die Ufer des Sees nach Schmugglern durchsuchte, schoß von Zeit zu Zeit sein grellweißes Licht durch den Garten. Einmal verweilte es auf Lina; und sie legte die Augen in die Hand und fühlte ihr Gesicht noch heißer werden.
[…]
Wie sie sich geborgen fühlte in der dunklen Flut, unter dem dunklen Himmel.
[…]
Da machte der Strahl des Scheinwerfers eine jähe Wendung und traf grell die Badehütte.16
Das Licht enthüllt ein Stelldichein von Grete und Roland, was auslösendes Moment für Linas Freitod wird.
Ein wesentliches Thema in Heinrich Manns Werk ist die Frage der Grenzüberschreitung im Hinblick auf soziale Klassen und Normen. Cheng Hui-Chun überträgt Lotmanns Raummodell und seinen Grenzbegriff auf den Aufsteigerroman Im Schlaraffenland von 1900:
Im Sinne von Lotmans Raummodell bei der Erzählanalyse wird Andreas Zumsee durch seinen unkonventionellen Charakter zu einer „bewegten Figur“ in dieser sujethaften Erzählung, welche klassifikatorische Barrieren leicht überschreiten kann. Er ist Grenzgänger zwischen der „feinen Gesellschaft“ des Romans und seiner eigenen sozialen Situation. Andreas Zumsee ändert seinen Stand – zuerst infolge der Regie von Köpf und danach auf Anweisung von anderen Schlaraffianern – und steigt von einem besitzlosen Studenten zu einem Mitglied des Schlaraffenlands auf.17
In Professor Unrat (1904) finden sich einige explizite Erwähnungen des Begriffs Grenze, die das Exzessive des Romans als „Grenzübertritte“ in mehrfacher Bedeutung signalisieren:
Da ging Unrat unter in der schwindelnden Panik des Tyrannen, der den Pöbel im Palast und alles verloren sieht. In diesem Augenblick war ihm jede Gewalttat recht, er kannte kaum noch Grenzen.18
Aber er konnte sie [die Schüler] nicht zwingen, schön zu finden, was nach seinem Ermessen und Gebot schön war. Hier war vielleicht die letzte Zuflucht ihrer Widersetzlichkeit. Unrats despotischer Trieb stieß hier auf die äußerste Grenze menschlicher Beugungsfähigkeit … Er ertrug es kaum.19
Die Furcht vor ihrem Treiben [der Schüler] ließ ihm allmählich das Äußerste tunlich und alle zwischen den Menschen gesetzten Grenzen überschreitbar erscheinen.20
Die Frage nach der Überschreitung der „Grenzen des moralisch Zulässigen“ steht im Zentrum einer Gerichtsverhandlung.21
In dem Roman Ein ernstes Leben von 1932, der in Teilen auf die Biografie seiner Freundin und späteren Frau Nelly Kröger zurückgreift, schwingt die soziale Mobilität und der Wunsch nach dem Ausbruch aus bescheidenen Verhältnissen mit; ebenso impliziert die Kriminalhandlung die Überschreitung von sozialen Normen. Der oben skizzierte Bedeutungskontext des Meeres als Grenze lässt sich hier mit der Bedeutung der Grenze im Hinblick auf soziale Klassen und Normen in Beziehung setzen. Die Hauptfigur Marie wächst unter einfachsten Verhältnissen in einem Ort an der Ostsee auf, das Meer symbolisiert in dem Roman Begrenzung, Bedrohung durch die Flut (das Elternhaus wird zerstört) und zugleich den Wunsch nach Flucht und Ausbruch aus den Verhältnissen. Als Marie durch ein wohlhabendes Haus, in dem sie arbeiten soll, geführt wird, heißt es: „Dort aber hing eine Erdkarte, mit allen Meeren – einzig ihretwegen blieb Marie stehen. ‚Was machen Sie denn?‘ fragte Lissie ausnahmsweise verwundert. ‚Ich zeige Ihnen eine ganz große Klasse nach der andern, und hier kieken Sie!‘“22 Der sinnbildliche Charakter dieser Stelle ergibt sich in der Romanhandlung daraus, dass Maries Freund Mingo auf See ist, um vor Strafverfolgung zu fliehen. Als Marie das Haus endgültig verlässt, denkt sie: „Ich gehe noch einmal in das Pingpongzimmer, zu der Karte mit den Weltmeeren.“23 Der Roman zeigt die verschiedenen Bedeutungen des Meeres als Grenze auf: es kann Begrenzung, Bedrohung und zugleich Flucht- und Rettungsweg sein.
Auch wenn der Roman auf Nelly Krögers Herkommen aus einem Ort an der Ostsee Bezug nimmt, ist es im Kontext der Bedeutung des Meeres als Grenze wichtig, auf Heinrich Manns Herkunft aus der Seestadt Lübeck zu verweisen, die gewiss nicht ohne Einfluss auf diese Bildlichkeit gewesen ist.
Die Affinität des Schriftstellers zu Italien und Frankreich verleiht seinem Werk eine weitere Nuance der Grenzüberschreitung. Bereits seine frühen Texte kontrastieren südliche Lebensart und Temperament mit dem nördlichen, deutschen Wesen und Charakter. Dieses Moment wurde in den Ausführungen zur Novelle Heldin bereits erwähnt und trägt konzeptionell den Italien-Roman Zwischen den Rassen (1907), in dem sich eindeutige Bezüge zu seinen brasilianischen Wurzeln mütterlicherseits finden. Mit der französischen Literatur hat er sich in zahlreichen Essays beschäftigt. Die Texte der 1931 erschienenen Sammlung Geist und Tat sind von dem Ideal getragen, die Grenze zwischen Denken und sozialer bzw. politischer Wirkmächtigkeit aufzulösen. In französischen Autoren wie Zola, Flaubert oder Anatole France, ihrem Engagement und ihrer Rezeption, sah Mann diese Synthese nahezu idealtypisch verwirklicht.
Dieser zentrale Ansatz sowie seine Liebe zu Frankreich und südlicher Lebensart finden Ausdruck in seinem opus magnum, den beiden voluminösen Romanen (Die Jugend des Königs Henri Quatre, 1935; Die Vollendung des Königs Henri Quatre, 1938) um den französischen König Heinrich IV. Das im Exil entstandene, vielschichtige historische Epos beschwört am Beispiel des guten Königs das Ideal von „Geist und Tat“, zugleich zeigt es die Grenzen seiner Verwirklichung auf. Der Text verweist auf die Historie und spiegelt zugleich die Gegenwart, stellt fundamentale herrschaftstheoretische und -soziologische Fragen, lässt auch Lebensgefühl, Autobiografisches und Wunschdenken des Autors einfließen. Sein Bruder Thomas schrieb in einem Brief vom 2. März 1939: „Résumé Deines Lebens und Deiner Persönlichkeit.“24 Schauplatz ist das Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts im Zeitalter der Glaubenskriege, das Züge einer Heterotopie in der Vergangenheit trägt. In diesem Erzähl-Chronotopos wird das Leben Heinrichs IV. geschildert. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit Grenzen in der räumlichen Strukturierung des Romans signifikant sind und welche übertragenen Bedeutungen der Begriff der Grenze im Roman annimmt.
Als Summe des Lebens und Werks seines Autors finden sich in den beiden Romanen zahlreiche Anknüpfungspunkte und Verbindungslinien zu den hier aufgezeigten Aspekten, die in der Komplexität der Texte unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten eröffnen. Auffallend ist, dass der Begriff der Grenze in den beiden Romanen an zentralen Textstellen wörtlich erscheint.
Als Sohn des katholischen Königs von Navarra Anton von Bourbon und der protestantischen Jeanne d’Abret personifiziert Heinrich IV. das heikle Verhältnis der Konfessionen im damaligen Frankreich. Sein Leben ist von zahlreichen Wechseln zwischen katholischem und protestantischem Bekenntnis gezeichnet. Im Roman symbolisiert eine Szene aus der Kindheit Heinrichs antizipierend, wie er schon sehr früh in dieses Spannungsfeld gerät:
[E]inige protestantische Herren erschienen darin und verkündeten, der Admiral Coligny sei im Hause, […]. Der König von Navarra sogar neigte den Kopf vor diesem alten Mann und damit auch vor der Partei, die er führte. […]
Der zweite der Pastoren stimmte einen Choral an. […] Denn wo sangen sie so laut, wo behaupteten sie dreist ihre Sache? Im eigenen Hause der Könige von Frankreich! Sie konnten es wagen, sie wagten es!
Coligny erhob mit beiden Armen den Prinzen von Navarra [Henri] über alle Köpfe, er ließ ihn dort einatmen für sein Leben, was vorging, was diese alle waren. […]
Dies alles waren recht gefährliche Überschreitungen der erlaubten Grenzen, Jeanne sah es nachher von selbst ein, ihr Gatte brauchte sie nicht lange zu warnen.25
Ein merkwürdiger Besucher, der sich am Schluss der Szene als der legendäre Astrologe Nostradamus entpuppt, sieht Heinrich visionär als kommenden König und Einheitsstifter:
Dies ist ein Kind, es ist das Unerfüllte, Grenzenlose, es hat, so schwach es ist, mehr Macht und Gewalt als alle, die schon gelebt haben. Es verspricht Leben und ist daher groß. Es ist das allein Große. Welch ein tapferes Gesicht! sieht er, als Henri grade am meisten Furcht hat.
„Er ist es!“ spricht er laut […].26
Die von König Karl IX. angeregte, der Aussöhnung dienende Hochzeit seiner katholischen Schwester mit dem Protestanten Heinrich gerät zu einem spannungsvollen Zusammentreffen zwischen Katholiken und Hugenotten:
[D]ie Katholiken drängten die Protestanten bis gegen die Ränder des Saales. An der unsichtbaren Grenze aber, die um die Königin gezogen war, ballten sie sich selbst zu einem Haufen, der sehr wachsam schien.27
Henri, der die Hände frei bekam, sah sich um. Den Haufen an der unsichtbaren Grenze fand er verändert, nicht mehr nur neugierig oder wachsam.28
Die eigentlichen geografischen Grenzen Frankreichs spielen in den Romanen auch eine Rolle, sie werden häufiger explizit erwähnt, meist im Zusammenhang mit Konflikten, Bedrohungen von außen. Ihre Nennung signalisiert Gefahr und Unruhe: „Schon die Reise an die Grenze hatte etwas von Unordnung.“29 Zugleich wird auf die Differenz zwischen territorialen Grenzen und universellen menschlichen Werten verwiesen: „Der Glaube kannte keine Grenzen von Land und Sprache, und wer für die Wahrheit ist, der ist mein Bruder und Freund.“30
Heinrich wird als guter König geschildert, charakterisiert als Überwinder hergebrachter Grenzen: „Mein Reich beginnt an der Grenze, wo die Menschen weniger dumm und nicht mehr ganz unglücklich sind. Mit Gott, erobern wir’s!“31 oder „Henri hatte niemals so viele Bettler gezählt; seine Lage machte ihn hellsichtig, die Grenze zwischen dem Übermut und Elend wurde auf einmal furchtbar schroff.“32
Auch die Verteidigung seines Reiches impliziert mehr als die Verteidigung der Territorialität, die Mehrdeutigkeit des Begriffs der Grenze wird deutlich:
Eine regelmäßige Mehrheit findet zusammen, sie folgt dem ungewöhnlichen König. Läßt es nicht hierbei, sondern eilt voraus. Wo er auftritt, wird gerufen: „An die Grenze!“ […] An die Grenze, um den Staat zu verteidigen, wie du ihn gemacht hast.33
Am Ende der Vollendung, in der Ansprache des Henri Quatre, „gehalten von einer Wolke herab“, zieht der König selbst posthum – nach seinem letzten Grenzübertritt – Bilanz seines Königtums:
Ein König, den man „groß“ genannt hat – und sicherlich ahnte man nicht, wie treffend der Ausdruck war –, gewahrt zuguterletzt den ewigen Frieden und eine Gesellschaft christlicher Prägung. Womit er die Grenzen seiner Macht und selbst seines Lebens überschreitet. Größe? Aber sie ist nicht von dieser Welt; man muss gelebt haben und dahingeschieden sein.34